
„Ich muss mal raus aus der Stadt.“, sage ich zum Römer als Antwort auf den morgendlichen, ukrainischen Militärbericht. Er hätte sich eine andere Antwort gewünscht, das sehe ich anhand seines erstaunten Blickes. Seit Beginn des Krieges unterrichten wir uns, beinahe ohne Unterlass, über neue, grausige, schaurige, traurige Ereignisse, die wir der Presse entnehmen. Wir zeigen uns Bilder und leiden mit all den Familien, die ihre (erwachsenen) Kinder an den Krieg verloren haben oder zu verlieren drohen.


Der Römer klappt die Hülle des Tablets zu und unterbreitet mir den Vorschlag, mal wieder am Lungofiume, wie er das Frankfurter Mainufer seit jeher nennt, ein Ründchen zu drehen. „Ich ertrage heute keine Menschenmassen. Tut mir Leid! Ich brauche Bäume.“, wehre ich seinen Vorschlag ab. Zur Schweinheimer Düne, wie die Schwanheimer Düne für den Gatten heißt, möchte er nicht. „Wir streiten uns nur wieder bei der Autofahrt.“, erklärt er mir sein Schwanheimer Veto. „Dann fahren wir eben in den Stadtwald!“, schlage ich vor und setze nach, dass ich versuche bei seiner abenteuerlichen Navigation nicht dem Jähzorn zu verfallen. Vorsichtig nickt der Römer. Er sieht aus wie jemand, der einen Pakt mit dem Teufel schließt.

Natürlich verfahren wir uns auf dem Weg zum Neu-Isenburger Park&Ride Parkplatz. Doch diesmal bleibe ich ruhig. Wir haben keinen Termin. Notfalls landen wir eben woanders. Schlussendlich finden wir den Parkplatz und stapfen los. Weit kommen wir nicht, denn das Stadtkind ist ganz aus dem Häuschen bei dieser Vielfalt an Stöcken, klein und groß, und bei all den unzähligen, frei herumliegenden Blättern. Voller Freude lässt er sich am Wegesrand in die Blätter plumpsen und wühlt genüsslich mit beiden Händen durch das Blättermeer. Dann entdeckt er, dass es hier auch noch Steine gibt. Steine!! Er ist definitiv im Paradies angekommen. Soviel steht fest. Stein um Stein sammelt er, drückt sie mir in die Hände, wirft sich wieder ins Unterholz, stellt schockiert fest, dass Himbeerranken pieksen, weint aber nicht, sondern streichelt zur Beruhigung über grünes Moos. In 40 Minuten kommen wir etwa 70 Meter weit. Als ich versuche, das Kind weiterzuziehen, radeln Vorstädter an uns vorbei. „Ach lasse Se doch den kleine Bub! In der Stadt ham Se doch soviel Natur sicher ned.“, spricht ein grauer Panther, der nebst Gattin mühelos auf seinem E-Bike vorbeigleitet. Ich lächle.

„Wie hat der jetzt erkannt, dass ich Städter bin?“, frage ich den Römer. Er zuckt mit den Schultern. Fortan mustere ich die wenigen uns entgegenkommenden oder überholenden Radfahrer und die flotten Spaziergänger. Am Ende des Spaziergangs werfe ich nur ein Wort in die Stille des Waldes: „Gore-Tex!“ Der Römer guckt mich vollkommen entgeistert an und weiß nichts mit diesem Wort anzufangen. Wie auch? Es bahnte sich den Weg vollkommen ohne Zusammenhang. „Die Lösung ist Gore-Tex! Wir tragen keine Funktionskleidung und deswegen sind wir sofort als Städter auszumachen. Wer trägt schon Daunenjacken und Parker im Wald? Wer trägt Lederstiefel und Turnschuhe? Eben! Niemand. Nur Leute aus der Stadt.“, erkläre ich dem römischen Gatten. Dieser wundert sich schon längt nicht mehr über meine Gedankengänge. „Deswegen bist du immer so verspannt! Weil du dir viel zu viele Gedanken machst. Du zerdenkst selbst den Waldspaziergang.“, stellt dieser belustigt fest. Ich ignoriere diesen Satz großzügig, weiß ich doch, dass er absolut recht hat mit seiner Aussage. „UND….“, ergänze ich hochtragend. „Wir haben keinen Fahrradanhänger als Kindewagen für Signorino. Auch das outet uns als Städter. Wir fahren…“, ich dämpfe meine Stimme. „Buggy!!“ Der Römer übergeht meine Erkenntnis und bietet dem Sohn einen Quetschie an. Nach einer Weile, er stellt sich gerade die Sitzheizung des Beifahrersitzes kuschelig warm auf die Maximal-Stufe ein, lässt er sich zu einer Aussage hinreißen: „Wir sind doch auch Städter, die im Stadtwald spazieren gehen. Ich sehe daran nichts Verwerfliches. Nächste Woche möchte ich wieder kommen. Hier ist’s echt schön.“ Ich nicke, während ich rückwärts ausparke und unser Auto bereits anfängt, nervös zu piepen, während das Auto hinter mir noch meilenweit entfernt steht. „Vielleicht sollten wir doch mal über Gore-Tex Uniformen nachdenken?“, frage ich lachend. „Anche no! [Nie im Leben!] Du wirst mich zu Lebzeiten weder in Funktionskleidung, noch in albanischer Tracht* sehen.“, bemerkt der Gatte sehr ernst. „Bei der letzten Option wäre ich mir nicht so sicher.“, grinse ich und fahre unsere Direktorenkutsche auf die Bundesstraße Richtung Stadtzentrum.

*Besonders bei albanischen Hochzeiten gibt es einen Programmpunkt, in dem die römische Familie es sehr genießt, sich in albanischer Tracht zu zeigen. Es ist der Moment, in dem der Bräutigam die Braut in ihrem Elternhaus abholt. Nur der Römer weigert sich vehement, sich in diese Tracht zu werfen. Meist sind auf Fotos dieses Ereignisses sehr viele albanische Verwandte in der typischen Tracht zu sehen und am Rand ein Herr mit Sonnenbrille und italienischem Maßanzug. Das ist mein Mann.
