„Wie oft hat man schon Gelegenheit jemanden sein komplettes Leben zu erzählen?“ Diese Frage habe ich letztens von einem Strafgutachter im „stern Crime – Spurensuche“ Podcast (ist wahrscheinlich Werbung…) gehört und sie bewegte mich zum Nachdenken.

Wir geben Einblicke in unser Leben. Wir zeigen Momentaufnahmen von diesem oder jenem Moment als wären es Fotoalben aus längst vergangenen Zeiten. Aber wann hat man schon mal die Gelegenheit sein komplettes Leben von A bis Z zu erzählen? Und wäre es vielleicht ein bisschen zu viel auf einmal? Nicht unbedingt für den Zuhörer, aber für einen selbst? Hat man sich nicht schon längst die Highlights aus dem Skript der Vergangenheit markiert, die man je nach Situation vortragen kann? Die kleinen, feinen Geschichten, die man vielleicht hier und da abändert um ein spannenderes Ende zu wählen? Sollte es vielleicht obligatorisch sein, seine Biografie zu schreiben?

Wenn ich an meinen Großvater denke, so bereue ich es, dass ich zu jung war um die wirklich interessanten Fragen zu stellen. Seit Jahren ist es leider zu spät dafür.

Wir waren ein Herz und eine Seele. Er wusste wahrscheinlich alles von mir, da er immer auf mich aufpasste als ich noch klein war. Aber ich wusste nicht viel über ihn. Ein paar Erinnerungsfetzen fallen mir ein, ja.

Er war sehr interessiert am Glauben. Er war im Krieg und hatte Albträume davon. Er vermisste seine Noch-Ehefrau und verstand nicht, warum sie den Kontakt abbrach. Er stritt jedesmal mit seinem Sohn, meinem Vater. Er war ein wunderbarer Opa, aber ein ungerechter Vater. Ein Schlitzohr war er. Den Schalk hatte er stets im Nacken. Klug war er auch – und bekam deswegen ein Stipendium und eine Banklehre, in Zeiten, in denen ein einfacher Näherssohn normalerweise Tagelöhner war.

Aber ich hätte heute so viele Fragen an ihn: Wie war es als 18jähriger im Krieg? Hattest du Angst nie wieder heimzukommen? Wie war es als dein bester Freund vor dir gefallen ist? Und was hast du gefühlt als du vom Kriegsgefangenen Lager heimgeschickt wurdest, weil du der jungen, russischen Ärztin erzählt hast, du hast Malaria? Was hast du gedacht als du meine Oma das erste Mal gesehen hast? Was hast du gefühlt als deine Söhne geboren sind? Was war der größte Moment des Scheiterns für dich? Und wie kamst du darauf einem 12 Wochen alten Welpen, unserem Hund, Haferflocken zu füttern? Hast du deinen Vater oft vermisst als er viel zu früh verstorben ist? Hättest du gerne Geschwister gehabt? Und wie hast du diese fantastischen Pfannkuchen am Freitag immer wieder hinbekommen? Warum hast du damals bei Nebel die Straße nicht bei der 100m entfernte Ampel überquert? Hattest du Angst als du die Scheinwerfer sahst? War der Aufprall schmerzhaft? Und stimmt es, dass du danach tatsächlich nichts mehr Hören und Sehen konntest? Und wenn ja, wie hast du es geschafft mich einen Tag vor deinem Tod mit diesen glasklaren Augen anzusehen während dein Sohn aus dem Zimmer ging? Hättest du gerne deine Urenkel kennengelernt? Und wenn ja, was würdest du mit 97 Jahren von ihnen denken? Warum hast du nie eine Familien interne Biografie geschrieben? Nur für uns Enkel?

Und die wichtigste Frage ist:

Vermisst du mich so wie ich dich?

2 Antworten zu „Biografien sollten verpflichtend sein”.

  1. Avatar von Candykills

    Den Podcast höre ich auch ^^

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    1. Avatar von signorafarniente

      Der ist genial, oder? 😍

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Ich bin Eva

Herzlich Willkommen auf meinem Familienblog zwischen den Kulturen! Hier geht es um all die Themen rund um die täglichen Herausforderungen als germano_it_albanische Kleinfamilie mitten in Frankfurt am Main.

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