„Besuch ist wie Fisch, nach drei Tagen fängt er an zu stinken.“ Dieser Aphorismus, der Benjamin Franklin zugeschrieben wird, traf meine Empfindung doch recht genau. Es war Tag 4 in Albanien und stank bereits bestialisch. Dazu müffelte der Römer und auch Signorino ließ mich meine Nase rümpfen. Leider hegte ich den Verdacht, dass das mein alleiniger Sinneseindruck war. Schließlich schien ich auf weiter Flur, die einzige Person unserer kleinen Familie zu sein, die sich nach Hause sehnte. Überaus grummelig, bisweilen auch schlecht gelaunt, bestritt ich den Vormittag mit dem Zusammensammeln und Verstauen aller Gegenstände, die wir auf diese Reise mitgeschleppt hatten. Der Koffer ächzte unter der Last. Während ich Signorinos albanische Tracht, die er von seiner Familie geschenkt bekommen hatte, in den Koffer stopfte, fragte ich mich, ob die mysteriöse Ausdehnung und das ebenso rätselhafte Zusammenziehen von Reisegepäck je ernsthaft untersucht wurde. Denn bei jeder Abreise nach Hause schien es mir, als würde sich unser Koffer, wie durch Zauberhand, zusammenziehen und damit um etliche Zentimeter verkleinern, was definitiv nicht mit den landesspezifischen Temperaturschwankungen zu begründen war. Mit letzter Kraft presste ich den kleinen Hirtenhut, der die albanische Tracht komplettierte, in den silbergrauen Koffer. Unter Einsatz meines gesamten Körpergewichtes und einem halb auf dem Koffer krabbelnden Signorino schafften wir es das Reisemonstrum zu schließen. „So viel Stress, obwohl wir noch eine Nacht in unserer Ferienwohnung bleiben hätten können.“ murmelte ich und schüttelte mürrisch meinen Kopf. Der Römer kam pfeifend aus dem Doppelzimmer der Ferienwohnung. In der Hand trug er seinen schwarzen Lederrucksack. „Io non vedo l’ora di dormire a casa di mia sorella. [Ich kann es kaum erwarten, im Haus meiner Schwester zu schlafen.]“ flötete er gut gelaunt. Ich quittierte seinen Satz mit einem wenig überzeugenden „Mh.“. Da ich kein ausgefeiltes Gegenargument vorweisen konnte, weswegen wir noch eine Nacht in größtmöglicher Privatsphäre in der Ferienwohnung in Tirana bleiben sollten, musste ich dem Vorschlag von Schwester F. schließlich zustimmen. Das tat ich ungefähr so enthusiastisch als würde es sich hierbei um einen Termin zur jährlichen Zahnreinigung handeln. Wir schliefen in ihrem Haus, schließlich hatte ihr Mann extra ein Gästezimmer in ihrer neuen Villa bauen lassen, das einzig und allein dem Zweck diente, uns zu beherbergen. So wurde es uns seit zwei Jahren kontinuierlich kommuniziert. Außerdem, und das war das Schlüsselargument von Schwester F., würde uns Neffe Toni gerne (den Wahrheitsgehalt dieses Adverbs bezweifle ich allerdings bis heute) um 3 Uhr nachts an den Flughafen „Nënë Tereza“ bringen. Dafür würde der junge Vater selbstverständlich seinen Nachtschlaf unterbrechen. Ich weiß nicht, wer mir mehr Leid tat: Neffe Toni oder ich mir selbst?

Es war mit Bruder Ibrahim ausgemacht, dass er uns um 16 Uhr vor dem bereits bekannten kompleksi Taiwan, dem Taiwan Center, abholen würde. Der Römer trieb zu Eile an, denn gleich würde Bruder Ibrahim seinen Benz in zweiter Reihe auf der großen Hauptstraße abstellen. Ich ließ mir Zeit, denn ich war mir sicher, dass 16 Uhr nur ein loser Anhaltspunkt, nicht aber eine verbindliche Zeitangabe war. Gegen 16 Uhr erreichte uns zwar nicht Ibrahim in seinem Vehikel, jedoch aber ein Anruf seinerseits. „Ich fahre jetzt los.“ verkündete er sein Vorhaben. Der Römer blickte auf die Uhr. Es war 16:07 Uhr. Dass er seine verspätete Ankunft sieben Minuten nach der eigentlichen Abholzeit kommunizierte, erklärte das ganze Pünktlichkeitskonzept Albaniens recht anschaulich. Der Römer biss auf seine Lippen, die daraufhin ganz weiß wurden. Dann knurrte er ein zweimaliges „mire [gut]“ und beendete das Telefongespräch. Ich packte indessen zufrieden summend die letzten Badezimmerutensilien in meine große Tasche. Wenn man sich auf eine Tatsache in Albanien verlassen konnte, dann war es die großzügige Auslegung von bereits im Voraus fixierten Abholzeiten. Dieser Fakt kam mir wiederum sehr entgegen. Schließlich bin ich eine Person, die gerne im aller letzten Moment abfahrtbereit ist.

Währenddessen lief der Römer, rasend vor Wut, im Wohnzimmer auf und ab. Lautstark ließ er sich über Albanistan [wie er Albanien nennt, wenn er es in einem schlechten Licht darstellen will] und die dazugehörigen Landsleute aus. Dann zitierte er einen liebgewonnen Satz, der ihm in seinen Anfängen in Deutschland begegnet ist und anscheinend seine Spuren hinterlassen hat: „Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.“ Kurz hielt er inne, fixierte mich und fuhr fort: „Aber allein, dass der deutsche Prinz zu Wied [Wilhelm Friedrich Heinrich Prinz zu Wied] nur sechs Monate Fürst in Albanien war, erklärt in diesem Land schon alles. Vermutlich hatte er das Warten auf verspätete, albanische Funktionäre satt.“ Ich schwieg und sinnierte über den deutschen Prinzen. Sechs Monate, dachte ich. Mir reichte es nach vier Tagen schon. Aber Prinz zu Wied musste einen langen Atem gehabt haben. Oder es lag an den unbequemen und langwierigen Reiseformen um 1914, die ihn dazu veranlassten, noch ein Weilchen zu bleiben. Außerdem musste er sicher nie in Ibrahims Benz mitfahren und um sein Leben fürchten. Allein bei diesem Ritt verminderte sich meine zu erwartenden Lebensdauer um mindestens 5 Jahre.

Der römische Monolog setzte sich leise keifend fort, während ich mich auf dem Sofa niederließ. Ich empfand die römische Aufregung als übertrieben. Welchen Unterschied machte in Albanien schon ein halbes Stündchen? Wenn man eines hier hatte, und davon reichlich, dann war es Zeit. Fünfzehn Minuten, vielleicht ein halbes Stündchen, für einen Kaffee mit einem zufällig getroffenen Bekannten, lagen hier auf der Straße wie fallende Blätter im herbstlichen Laubwald. Man musste nur zugreifen!

Pünktlich, wenn man nach der albanischen Zeitrechnung ging, fuhr Ibrahim um 16:47 Uhr vor. Wir ließen die Schlüssel der Ferienwohnung auf dem gläsernen Esstisch liegen und eilten nach unten, was sich als eine akrobatische Meisterleistung herausstellte, angesichts der vielen Gepäckstücke. Ibrahim wartete im dunklen Benz. Als er uns von weitem sah, sprang er aus dem Auto und half uns mit Kind und Kegel. Dann begrüßten wir uns mit dem obligatorischen Ellbogen-Stößchen. Ich installierte den Kindersitz, während die beiden Brüder die Gepäckstücke verluden. Flink prüfte ich, ob heute irgendein Sicherheitsgurt im Fond funktioniere würde, außer der, der Signorinos Kindersitz sicherte. Die Antwort war so ernüchternd, wie kurz: Nein! Ich dachte an Ibrahims Worte, die besagten, dass im hinteren Teil des Autos nichts passieren könne und hatte keine andere Möglichkeit als darauf zu vertrauen. Nach weiteren fünf Minuten war die Mehrheit der Fahrzeuginsassen angeschnallt und wir konnten losfahren.

Es war Sonntag. Der Verkehr war deutlich lichter als in den letzten Tagen. Ibrahim nahm diesen Tag zum Anlass zum albanischen Sonntagsfahrer zu mutieren, was keineswegs etwas mit dem mitteleuropäischen Sonntagsfahrer gemein hatte. Er war zwar heute deutlich langsamer als sonst unterwegs, aber im mitteleuropäischen Gesamtvergleich immer noch sehr flott. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich heute eine neue Variante, die Ibrahim anwendete, wenn es der Verkehr und die Straßenverhältnisse zuließen: Er fuhr komplett in der Mitte der zweispurigen Straßen. Die gestrichelte Mittellinie, die die Fahrbahnen voneinander abtrennte, verschwand wie ein einziger, weißer Strich mittig unter Ibrahims Gefährt. Ab und an schlingerten wir ruckartig nach rechts, wenn uns ein Auto des Gegenverkehrs entgegenkam. Erst vermutete ich, dass seine Taktik eine Sicherheitsvorkehrung wäre, die verhindern sollte, dass wir aus den scharfen Kurven fallen würden. Aber recht schnell bemerkte ich, dass es viel mehr eine Maßnahme war, die Leben retten konnte. Ibrahim wollte damit verhindern, dass Autos, Mofas, Ziegen, andere Haustiere, Omas oder Kleinkinder, die scheinbar aus dem Nichts auftauchten und auf die Straße stolperten, in Ibrahims Mercedes liefen. Dadurch, dass er mittig fuhr, musste heute niemand sein Höllengefährt fürchten. Ibrahim, als könnte er meine Gedanken lesen, unterrichtete zeitgleich den Römer über diese albanischen Fahrerweisheit: „In der Mitte der Straße bist du immer sicher. So kann gar nichts passieren!“ Der Römer nickte, was nicht verwunderlich war. Er besaß zwar einen albanischen Führerschein, verfügte aber seit 20 Jahren (bis auf die Ausnahme in Rom) über keinerlei Fahrpraxis. Doch ich konnte es nicht lassen und erkundigte mich nach dem Umgang mit dem Gegenverkehr, wo doch sicher alle diesen Trick anwenden würden. „S’ka problem. [Kein Problem.]“, winkte Ibrahim lachend ab, „Irgendwie klappt das immer.“ Ich glaube, diese grenzenlose Zuversicht ist das größte Gut der Albaner. Ja, seltsamerweise klappte es irgendwie immer.

Flott bogen wir auf eine unbefestigte Straße ein. Hingebungsvoll manövrierte uns Ibrahim über diese Schotterpiste, die vermutlich aus mehr Schlaglöchern als Piste bestand. Dennoch war auf Ibrahim Verlass. Er brachte uns, mit eisernem Lenkrad, durch die Schlaglöcher wie ein alter Kapitän. Seit Jahrzehnten fuhr er auf diesen Straßen. Es wäre nicht verwunderlich, würde er eine Schlaglochkarte Albaniens, ähnlich einer Seekarte für den Schiffsverkehr, herausgeben. Jedes Mal, wenn sich wieder ein bodenseegroßer Krater ankündigte, bremste er kurz ab und ließ den Mercedes langsam hineinrollen. Sobald wir den tiefsten Punkt des Schlagloches überwunden hatten, beschleunigte er, dass sich eine beachtliche, saharafarbene Staubwolke bildete. So schaukelten wir über die holprigen Straßen Kamez‘ bis wir unser vorläufiges Ziel erreichten: Die große Einfahrt des römischen Elternhauses.

Wie immer wollten wir in der ersten Einfahrt parken. Doch dort stapelten sich bereits drei Autos. Mir schwante bei diesem Anblick ein großer Familienauflauf, zumal ich ein Kennzeichen aus Krujë, der Nachbarstadt, erkennen konnte. Rasch fuhren wir zur zweiten Einfahrt des Hauses. Auch hier schmiegten sich zwei Autos aneinander. Das taten sie aber nur, um Ibrahim und uns, als Ehrengäste, noch ein Fleckchen frei zu lassen. Ibrahim parkte dort zügig ein und wir stiegen aus. Als wir die große, hölzerne Haustüre öffneten, denn eine Klingel gab es nicht, saßen bereits allerhand illustre Gäste im weitläufigen Wohnzimmer.

Anstatt auf Kontaktbeschränkungen setzte man hier auf Herdenimmunität. Was ich von meinen Schwiegereltern hörte, hat bereits jeder in Kamez das Coronavirus überstanden. Manche überlebten es jedoch nicht. In der römischen Familie waren jedoch keine Opfer zu beklagen. Um die größte, römische Schwester hatte man dennoch große Sorge, dass sie es nicht schaffen könnte. Um ihren Gatten, den ehemaligen Grundschulrektor, der ebenso schlimm, wenn nicht schlimmer erkrankt war, hatte man etwas weniger Angst, da er von der Familie als ungemein dickköpfig und ignorant gehandelt wurde. Partout weigerte er sich ins Krankenhaus gebracht zu werden. Lieber sollte man ihn mit mühsam herbeigeschafften Sauerstoffflaschen im heimischen Krujë am Leben halten. Auch wenn man es nicht aussprach: Ein möglicher Verlust des pensionierten Grundschulrektors wäre von einigen Familienmitgliedern deutlich schneller verkraftet worden, als von anderen. Soweit kam es aber nicht. Auch er überstand das Virus.

Doch zurück ins römisch-albanische Elternhaus: Das bunte Potpourri an familiären Gästen gackerte in der Wohnstube vergnügt durcheinander. Ich erkannte eine der vielen, römischen Nichten mitsamt ihrer beiden Töchter (3 und 5 Jahre alt). Ein anderer Neffe, Ismail, war ebenso zu Besuch. Primär deswegen, weil er mit dem Römer über den Verkaufspreis der römischen Wohnung in Tirana verhandeln wollte. Dazu waren die üblichen Verdächtigen, bestehend aus Bruder L. und Gattin Dyshi, sowie die beiden Kinder Ionnida und Florian im Salon. Ionnida hatte ihren sehr sympathischen, mir jedoch bislang unbekannten, Verlobten mitgebracht, der auf dem Ehrenplatz neben dem römischen Vater sitzen durfte. Außerdem sollten später noch Bruder V., samt Gattin, vorbeischneien. Ihre erwachsenen Kinder wurden jedenfalls schon auf der großen Sofalandschaft festgetackert. Kurz: Das Wohnzimmer war in meiner Wahrnehmung brechend voll. Aber wer jemals auf einer albanischen Hochzeit eingeladen war, der würde diese Versammlung als „intime Runde im engsten Kreis“ bezeichnen.

Unser römisch-albanisches Partymodell Signorino empfand den Auflauf an (Bluts-)Verwandten eine willkommene, und wenn man seinem strahlenden Gesichtsausdruck trauen durfte, dringend notwendige Abwechslung. Seine beiden jungen Cousinen, zweiten Grades, waren dazu die Cocktailkirschen auf der familiären Sahnetorte. Wie aufgeregte Bienen umschwirrten sie den jungen Signorino, der gar nicht wusste, wem er seine Aufmerksamkeit zu erst widmen sollte. Dazu knufften sie ihn in die Seite, verteilten verschwenderisch Küsschen auf die Backe und streichelten ihm über den blonden Schopf. Verzaubert von seinen Cousinen und jeglicher Gefahr gegenüber blind, vereitelten wir in Wechselschichten nicht nur ein Mal einen Unfall mit dem elektrischen Heizgerät, das auf dem Boden stand. Nach einem weiteren (beinahe) Unfall, der in letzter Sekunde verhindert werden konnte, brachte die Familie das Heizgerät an die frische Luft. Dies geschah vorallem deswegen, da sie sahen, dass ich Signorino die Gefahr, die von dem Heizelement ausging, sehr eindrücklich erklärte. Das Risiko war gebannt, doch wer jemals Anfang April in Albanien war, der weiß, dass es ohne jegliche Heizgeräte sehr schnell, sehr kalt wird. Man brachte eine 5 Kilogramm schwere Gasflasche ins Wohnzimmer, an der ein orangefarbener Schlauch befestigt war, der zu einem sehr großen Trichter führte. Routiniert wurde diese Heizkonstruktion zum Laufen gebracht. Das ausströmende Gas, das sofort verbrannte, hörte sich ein wenig an, als würde man in einem leisen Windkanal stehen. Ich fragte mich ernsthaft, ob das der bessere Tausch war. Eine offene Gasflasche gegen eine Elektroheizung, die zumindest ein Gitter vor den glühenden Heizstäben vorwies? Mit Argusaugen betrachtete ich die Szene und platzierte mich nah an der Gasflasche. Und wie sollte es auch anders kommen mit einem neugierigen Kleinkind? Das Kind lief postwendend zur Gasflasche und wollte sie, samt flammenden Zylinder, mit den Händen betrachten. Mehrmals hielt ich Signorino davon ab, der sich sogleich zu einem kreischenden Brett verwandelte. Nach dem vierten Mal reichte es mir. Ich machte höflich, aber bestimmt deutlich, dass eine offene Gasflasche mit Kleinkind keine ideale Kombination darstellte und entweder das Kleinkind in einen anderen Raum gebracht werden müsse, oder aber die Gasflasche. Beide zusammen in einem Zimmer würden mit eindeutiger Sicherheit in einer Tragödie enden.

Am Ende musste die Gasflasche weichen. Das hielt Signorino aber nicht davon ab, sich eine neue Beschäftigung zu suchen. Nun war die mannshohe Pflanze das neue Zentrum seiner alleinigen Aufmerksamkeit. Nachdem diese, wie Tage zuvor, fast auf ihn gestürzt wäre, entfernten zwei starke Familienmitglieder das grüne Ungetüm. Bei all diesen Gefahrenquellen war der Römer keine große Hilfe. Vertieft in anregende Gespräche mit seinen männlichen Familienmitgliedern hörte er entweder nicht zu oder winkte lachend ab. Als ich nicht müde wurde, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass auch er etwas sagen solle, bemerkte er schließlich genervt, man solle das Kind doch einfach Kind sein lassen und natürlich dürfte unser Ableger nach Herzenslust durchs Wohnzimmer rennen. Ich zweifelte nicht nur an seiner Fähigkeit zuzuhören, sondern auch an unserer Ehe. Hätten sich die weiblichen Familienmitglieder nicht allesamt um den herumflitzenden Signorino gekümmert, wäre der Römer jetzt wohl kaum in einem interessanten Gesprächskreis integriert, sondern auf dem Weg zur nächsten Kinderintensivstation mit einem verbrannten Signorino.

Nach einer Weile kam sehr viel, weibliche Bewegung in die Szenerie. Die männlichen Familienmitglieder schienen davon vollkommen unbeeindruckt zu sein. Ich guckte mich fragend um, verstand ich doch nicht, warum all die Damen wie auf ein geheimes Zeichen aufstanden, sich sortierten und Richtung Küche steuerten. Dem Römer, nachdem ich mehrmals an seinem Hemd zog um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, reichte ein kurzer Blick um die Dynamik dieser Szene zu verstehen. Die Frauen zogen, aufgrund der schwer auszuhaltenden, eisigen Temperaturen, in die warme Wohnküche um. Den männlichen Familienmitgliedern schien das nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil: Hitzig diskutierten sie über die bevorstehende Wahl in Albanien. Die kontroversen Meinungen befeuerten die Atmosphäre ganz ohne gasbetriebenen Heizstrahler. Ganz besonders das Familienoberhaupt in Gestalt des römischen Vaters, ließ mit seinen punktgenauen, aber sehr kurzen Äußerungen ordentlich Glut in den Augen der übrigen Männer aufflammen. Da er die höchste, albanische Familieninstanz war, musste seine Meinung zähneknirschend akzeptiert und bis zum Ende angehört werden. Letzterer Punkt fiel wiederum nicht schwer, denn mein Schwiegervater ist seit jeher sehr sparsam mit seinen Worten.

Schwägerin Dyshi, Bruder L.’s Gattin, gebot mir zu folgen. Ich lief hinter dem tapsenden Signorino her, der eingerahmt wurde von seinen beiden Cousinen, die ihn links und rechts an den Händchen hielten. Als ich die Glasschiebetüre zur angenehm temperierten Küche schließen wollte, stand der Römer fröstelnd vor mir. „Brrrr…fa veramente freddo. [Brrrr….es ist wirklich kalt.]“ sprach er und grinste mich an. Dann huschte er in das Damenzimmer und fläzte sich auf ein grünes Sitzpolster, das auf der hölzernen Eckbank drapiert war. Natürlich genoss er seine Rolle als Hahn im Korb sichtlich. Ein Heer an Cousinen, Schwägerinnen, Schwestern und seine Mutter waren durchgehend um sein Wohlergehen besorgt. Allein ein Ottomane und ein gewaltiger Turban fehlten, um den Römer in den Stand eines Sultans zu erheben. Ich nahm es gelassen, wusste ich doch, dass dieser Zauber in Frankfurt nur ein Märchen aus 1001 Nacht bleiben sollte.

Das Kind des Sultans, Signorino, tollte weiter in der Küche umher. Besonders gerne spielte er dabei mit seiner Tante Dyshi, was wenig verwunderlich war. Selten habe ich eine so herzliche und kinderliebe Person kennengelernt. Dyshis wunderbarer Charakter und ihr sonniges Lächeln stellten alle anderen Verwandten in den Schatten. Derweil war ich mir sicher, dass ihr dieser Satz, würde sie ihn lesen, furchtbar peinlich wäre. Sie ist eine sehr bescheidene Person. Und wie sie da saß, mit ihren großen, haselnussbraunen Augen und den leicht orange blondierten Haaren und nicht müde wurde „Guckguck“ mit Signorino zu spielen, schloss ich sie noch ein bisschen mehr in mein Herz. Dem römischen Sultan von Albanien wurden währenddessen Nektarinen gereicht. Er verspeiste sie mit größtem Genuss.

Ich nahm neben dem römischen Sultan Platz. Zu meinen Füßen saß die jüngere der beiden Cousinen Signorinos. Sie kramte neugierig in meiner Tasche. „Jo, jo, Armela! [Nein, nein, Armela!]“ versuchte ihre Mutter sie davon abzuhalten. Diesmal befand ich mich in der luxuriösen Position abzuwinken und davon machte ich großzügig Gebrauch. Ich gab den beiden mit Händen und Füßen zu verstehen, dass sie genau so mit allen Spielzeugen Signorinos spiele durfte, wie sie es Signorino erlaubt hatten. Wir wären doch eine Familie! Die kleine Cousine fand das super. Ihre Mutter lächelte zerknirscht. Die Größere der beiden Cousinen guckte sich das Buch mit dem Hasen, der ins Bett gehen soll, genau an. Dann beschloss ich, es ihr vorzulesen. Auf Deutsch. Wir hatten ein wunderbares, internationales Gespräch, in dem mir alle Details auf Albanisch erklärt wurden und ich auf Deutsch antwortete. Am Ende konnte Signorinos Cousine „Hase„, „Gute Nacht“ und „kraulen“ sagen. Die Kleinere der beiden Schwestern kramte in der Zwischenzeit munter weiter in meiner Tasche und fand ein Malbuch. Wieder versuchte ihre Mutter sie davon abzubringen. Ich lächelte und gab ihr zu verstehen, dass sie das Malbuch gerne haben dürfe. Dazu erklärte ich ihr, dass man nicht mit Buntstiften, sondern mit Wasser malte, welches den Untergrund in ein buntes Meer aus Farben verwandelte. Dyshi sprang sofort auf und füllte Wasser in den Plastikstift. Dann gab sie ihn an Armela weiter. Diese malte tief beeindruckt allerhand bunte Unterwassertiere aus.

Nach einer weiteren Stunde wurde ich etwas unruhig. Die Sonne ging langsam unter und ich wollte an der nächsten und hoffentlich letzten Station, dem Haus von Schwester F., noch an diesem Tag ankommen. Den Römer auf meinen Wunsch angesprochen, musterte er mich irritiert. Dann tätschelte er mir die Schulter. „Adesso? [Jetzt?]“ fragte er und man sah deutlich, wie zweifelhaft er meiner Bitte begegnete. Vermutlich riss mein Wunsch ihn unsanft von seiner flauschigen Sultanwolke. Aber es sei doch gerade so schön. Wer wolle jetzt schon dieses schöne Miteinander unterbrechen und darauf bestehen weiterzufahren, wollte er wissen. Vermutlich war seine Frage auch eher rhetorisch. „Ich!“ antwortete ich wahrheitsgemäß und müde. Dyshi stellte derweil eine große Schale Granatapfelkerne und einen Löffel vor den Römer. Er lächelte selig. Und ich verstand. Der römische Sultan wollte seinen Sultanstatus solange wie möglich erhalten, da er in Frankfurt, wie es schien, nur bei Wasser und trockenem Brot gehalten wird. Durch die Glastüre hielt ich nach unserem Kamikaze-Fahrer Ibrahim Ausschau. Er war noch immer in ein angeregtes und temperamentvolles Gespräch vertieft. Schwager L., der aktuell das Wort hatte, schlug wie auf ein Kommando mit der Faust auf den Couchtisch, um sein Argument zu unterstreichen. Der römische Vater mit den schneeweißen Haaren machte ein kurzes, kaum merkliches Zeichen mit dem Zeigefinger. Beschämt über seine Reaktion und eine Entschuldigung murmelnd, guckte ihn sein Sohn L. von unten an. Der Vater lächelte nachsichtig.

Die albanische Dynamik nahm einmal mehr ihren Lauf: Nach 25 Minuten ging ein Ruck durch die Menge an Männern, was vermutlich daran lag, dass die römische Mutter die Treppe herunterkam. Sie hatte ihre Ausgehhandtasche fest umklammert und bereits einen dunklen, bodenlangen Mantel an. Anscheinend kam sie mit zu Schwester F., ihrer Tochter. Auch unser Grüppchen in der Küche stand wie auf ein stilles Kommando auf und ich eilte mit Signorino zur Haustüre, wo unsere Schuhe standen. Wir waren beide mühe, ruhebedürftig und geschafft, was man vom Römer nicht behaupten konnte. Ein schnelles Abendessen bei Schwester F. und dann sollte es für uns auch schon ins Bett gehen. Schließlich würden wir mitten in der Nacht aufstehen müssen, um zum Flughafen zu gelangen. So lautete mein einfach klingender Plan! Aber ein schnelles Abendessen in Albanien schien eben so illusorisch wie ein frühes zu Bett gehen. Zu meinem Glück wusste ich damals nicht, dass mir die anstrengendsten Stunden noch bevorstanden.

Wir fuhren, ungewöhnlich vorsichtig und langsam, zur Villa der Schwester F.. Vermutlich, weil Ibrahim auf die Bandscheiben seiner alternden Mutter, meiner Schwiegermutter, Rücksicht nahm. Sanft wie eine Daunenfeder, schwebten wir über Schotterpisten und vorbei an kleinen Gässchen. An einer Weggabelung hielten wir, denn Ibrahim erkannte den geschätzten Nachbarn aus dem Bürgeramt. Obwohl die beiden nebeneinander wohnten, nahm man sich hier gerne die Zeit für ein kleines Schwätzchen. Schließlich war die Gelegenheit eine sehr seltene: Wann würde man noch einmal in dieser Konstellation, bestehend aus Ibrahim, der Mutter, dem römischen Bruder, dem Kind des Bruders und der deutschen Ehefrau, zusammenkommen? Ibrahims Nachbar fragte die römische Mutter, ob sie glücklich sei, dass ihr Sohn aus Deutschland, samt Familie, nun in Albanien weile. „Sehr!“ antwortete sie, die neben mir am Fensterplatz saß, und drückte meine Hand. Ich drückte zurück und lächelte sie unter meiner Maske an. Als die neuesten Nachrichten des Viertels ausgetauscht worden waren, zuckelte Ibrahim weiter. Wir glitten, immer noch wie auf Wolken reisend, auf die große Hauptstraße und von dort ging es, unter Einhaltung aller Verkehrsregeln (!), zum kompleksi von Schwester F. und Schwager B.. Ja, sie lesen richtig. Ein ganzer kompleksi, ähnlich einem kleinen Shoppingcenter, gehörte den beiden.

Dazu sei erwähnt, dass Schwager B. ein überaus erfolgreicher Geschäftsmann ist. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, machte er sich schnell einen Namen mit jeglichen Sanitär- und Hydraulikarbeiten. Bis nach Shanghai brachte man ihn, damit er sich dort in einem deutlich größeren kompleksi austoben konnte. Mittlerweile ist er 55 Jahre und findet, es ist langsam, aber sicher an der Zeit, beruflich kürzer zu treten. Das bedeutete, dass er das operative Tagesgeschäft an seinen Sohn, Neffe Toni, übergab, der nun von früh bis spät schuften durfte. Sein letztes, großes Projekt war die Familienvilla, die er an seinen kompleksi anbaute. Viergeschossig, mit eigenem Aufzug, bewohnt nur von Schwager B., Schwester F., Neffe Toni nebst Gattin und seinem Sohn. Ab und an kam auch die im Ausland studierende Tochter vorbei. Die Villa war geschmackvoll eingerichtet. Tatsächlich vermutete man eine solche Villa eher in den Hollywood Hills als in Kamez. Die äußerst begabte und ambitionierte Innenarchitektin leistete wirklich ganze Arbeit.

Ibrahim rollte in Zeitlupe in eine der Parklücken und ließ den Benz sanft abbremsen. Als wir ausstiegen, kam mir die Idee, dass ich zukünftig darauf bestehen werde, dass meine Schwiegermutter Nurie stets bei uns mitfährt. Als Schutzheilige St. Nurie sozusagen. Denn bei einem so rabiaten Fahrer wie Ibrahim, der bei Anwesenheit seiner Mutter in der fahrerischen Lage war, eine Schotterpiste in eine fluffige Wolke zu verwandeln, sollte man lieber tief in die Trickkiste greifen. Vielleicht würde auch schon eine heilige St. Nurie Münze, ähnlich einer St. Christopherus Münze, am Rückspiegel des Autos helfen. Oder beides zusammen? Viel hilft viel! Auch in Albanien.

Ibrahim ging in den Supermarkt des kompleksi, da er noch etwas Vorort-Tratsch erfahren wollte. Welcher Ort würde sich, neben einem Café, besser dazu eignen als ein Supermarkt? Wir steuerten derweil auf die große, weiße Haustüre am Ende des kompleksi zu. Man brauchte nicht klingeln, sondern konnte einfach durch den modernen, weißen Eingang gehen. Der Römer drückte auf die Taste für den Lift und unsere Reisegruppe bestehend aus Schwiegermama Nurie, Signorino, dem Römer und mir. stiegen ein. Es klingelte zwei Mal, als wir auf der vierten Etage angelangt waren. „Në! [Mama!]“, sprach der Römer, „Sind wir hier richtig?“ Die römische Mutter zuckte mit den Schultern. „Nuk e di! [Ich weiß es nicht!] Ich benutze nie den Lift, sondern immer die Treppenstufen.“ Dann grinste meine 75jährige Schwiegermutter wie ein junges Mädchen. Der Römer lief die restlichen Treppenstufen hoch, um sich zu erkundigen, ob wir in der richtigen Etage waren. „Hier oben ist nur noch der Pool!! Ich komme wieder runter!“ schrie er nach unten und seine Stimme hallte im Treppenhaus. Dann nahm er zwei Treppenstufen auf einmal und hüpfte wieder auf unsere Etage. Signorino zog währenddessen am weißen Kopftuch seiner Oma. Sie nahm es gelassen, nahm seine kleinen Patschehändchen und küsste sie. Er guckte überrascht. Nein, damit hatte er nicht gerechnet.

Wir klingelten an der Haustür auf der vierten Etage. Amela, die Frau des Neffen Tonis, machte uns sogleich auf und begrüßte uns freudig. Sie hatte bereits eine hellblaue Schürze mit großen Rüschen am Saum an und wir unterbrachen wohl gerade die Vorbereitungen des Abendessens. Es war 20:30 Uhr. Mein Plan, der besagte, dass wir möglichst um 22 Uhr im Bett liegen sollten, bekam erste, feine Risse. Als Amela zurück in die offene Küche ging, um das silberne Tablett mit den Begrüßungssüßigkeiten zu holen, erhaschte ich einen Blick auf den Stand der Abendessen-Vorbereitungen. Sie war anscheinend gerade dabei gewesen, eine Salatgurke zu schälen. Und das wiederum bedeutete, dass sie vor geschätzten fünf Minuten angefangen hatte, das Abendessen zuzubereiten. Lächelnd kam sie mit dem verschnörkelten Tablett auf uns zu. Tapfer strahlend nahm ich mir ein zart rosa gefärbtes Llokum. Der Puderzucker staubte etwas von der eh schon pappsüßen Süßigkeit. Ich bedankte mich freundlich. Amela reichte mir eine Serviette, während sie sich in ein Schwätzchen mit meiner Schwiegermutter vertiefte. Ich seufzte innerlich und wollte sie zur Eile antreiben, doch das wäre vermutlich sehr unhöflich gewesen. Stattdessen kaute ich mein zähes Llokumstück sehr, sehr langsam, was nicht nur an der Konsistenz dieser Süßigkeit lag. Meine Maske hüpfte dazu ebenso langsam auf und ab. Zeitgleich seufzte auch der Römer. Vollkommen beseelt lehnte er sich zurück, breitete seine Arme wie zwei schlaffe Flügel aus und bemerkte: „Ist das nicht herrlich hier? Was gäbe es schöneres, als zwischen meinen zwei Lieblingsfrauen zu sitzen?“ Seine Mutter strahlte ihn bei diesem Satz an. Ich runzelte stattdessen die Stirn. „Rechtzeitig ins Bett gehen zum Beispiel. Auch um überhaupt noch eine Chance auf eine Minimumruhezeit zu haben.“ murmelte ich kaum hörbar. Der Römer blickte mich fragend an. Ich beschloss, dass ich seinen Satz mit einem langgezogenen „Mmmh!“ quittiere, um unangenehme Rückfragen zu vermeiden.

Wie unterschiedlich doch die Wahrnehmung zweier Menschen ist!“ ging es mir durch den Kopf. Wir hatten den exakt gleichen Tag erlebt und doch würde ich jetzt am liebsten meine Ruhe in einer netten Ferienwohnung in Tirana haben, während der Römer sich pudelwohl fühlte und so glücklich war, dass er sein Glück vermutlich in Flaschen abfüllen konnte. Dazu saßen wir auf der selben Couchlandschaft, doch unsere Wahrnehmung hätte nicht weiter voneinander entfernt sein können!

Meine Gedanken wurde von dem lauten Rollen vierer Plastikräder auf dem Holzfußboden unterbrochen. Ums Eck glitt der zehn Monate alte Sohn von Amela und Neffe Toni. Noch heute löst dieses Bild, dass sich dem Römer und mir bot, einen hysterischen Lachanfall aus. Bitte haben Sie Nachsicht, wenn ich diese Szene nur unzureichend beschreiben kann:

Der kleine, zehn Monate alte Sohn war festgeschnallt in einer viereckigen, knallroten Lauflernhilfe im Design eines Ferraris. Es sah in etwa so aus, als hätte man ein Loch in einen roten Kindertisch gesägt und an die Beine des Tisches vier Plastikreifen geschraubt. Aus diesem feuerroten Tischchen guckte nur sein gedrungener Oberkörper und sein Kopf, während sich seine kleinen Beinchen abstrampelten, um das Gefährt vorwärts zu bewegen. Da er noch nicht gehen konnte, erlaubte ihm diese Gehhilfe sich fortzubewegen. Auch aufgrund seines kleinen, stämmigen Oberkörpers, sah man hauptsächlich nur viel Kopf (und wenig Oberkörper), aus diesem Lauflerngestell herausragen. Ein Hals verband zwar den kleinen Babyoberkörper mit dem quadratischen Kopf, aber er fiel, wohl genetisch bedingt, sehr kurz aus. Wer jemals die Serie „Die Simpsons*“gesehen hat, der kann sich vielleicht an Kang und Kodos, die beiden Außerirdischen, erinnern. Exakt so sah der kleine Verwandte aus, was durch seine stets ernsten, dunklen Augen und die wulstigen Ohren unterstrichen wurde. Dazu hatte man ihm die Haare vor ein paar Tagen abrasiert, da die Eltern und Großeltern sich in den Kopf gesetzt hatten, dass alle Haare des Babys gleich lang sein müssen. Wie ein kleiner, übelgelaunter Beamter saß Cousin Kang in seinem Gefährt. Nie lächelte er. Generell schienen seine Mundwinkel sich eher hängend wohl zu fühlen. Man erkannte recht fix: Cousin Kang war ein überaus seriöses Baby, das keinerlei Schabernack dulden würde.

Doch bei all seiner Ernsthaftigkeit hatte er wohl nicht mit dem römischen Nachfahren gerechnet. Signorino lief schnurstracks auf Cousin Kang zu und streichelte ihm ungefragt über den stoppeligen Kopf, so wie er es eben von seinen beiden Cousinen gelernt hatte. Cousin Kang sah Signorino empört an und schnappte bei dieser übergriffigen Tat Signorinos nach Luft. Sogleich versuchte er mit seinem Babywalker davon zu laufen, doch Signorino hielt den roten Babywalker einfach fest. Kang schrie und flippte vollkommen aus, doch Signorino streichelte ihn einfach seelenruhig weiter, ohne sich dabei aus der Ruhe bringen zu lassen. Ich eilte zu Signorino und erklärte ihm, dass Cousin Kang seine Streicheleinheiten nicht so sehr mochte wie beispielsweise seine beiden Cousinen. Während des kurzen Gesprächs flüchtete Kang schnell hinter den Raumteiler des Wohn-Essbereichs. Doch Signorino wäre nicht Signorino, würde er nicht in einem unbeobachteten Moment entkommen und Cousin Kang abermals aufsuchen. Von weitem hörte man einen spitzen Schrei. Sofort liefen Amela und ich zu Cousin Kang, der vor Wut kochte. Signorino stand daneben, guckte als könnte er kein Wässerchen trüben und streichelte Kang noch ein letztes Mal über die Hand. Kang zog die Hand empört weg und wurde von seiner Mutter für einen Moment aus dem Babywalker gehoben. Auf dem sicheren Arm seiner Mama fixierte Kang Signorino grimmig. Signorino kümmerte sich herzlich wenig um Kangs Distanzaffinität. Seine Augen blitzten und ich wusste, dass mein Kind den nächst möglichen Moment abpassen und Cousin Kang ein weiteres Mal herzen wird.

Die Szene wurde unterbrochen vom Geräusch einer sich öffnenden Haustür. Die römische Schwester F. trat ein. Ihr Blick fiel sofort auf den blonden Neffen und bevor sie uns begrüßen konnte, mashallah-te sie bereits durch die Wohnung! Es war, als würde ihre Sprachsoftware an der immer gleichen Stelle festhängen. Mashallah! Mashallah! Zemra ime! [Mein Herz!] Mashallah! Mashallah! Zemra! [Herz!] Mashallah!“ So ging das minutenlang. Schließlich gelang es ihr doch noch, sich von ihrem zemra Signorino loszureißen und begrüßte auch uns und ihre Mutter Nurie. Nach wenigen Minuten hing ihre Sprachsoftware erneut und der Singsang aus Mashallahs! setzte wieder ein. Glücklicherweise kam gerade jetzt ihr Mann, Schwager B., heim. Auch er erblickte Signorino und von Neuem setzte ein weiterer, deutlich basslastigerer Schwall an Mashallahs ein. Ergänzt wurden sie von ihm jedoch durch die Bezeichnung „Ylli ime“ [Mein Stern!], statt der vorherigen „zemra ime’s“ [mein Herz!]. Hätte man unter diesen Sprechgesang einen flotten Hintergrund-Beat gelegt, so war ich mir sicher, wäre das ein sehr schöner Sommerhit geworden, der vermutlich auch internationale Erfolge gefeiert hätte. Doch diesen Einfall behielt ich lieber für mich.

Signorino versteckte sich, von einer Welle an aufkommender Schüchternheit gepackt, hinter meinem Hosenbein. Aber Schwager B. ließ nicht lange mit sich fackeln. Sobald Signorino aus der Deckung kam, um Cousin Kang abermals zu ärgern, schnappte sich Schwager B. Signorino und wirbelte ihn freudig hoch. Der fand das gar nicht lustig und rastete nach allen Regeln der Kunst vollkommen aus, so dass Schwager B. ihn mir mit ausgestreckten Händen zurückgab. Ich meinte bei dieser Szene, ein minimales Lächeln auf Cousin Kangs ernstem Gesichtchen erkennen zu können. Doch hundertprozentig sicher war ich mir nicht. Schwager B. wollte sich mit der unverhofften Abneigung Signorinos nicht zufrieden geben. Mit einem penetrant blinkenden, scheppernd lauten Sportwagen versuchte er Signorinos Gunst zu gewinnen. Der Sportwagen drehte sich dabei immerzu um die eigene Achse. Signorino schien hypnotisiert von diesem lauten Spektakel und eilte sofort zum Sportwagen. Cousin Kang wollte das aber nicht gelten lassen. Was würde seinem Opa, Schwager B., überhaupt einfallen, SEIN Auto an diesen verzogenen, blonden Bengel zu geben? Postwendend flitzte Cousin Kang in seinem Ferrari-Untersatz um die Ecke, um sein Eigentum zu verteidigen. Leider zog Signorino das scheppernde Auto bereits auf den Hochflorteppich. So sehr er es auch versuchte, Cousin Kang konnte das Teppich-Hindernis mit seinem Babywalker nicht überwinden. Sein Opa half dem zeternden Kind aus dem Babywalker und stellte Cousin Kang an die Couch. Mit seinen kleinen Händchen hielt er sich am Rand der Sitzfläche fest. Schwager B. und ich saßen nur wenige Zentimeter neben Kang. Als Schwager B. und ich uns unterhielten, sah Signorino seinen Moment gekommen. Schwager B. hielt zwar seinen Enkel Kang unterstützend an den Händchen fest, doch ein erneuter Streichelversuch Signorinos riss den noch sehr instabilen Cousin schließlich zu Boden. Wie ein Monolith fiel Cousin Kang mit weit aufgerissenen Augen nach hinten um. Wer jemals ein instabiles Baby hat fallen sehen, der weiß, sie fallen gerade um, ohne sich mit den Ellbogen oder Händen abzustützen. „Kang!!! Oh Gott! Das tut mir so Leid! Bitte entschuldige!!“ rief ich und hob den brüllenden Cousin Kang unmittelbar auf. Dann erntete Signorino einen strengen Blick von mir. Schwager B. nahm es äußerst gelassen. Er übernahm das weinende Kind, drückte ihm sein Smartphone in die Hand und wie von Zauberhand beruhigte sich Cousin Kang sogleich wieder. Dem schelmisch grinsenden Signorino machte ich derweil sehr direkt verständlich, dass das ein Scheißverhalten (O-Ton) war. Bei jeder erneuten Erwähnung des Wortes „Scheiß“ fing er laut an zu lachen. Als Mutter versagte ich heute auf ganzer Linie. Wären wir doch nur in unserer Ferienwohnung in Tirana geblieben!

Mittlerweile war es 21:15 Uhr. Mein Zeitplan glitt mir wie staubfeiner Puderzucker durch die Finger. Leider war er nicht halb so süß, sondern hatte einen recht bitteren Geschmack bekommen. Wieder hörte man einen Schlüssel, wieder kam ein neuer Bewohner an der Haustür an. Diesmal war es Neffe Toni, der seinen Onkel Ibrahim dabei hatte. Neffe Toni kam soeben vom Fußballtraining und versprach uns, uns nachher zu begrüßen, nachdem er geduscht hatte. Schwester F. und ihre Schwiegertochter Amela verkünstelten sich derweil am Abendessen. Eigentlich sollte es mich beruhigen, dass sich nun zwei begabte Köchinnen am Abendessen zu schaffen machten. Doch als ich sah, wie sie sich an jedem einzelnen Teller abmühten, schlenderte ich in die Küche und fragte, leicht angespannt, ob ich helfen könne. Die Damen winkten ab. Aber nein, nein! Ich sei schließlich zu Gast. Könne man mir denn etwas anderes zu trinken anbieten, wollte Schwester F. von mir wissen. Ich verneinte und bedankte mich höflich für das liebe Angebot. Amela ließ derweil von den Tellern ab, füllte Nüsschen in zwei große Schalen und entschuldigte sich. Wie unhöflich von ihr, sprach sie, ich müsse sicher schon sehr hungrig sein. Sofort brachte sie die Nüsschen an den Couchtisch und gebot mir, mich auf der Sofalandschaft ganz wie zu Hause zu fühlen. Schwester F. und Amela fingen wenige Momente danach an miteinander diskutierten, was sie mir noch Gutes tun konnten. Ich resignierte derweil etwas. Denn, dass mein Angebot den beiden Damen zu helfen, um damit schlussendlich schneller ins Bett zu kommen, so schief gehen würde, konnte ich wirklich nicht ahnen. Nun bereitete keine der Köchinnen mehr irgendetwas zu. Stattdessen kümmerte man sich aufopfernd um einen Zwischensnack, damit der geneigte Gast bloß nicht verhungern würde. Das alles ließ mich furchtbar fahrig werden. Als nach zwölf Minuten (ich zählte im Kopf mit), das Problem gelöst war, fingen sie wieder in Zeitlupe an, jede Salatgurke einzeln zu drapieren. Ebenso wurde jede Tomatenscheibe noch einmal im Gegenlicht betrachtet und auf mögliche Makel geprüft. Nur eine makellose Tomate war eine für den Gast würdige Tomate in diesem Haushalt.

Dabei verstand ich durchaus, dass der Gast in Albanien König war. Aber hätte man das nicht an einem anderen Tag zelebrieren können? Mein Wecker würde in sechs Stunden klingeln. Wir hatten ein Kleinkind dabei, dass nach diesem vollgepackten Tag bereits in den Seilen hing! Kurzum: Ich lächelte anstrengt bis meine Gesichtsmuskeln vor Anspannung zitterten. Vermutlich hätte ich mir mein tapferes Lächeln auch sparen können, denn unter der Maske konnte man es eh nicht sehen. Meine müden Augen sprachen jedoch Bände. Anscheinend jedoch auf Deutsch, denn kein anwesendes, albanisches Familienmitglied konnte meinen wirklichen Willen deuten.

Die Uhr zeigte Schlag 22 Uhr an. Wir begannen endlich zu essen. Eine scheinbar simple Tätigkeit stellte sich jedoch als äußerst herausfordernd heraus, was weniger am Römer und mir, als an unserem Sohn lag. Unser Kleinkind hetzte wie irre um den Esstisch, weiter in die Küche, durchs Wohnzimmer, vorbei am immensen Raumteiler, wieder um unsere Tafel und nochmals in die Küche. Dabei entdeckte Signorino ständig neue, spannende Dinge, wie beispielsweise heiße und volle Pfannen, güldene, trojanische Pferdestatuen, die auf Kleinkindhöhe im Raumteiler verstaut waren und eine Schale voller Nüsschen auf dem Couchtisch, die sich ganz wunderbar im Hochflorteppich versteckten. Das taten die Nüsschen sogar so gut, dass man in mühevoller und zeitraubender Kleinstarbeit gar nicht alle ausfindig machen konnte. Das schien den Römer allerdings nicht zu stören. Wie auch? Er speiste stattdessen genüsslich im Kreis seiner Lieben. Auch die Stimmung an der familiären Tafel war ausgelassen und der Gesprächsfluss schien nie abzuebben. Ab und an wurde das römische Wort auch an mich gerichtet. Das hörte sich zum Beispiel so an: „Amoooore! Lass Signorino doch mal! Er ist ein Kind. Er muss seine Erfahrungen ganz in Ruhe machen dürfen.“ Diesen Satz sagte er mir während ich auf einem anthrazitfarbenen Hochflorteppich saß und Erdnüsse, sowie Pistazien einsammelte, die sein Kind liebevoll auf dem Teppich verteilt hatte. Einen Moment überlegte ich, ob ich lieber seinen oder meinen Kopf gegen den Couchtisch in Marmoroptik hauen möchte. Doch da sah ich bereits Signorino mit einer enormen, metallenen Suppenkelle vorbeiflitzen. Er steuerte auf Cousin Kang zu. Vor Freude kreischte unser Sohn und hob, wie zum Angriff ansetzend, die Suppenkelle. Schnell rappelte ich mich vom Nüsschendesaster auf und lief ihm hinterher. Kang erblickte von weitem seinen kampfbereiten Cousin Signorino und versuchte mit seinem Babyrollator zu flüchten, so schnell es ihm die kleinen, speckigen Beinchen eben erlaubten. Natürlich blieb er an der Ecke der Kochinsel hängen und Signorino holte ihn rasend schnell ein. Kang, der vermutlich auch schon vollkommen übermüdet war, ließ einen schrillen Schrei los. Schnell packte ich Signorino am Kragen, hob ihn hoch und nahm ihm die Suppenkelle ab. Das überdrehte Kind zappelte nicht nur. Es kämpfte mit aller Kraft gegen mich an und rastete filmreif aus. Ich hatte seinen Plan vereitelt und er vergoss dicke Krokodilstränen. „Soll ich ihn mal nehmen?“ erkundigte sich der Römer bei mir mitfühlend. Das tat er in etwa so, als ob er nicht der Vater meines Kindes war, sondern ein hilfsbereiter Cousin vierten Grades – oder der nette Nachbar der Schwester. „Das wäre ja wohl das Mindeste!“ patzte ich zurück, drückte ihm das Kleinkind in die Arme und begab mich an den Esstisch.

Ein Glück wurde die Hälfte des gemischten Tellers auf meinem Platz eh kalt gegessen. Die andere Hälfte, die zumindest lauwarm gegessen werden sollte, musste eben jetzt auch kalt verspeist werden. Neffe Toni lächelte mich aufmunternd an. Ich lächelte resigniert zurück, während bereits der erste Kommentar von Schwager B. bei mir einschlug: „Haben sich eure Eheprobleme eigentlich wieder eingerenkt?“, flötete er und fand, dass dieses Thema ein ganz vorzügliches Smalltalk Thema an der langen Tafel war. Ich funkelte ihn an. Nein, jetzt war es wirklich zu viel des Guten! Bitter lächelte ich und säuselte zurück: „Ach, du beziehst dich auf Februar vergangenen Jahres, als du deinen Sohn Toni nach Deutschland zum Autokauf geschickt hast? Dieser musste natürlich nur wenige Wochen nach Signorinos Geburt stattfinden. Sicher war dir nicht bewusst, wie heftig eine Geburt und die damit verbundenen Nachwirkungen sein können. Woher sollst du es auch wissen? Ich für meinen Teil war jedenfalls total gerne mutterseelenallein im Wochenbett mit einem Neugeborenen, der die wunderbare Gabe hatte, acht Stunden am Stück durchgehend zu brüllen, ohne auch nur ein My an Stimmgewalt zu verlieren. Aufstehen konnte ich nur unter größten Schmerzen, aber das wäre vermutlich auch nicht nötig gewesen, wäre meine Ehemann daheim gewesen und nicht beim Autokauf mit Toni. Diese Eheprobleme, die du ansprachst, waren der Abwesenheit des Römers geschuldet, der sich drei Tage um die Beschaffung, Übersetzung, den Vertragsabschluss und die Ausfuhr deines Autos nach Albanien gekümmert hat. Aber keine Sorge, keiner kommt hier, in Albanien, in diese missliche Lage. Schließlich steht eine Batterie an Verwandten bereit, um der jungen Mutter zu helfen. Da braucht man den Ehemann sicher nicht und er kann getrost ein Auto kaufen und ausschiffen lassen. Aber danke der Nachfrage, meine Eheprobleme haben sich, nachdem ich meinen Ehemann wieder zurück hatte, in Luft aufgelöst.“

Stille. Es herrschte absolute Stille nach meinem Monolog. Nur Kangs rotes Wohnmobil (denn irgendwie wohnte er auch halb in seinem Gefährt), knallte immer wieder an den Raumteiler, weil er es nicht um die Ecke schaffte. Nach einer weiteren Minuten der Wortlosigkeit, ergriff mein Lieblingsneffe Toni das Wort: „Eva? Möchtest du noch Brot?“ Grinsend hielt er mir den Brotkorb hin. „Danke, Toni. Das ist lieb, dass du dich um mich kümmerst.“ flötete ich, als wäre nichts gewesen. Die Gespräche am Tisch wurden wieder aufgenommen und die Lautstarke schwoll rasch an.

Signorino war mittlerweile hüfttief in der kritischen Phase. Er war übermüdet und wollte seine Ruhe, was er laut quengelnd einforderte. Ich zog den Römer sanft am Ärmel und erklärte ihm die Lage. „Signorino ist doch noch nicht müde!“ versuchte er mich zu überzeugen. „Der hält schon noch durch.“ Ich guckte ihn entgeistert an. Konnte oder wollte er das vor Müdigkeit quengelnde Kind nicht sehen? Ist seine ganze Empathie und sein Vaterinstinkt erstickt worden im, von Ibrahims Vehikel, aufgewirbelten Staub Kamez? Bevor ich drohen konnte, dass wir jetzt entweder das Gästezimmer beziehen oder ich mit Kind und Koffer ins Stadtzentrum fahre und dort ein Hotelzimmer anmiete, brachte mich Schwester F. ins geräumige Gästezimmer. „Das war ein langer Tag, oder?“ wollte sie wissen und ich nickte müde. Mitfühlend legte sie mir eine Hand auf die Schulter. Schnell zog ich das Kind um, steckte es in seinen Schlafsack, schüttelte das Bett auf und gab ihm noch eine Flasche Wasser. Schwester F. suchte derweil noch ein paar warme Decken heraus. Während das Kind trank, fielen ihm ganz von alleine die Augen zu. Doch schon stand wieder mein momentaner, römischer Staatsfeind Nummer 1 im Türrahmen. „Oben gibt’s gleich Dessert.“ informierte er mich lautstark. Die Augen des Kindes, die bereits vollständig geschlossen waren, verwandelten sich wieder in zwei große Stadionscheinwerfer. Signorino war nun hellwach! Ich atmete lange aus und hoffte, dass mir die Kraft zum Einatmen fehlen würde.

Andiamo? [Gehen wir?]“ drängte der Römer noch einmal. Ich seufzte. Signorino robbte durchs Bett. „Si, andiamo. [Ja, wir gehen.]“ Wir trugen unseren Sohn wieder in die obere Etage, um Dessert zu essen. Immerhin ein heller Streif am dunklen Horizont: Es gab mein Lieblingsdessert! Ein jeweils ziegelsteingroßes StückTrilece-Karamell-Kuchen erwartete uns. Indessen fing Schwager B., Bruder Ibrahim und meine römisch-albanische Schwiegermutter wieder an im Chor zu mashallah-en, als sie das Kind in seinem kokonähnlichen, weißen Schlafsack erblickten. Signorino rieb sich müde die Augen und musterte seine Verwandschaft mit runzliger Stirn. Ich fragte nach Cousin Kang. Schwager B. winkte ab: Der sei doch schon längst im Bett. Schließlich sei es für Babys schon sehr spät. „Ja, für Kleinkinder auch.“ murmelte ich auf Deutsch und stopfte mir darauf beherzt ein Stück Dessert in den Mund. Das hatte einige, bedeutsame Vorteile: Der Zucker peitschte meine üble Laune etwas auf und ließ die Müdigkeit einen Schritt zurücktreten. Dazu ließen sich mit vollem Mund deutlich weniger bissige Kommentare abfeuern. Nach diesem energieraubenden Tag war ich reif für einen sehr langen, sehr einsamen Wellness-Urlaub. Ich schaffte nur einen halben Trilece-Ziegelstein und holte daraufhin schwer atmend Luft, was nicht verwunderlich war: Die Luft war bei mir jetzt wirklich raus.

Auch mein römischer (Noch- 😉 )-Ehemann schaffte nicht mehr als eine halbe Portion, was sein Bruder Ibrahim und Schwager B. zum Anlass nahmen, um ihn zu hänseln. Doch der Schuss ging nach hinten los. Auf die Provokation der beiden Herren, dass er nicht nur eine halbe Portion gegessen hatte, sondern auch eine halbe Portion war, schoss der Römer scharf zurück: „Das schlägt sich am Ende des Tages eben auch in der Körperform nieder.“ Dazu streichelte er sich über den trainierten Sportler-Bauch. Ibrahim und Schwager B. ließen zeitgleich ihren Blick auf die jeweiligen Bäuche, die gut und gerne als „zweites Trimester“ bezeichnet werden konnten, gleiten. Das schiefe Grinsen rutschte ihnen schlagartig aus dem Gesicht. Nur die römischen Lippen wurden von einem leichten Lächeln umspielt.

Nach weiteren zehn Minuten an unwichtigem Geplänkel, erinnerte sich der Römer daran, dass er seinem Neffen Toni zur Geburt seines Sohnes Kang noch eine milde Gabe überreichen wollte. Einen 100 Euro Schein holte er aus seinem Portmonee. Empört und wie von der Tarantel gestochen, schoss Schwager B. von der Sofalandschaft hoch. Nein, das könne sein Sohn Toni sicher nicht annehmen. Der Römer und Schwager B. fingen an, sich über das Geldgeschenk zu streiten. Ich verdrehte die Augen und widmete mich meiner Schlafraupe in ihrem weißen Schlafsack-Kokon. Signorino gähnte inbrünstig und seine Vorderzähne blitzten im Licht. Die Szene zwischen den beiden Männern wurde immer lauter und turbulenter. Die beiden ließen sich theatralisch auf die Sofalandschaft fallen und keiften weiter. Daraufhin schnellte der Römer hoch und rannte wie ein Kleinkind zu Neffe Toni, der es sich am anderen Ende des weitläufigen Sofas bequem gemacht hatte. Wedelnd hielt er den grünen Schein in der Hand und wollte ihn an Neffe Toni wie einen Staffelstab übergeben. Doch Schwager B. rammte ihn kurz vorm Ziel von der Seite um. Aufgrund der wohlgenährten Körperform von Schwager B. machte sich in diesem Wettkampf der römische Sportlerkörper nicht bezahlt. Ich betrachtete das Spektakel mit großen Augen. Nein, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Erwachsene Männer, die sich wie die Kleinkinder stritten. Nur die römisch-albanische Mutter saß besonnen lächelnd unweit entfernt von ihren sich kabbelnden (Schwieger-)Kindern. Wie ich diese Frau bewunderte! Aber klar, wie sonst, wenn nicht mit absoluter Gelassenheit, hätte man sieben Kinder und beinahe 20 Enkelkinder erziehen können? Schwester F. brachte den türkischen Kaffee mit einem weiteren Stück Llokum an den Wohnzimmertisch. Ich winkte, mich ausgiebig bedankend, ab. Wenn ich jetzt noch Kaffee trank, war die Nacht eh vorbei. Obwohl? Wer weiß, ob es überhaupt eine Nacht geben sollte. Momentan sah es nicht danach aus.

Schwager B. und der Römer tollten mittlerweile aufeinander herum, als wären sie immer noch 3 und 5 Jahre alt. Auf dem Couchtisch lag geduldig der Hundert Euro Schein. Toni hatte indessen den Sitzplatz gewechselt und saß auf dem Hochflorteppich, von wo er einen besseren Blick hatte. Lachend beobachtete er die Szene zwischen seinem Vater und seinem Onkel. Ich hatte genug! Rasch stand ich auf, brachte Signorino zu meiner Schwiegermutter, bat sie, ihn einen Moment zu halten und schnappte mir den Schein. „Hier, Toni, für dich und deine junge Familie. Nimm den Schein von deiner deutschen Tante an, bitte!“ flehte ich Toni an. Er wollte abwinken, während die beiden erwachsenen Streithammel verdutzt voneinander abließen. „Lieber Schwager B., lieber Toni, ich bin gerne Gast in eurem Haus. Aber so bitte ich euch auch das albanische Gewohnheitsrecht, den Kanun, in seiner ganzen Fülle zu respektieren. Es gilt, dem Gast keinen Wunsch abzuschlagen. Und so wünsche ich mir, als weitgereister Gast, dass mein Neffe Toni diesen Schein annimmt.“ Schwager B. schaute vollkommen verdutzt aus der Wäsche. Er wusste, dass er diesen Wettstreit verloren hatte. Zeitgleich lachte der Römer laut auf. „Grande, amore! [Großartig, Schatz!]“ rief er mir zu. „DU brauchst gar nicht schreien. Wir gehen jetzt ins Bett und ich will nicht die hundertste, unnötige Ausrede hören. Dein Sohn ist zu klein und mir zu wertvoll, als dass er mit so wenig Schlaf auskommen könnte.“ Nun guckte auch der Römer wie eine bedröppelte Kröte. Am liebsten hätte ich ein Foto dieser Szenerie gemacht, so herrlich war das Bild, das alle Anwesenden abgaben: Da waren die zwei Streithammel, die beide beschämt auf der Sofalandschaft saßen. Schwester F. und ihre Mutter, die mich angrinsten, weil ich verbal auf den Tisch haute, dazu Ibrahim und Toni, die laut lachten. Nur Signorino lehnte seinen müden Kopf gegen die Brust seiner Großmutter.

Endlich stand der Römer auf. Die Uhr zeigte bereits 23:45 Uhr an. Wir verabschieden uns von der römischen Mutter und Ibrahim. Angesprochen auf die Ausgangssperre antwortete Ibrahim: „S’ka problem. [Kein Problem.] Wir sind doch nicht in Tirana, sondern in Kamez. Hier patrouilliert keine Polizeistreife und wenn, dann kennen wir jeden einzelnen Polizisten hier. Mit ein bisschen Bakshish hat niemand etwas gesehen und lässt uns passieren.“ Ein hundert Lek Schein konnte einem hier Tür und Tor öffnen. Versuchen sie das einmal in unseren Gefilden mit einem fünf Euro Schein! Der geneigte mitteleuropäische Polizist würde sie vermutlich auslachen und dann nach Ihrem Namen und Ihrer Anschrift fragen, um Sie anzuzeigen.

Als wir uns bei Schwester F. und Schwager B. verabschieden wollten, wiegten die beiden den Kopf hin und her. Aber nein, selbstverständlich stehe man morgens um 3 Uhr auf, um uns persönlich zu verabschieden. Der Gast sei schließlich König. Eine absolute Verständlichkeit sei das. Als wir ins Gästezimmer gingen, gähnte ich laut. „Furchtbar anstrengend muss es sein, nach dem Kanun zu leben.“ flüsterte ich dem römischen (Wieder-)Gatten zu. Er nickte vielsagend.

Signorino schlief an der Schwelle zum Gästezimmer ein. Es war beinahe Mitternacht. Auch der Römer schnarchte sofort laut, sobald sein Lockenkopf das Kopfkissen berührt hatte. Nur ich lauschte der Klimaanlage und dem Hundegebell, das von draußen kam. Mein Körper war hundemüde, mein Kopf aufgrund dieser vielen Impressionen jedoch hellwach. In drei Stunden sollte der Wecker klingeln.

Wie es weiterging, können sie in der Live-Mitschrift von April lesen: Bitte hier entlang!

Nachwort

Das war eine kurze, dennoch ereignisreiche Reise nach Albanien. Zugegeben, besonders beim letzten Teil ist mir die Luft ausgegangen, weswegen er auch so lange in Bearbeitung war. In meinen Notizen stand in jedem dritten Absatz „Ich bin genervt.“. Versuchen Sie einmal, daraus einen sinnvollen Text zu entwerfen. Ich hoffe, es gelang mir dennoch, Ihnen die Reise so gut wie möglich zu schildern. Vielleicht bringe ich irgendwann ein Buch über all meine gesammelten Albaniengeschichten heraus. Aber bis dahin dauert es vermutlich noch ein Weilchen. Eine begabte Lektorin (Hallo Ova!!) hätte ich allerdings schon. Leider befindet sie sich momentan in einer wohlverdienten Ruhephase.

Es war mir eine ganz besondere Ehre, dass ich Sie auf diese Reise mitnehmen durfte. Ich freue mich bereits auf die nächste, aufregende Reise mit Ihnen! Bis dahin bin ich aber froh, weiter im regulären Programm fortzufahren.

Sie haben die ersten Teile verpasst? Kein Problem!

TEIL 1: PACKEN SIE LANGSAM, ICH HABE ES FURCHTBAR EILIG!*

TEIL 2: VON POSITIVEN SCHWESTERN UND DER ALBANISCHEN FAMILIENEHRE

TEIL 3: GRENZ-AXEL, EIN KITAPLATZ AN GATE Z22 UND AUFGEBRACHTE, ALBANISCHE NOTARE

TEIL 4: WIE DER RÖMER SPURLOS VERSCHWAND, WARUM ALBANER GERNE MAL LINKS FAHREN UND WIE USCHI BLUM MICH EINBÜRGERTE

TEIL 5: EIN MORGENDLICHER DISPUT, NASENSTREICHELN IM KRANKENHAUS UND EIN RUMPELSTILZCHEN ZWISCHEN HIGH HEELS UND MINIRÖCKEN

*Werbung, unbezahlt 😉

13 Antworten zu „Die Albanienchroniken – Tag 6: Ibrahims Schlaglochkarte, ein albanischer Sultan und Machtkämpfe mit Cousin Kang”.

  1. Avatar von Mitzi Irsaj

    Herrlich. Und so viel entspannter, es zu lesen, als mitten drin zu sein 😉

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    1. Avatar von signorafarniente

      Man ist froh, dass es erlebt und geschrieben wurde. Aber nicht von einem selber. 😄 Das dachte ich mir gestern bei deinem Homeoffice Bericht auch. 😄

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  2. Avatar von Anke

    Ich habe mitgelitten. Wie gut erinnere ich mich an Gelegenheiten wie Feste, wo die Familie Party machte, als gäbe es kein Morgen mehr, und ich wurde zunehmend ungeselliger und verzweifelte beim Zählen der Stunden, die dem Baby/Kleinkind (und mir) blieben bis zum nächsten Morgen. Als Mama war ich plötzlich eine Spielverderberin, oder wie es in Italienisch so treffend heißt, Guastafeste. Das war nicht schön für mich. Sicher verarbeitest du das alles besser, wenn du darüber schreibst. Richtig so! Und wir lesen es dann ganz entspannt, wie Mitzi sagte.😉
    Die Abenteuer einer trinationalen Familie zu Besuch in Albanien sind unbedingt ein potenzielles Thema für ein ganzes Buch! Ich spinne mal schon weiter, und sehe Signorino, der in den Sommerferien plötzlich immer nach Tirana will, die süße Cousine zweiten Grades wiedersehen. 😍😂

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    1. Avatar von signorafarniente

      Du warst sicher in der Situation ganz und gar beunruhigt, aber mich, einige Jahre später, beruhigt deine Erfahrung als Spielverderberin. Gerade, weil man in dieser Situation als besorgte Mutter allein auf weiter Flur ist. Aber jetzt nicht mehr! 😎

      Er war so angetan von seinen Cousinen, unmöglich wäre dein Ausgang der Geschichte absolut nicht! 😉

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  3. Avatar von coffeenewstom

    Mach bitte ein Buch daraus!

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    1. Avatar von signorafarniente

      Danke! Ich werde meine Schwester mit diesem Thema belästigen, auf dass sie es lektoriert. 😊

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  4. Avatar von Lopadistory

    Alles reine Nervensache … 😉

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    1. Avatar von signorafarniente

      Die starken Nerven haben nicht mehr in den Koffer gepasst. 😄

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  5. Avatar von Olpo Olponator

    Wollen Sie nicht vielleicht ein Buch aus den Albanienchroniken machen *kicher* …
    In einem nicht unüblichen Format komme ich auf bereits 120 Seiten … 😉

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    1. Avatar von signorafarniente

      Jetzt bin ich aber baff, dass Sie die Seiten (ungefähr) gezählt haben. Ich werde mich umgehend mit meiner Schwester beraten, ob sie ihre Lektorats-Ruhepause nicht vertagen will. Es wäre ein Notfall! 😉

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      1. Avatar von Olpo Olponator

        Aber Nein, aber Nein, Frau Farniente. Ich habe die Chroniken kopiert und in ein Format eingefügt, das mir angenehm zum Lesen erschien. 120 Seiten ohne Vor- und Nachspann sowie Vorwort 😉 …

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      2. Avatar von signorafarniente

        Mensch, Sie sind ja klasse! Das macht mich ganz sentimental, dass Sie das verifiziert haben. Ich werde ein ernstes Wörtchen mit meiner Schwester reden müssen. 😃 Bei 120 Seiten sollte das aber nicht nötig sein. Nur den letzten Teil, die Abreise um 3 Uhr nachts, die werde ich noch etwas ergänzen. 😉

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Ich bin Eva

Herzlich Willkommen auf meinem Familienblog zwischen den Kulturen! Hier geht es um all die Themen rund um die täglichen Herausforderungen als germano_it_albanische Kleinfamilie mitten in Frankfurt am Main.

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