Römische Missverständnisse im Café

„Ma no! Non ancora.[Aber nein! Nicht schon wieder.]“, stöhnt der Römer resigniert und starrt sein Original französisches Brioche auf dem matten Teller entsetzt an. Der mit Hagelzucker gesüßte Hefebrocken starrt mürrisch zurück. „Jedesmal passiert mir das. Es will einfach nicht in meinen Kopf gehen!“, erklärt er mir verzweifelt und schmachtet dabei mit großen Augen mein Pain au Chocolate an. Verständnisvoll nicke ich und beiße von meinem süßen Blätterteigteilchen ab. Als sein Blick immer sehnsüchtiger wird, gebe ich ungefragt nach. „Hier, bitte schön.“, sage ich, wische mir die Blätterteigkrümel aus dem Mundwinkel und schiebe ihm das beinahe intakte Süßgebäck hinüber. Er lächelt selig und kaut zufrieden unter lauter „Aber das wäre doch nicht nötig gewesen“-Beteuerungen mein Pain au Chocolate, nur um mir dann den traurigen Hefeklumpen an meine Seite des Tisches zu schieben.

Pain au Chocolate – alles besser als der Hefekloß

Blasiert starrt mich das unerwünschte Gebäckstück des Römers an. Während ich auf den flinken Kellner warte, zupfe ich ein, zwei Hagelzucker-Körner von der glatten Oberfläche. „Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mir etwas Marmelade zum Brioche bringen?“, frage ich den an mir vorbeiflitzenden Kellner. „Sehr gerne, Madame. Kommt sofort.“, spricht dieser am Vorübergehen.

Als der Römer sein, nein, mein Gebäck beinahe vertilgt hat, kommt er ins Sinnieren: „Warum kann man in Italien eigentlich ein ‚Brioche‘ bestellen und bekommt ein süßes Croissant und in Frankreich und Deutschland bekomme ich einfach nur einen spärlich gesüßten Hefekloß?“, will der Römer von mir wissen und guckt mich so durchdringend an als würde sich die Antwort auf diese Frage schon irgendwo in meinem Kopf auftun, würde man mich nur ausdauernd genug anstarren. Dabei weiß ich es auch nicht. Ich zucke mit den Schultern und murmle ein „Boh. [ital. umgangssprachlich für „non lo so“ – ich weiß es nicht]. Dann streiche ich etwas Aprikosen-Marmelade, die der Kellner mittlerweile auf unseren Tisch gestellt hat, auf meinen Hefekloß. Doch mein Gatte will sich mit dieser Antwort nicht zufrieden geben. Er will es, mal wieder, ganz genau wissen. „Vielleicht liegt die Wurzel des Problems in der Vergangenheit? Lo imagino così [Ich stelle mir das so vor:]Ein Italiener reiste nach Frankreich, war ganz begeistert von den süßen Croissants und vergaß bei all dem Genuss den korrekten Namen. So teilte er seinen Verwandten, Freunden und Bekannten in seiner Heimatstadt mit, dass dieses exquisite Gebäck „Brioche“ heißt. Die gesamte Verwandtschaft tüfteltean einem Rezept, um die Brioches kulinarisch zu rezitieren und es gelang ihnen: Eine etwas süßere Variante des Croissants entstand. Weil es Nonna Vincenza noch nicht süß genug war, nahm sie die Bratenspritze und garnierte es mit ihrer soeben eingekochten Aprikosemarmelade. Und eccolo – das war die Geburtsstunde des italienischen Brioches!“, fantasiert der Römer sich diese Geschichte zusammen. Ganz unmöglich erscheint mir diese Fabel nicht und so stimme ich ihm zu. Ja, so muss es gewesen sein, damals, in Italien. Beinahe angekommen am letzten Bissen des französischen Brioches, wittere ich meine Chance als italbanische Integrationskraft – auch im ganz eigenen Interesse: Ich muss ihm das korrekte Wort beibringen, damit wir bei zukünftigen Café-Besuchen das Hefekloß-Debakel umgehen können. „Beim nächsten Mal würde ich dir raten, einfach ein Croissant zu bestellen. Damit bist du immer auf der richtigen Seite.“, schlage ich – ganz selbstlos – vor. Der Römer guckt mich fragend an. Ja, das könne er machen, sagt er. Alleine aus jahrzehntelanger Gewohnheit will ihm dieses Wort nicht über die Lippen kommen. Ob es denn kein deutsches Pendant für dieses französische Wort geben würden. Ich dachte nach: „Das deutsche Wort…Wie war das noch gleich?“.

Zwei Croissants oder Kipferl oder Hörnchen

Dazu muss ich sagen, dass ich bin in Bayern aufgewachsen bin und sich damit gewisse, sprachliche Eigenheiten in meinem Wortschatz befinden. So dauerte es Jahre in Hessen bis ich die passenden Pendants für die Wörter „Wäscheklupperl“ [Wäscheklammern] und „Tragl“ [Getränkekisten] aktiv anwenden konnte. „Kipferl ist sicher das falsche Wort.“, beginne ich meine Überlegung. „Vielleicht sagt man dazu Hörnchen?!“

Ich lasse die Frage im Raum stehen. Nein, so genau wusste ich es auch nicht. Der Römer murmelt die beiden Wörter vor sich hin. Bei seiner Aussprache der beiden Wörter („Kipfl“ und „Ohrn-chen“) war ich mir nicht ganz sicher, ob nicht doch wieder ein Hefekloß auf seinem Teller landen würde – aus purem Unverständnis und vielleicht auch aus Mitleid. Drei, vier Mal üben wir die korrekte Aussprache, bis das „Ohrn-chen“ ein „Örnchen“ und das „Kipfl“ ein „Kipfal“ wurde. Der Römer strahlt stolz.

„Dann bestelle ich einfach zukünftig ein Vanillekipferl.“, spricht der Römer voller Inbrunst. „Das werden die hier auch verstehen. Ein Kipferl mit Vanillecreme.“ Ich musste lachen, weil ich mir vorstellte, wie ein einziges, mickriges Vanillekipferl-Plätzchen auf seinem Teller landet. Kurz überlege ich, ob ich auch dieses Missverständnis ausbügeln soll, aber ich mag Vanillekipferl deutlich lieber als Hefeklumpen und so rate ich ihm Folgendes: „Dann bestell mindestens zwei Vanillekipferl. Glaub mir, von einem Vanillekipferl wirst du nicht satt.“

Vanillekipferl – auch so ein Missverständnis, das wir in nächster Zeit klären sollten.

Die Eis-Heiligen

“Come mai fa così freddo? [Warum ist es so eiskalt?]”, fragt der Mann mit einer erstaunlichen Ahnungslosigkeit. Er fragt es in etwa so, als ob er den Monat Mai der letzten sieben Jahre in Deutschland einfach übersprungen hat. Mit großen, verständnislosen Augen und auffallend ausgeprägter Gänsehaut steht er fröstelnd in seinem Polohemd vor mir und reibt sich theatralisch die Arme. “Na ja… das liegt vermutlich an den Eisheiligen!”, antworte ich und werfe einen warmen Woll-Cardigan über mein T-Shirt. “I santi dei gelati! [Die Heiligen der Eiscremes!] San Cioccolato, Santa Fragola e oppure San Pictacchio di Bronte! [Der heilige Schokoladeneis, die heilige Erdbeereis und natürlich der heilige Pistazieneis aus Bronte.] Nur das Wetter spielt nicht mit.”, lacht der Römer und denkt, dass ICH ihn auf die Schippe nehme.

San Cioccolato di Roma

“Nein, die heißen wirklich so. Eisheilige! Aber eher im Sinne von ghiaccio, Eis – nicht im Sinne von gelato, Speiseeis.”, schmunzle ich und ziehe mir sicherheitshalber die Leichtdaune über den Wollcardigan. “E’ come si chiamano, ’sti santi? [Und wie heißen sie nun, diese Heiligen?]”, will der Römer nun belustigt von mir wissen. Kurz bin ich versucht, mich seinem vorherigen Beispiel anzuschließen und den “Heiligen Zitrone-Basilikum”, sowie die „Heilige Sanddorn-Pfirsich” aufzuzählen, aber schließlich besinne ich mich auf meine auferlegte Rolle als germano-italbanische Integrationshelferin: “Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und die kalte Sophie!” Zugegeben, ganz aus dem Gedächtnis konnte ich sie nicht wiedergeben und musste eine Suchmaschine nach den genauen Namen der Eisheiligen fragen “Quindi, a causa di loro fa freddo a maggio? [Also ist es wegen ihnen so kalt im Mai?]”, stochert der Gatte weiter bei mir nach. “Das ist so eine Frage wie <<War das Huhn zuerst da oder doch das Ei?>>. Ob sie nun der Grund sind oder es im Mai schon immer in unseren Breitengraden kalt war, kann ich dir nicht genau beantworten. Aber so oder so – die Lederjacke kannst du zurück hängen. Es hat 9 Grad.”, kläre ich meinen römischen Gatten auf. “No, no, non ti preoccupare.[Nein, nein, keine Sorge.] Ich habe bereits einen Blick aus dem Fenster gewagt und alle laufen mit kurzen Hosen und im T-Shirt herum.”, beschwichtigt mich der Römer. Ich lächle mild, schüttle den Kopf, nehme ihm die Lederjacke ab, suche aus der Garderobe einen dünnen Schal und seine Leichtdaunenjacke heraus und drücke sie ihm sanftmütig in die Hand. Zur Sicherheit bitte ich ihn, mir in Richtung Balkon zu folgen.

Von innen gucken wir nach draußen. Ein Feigenbaum steht draußen. Daneben ein Rosmarin und ein Thymian. “Fällt dir etwas auf?”, frage ich ganz direkt. Der Römer denkt nach. „Gli uccelli… [Die Vögel…] die machen immer von der Balkonbrüstung auf unseren Balkon. Das sieht echt nicht gut aus. Sollten wir mal putzen.“, setzt er an. „Neeeein! Nicht das.“, motze ich etwas pikiert zurück. „Denk mal an dich und deine Lederjacke.“ Nach einer kurzen Weile fällt der Groschen bei ihm. All die winterharten Pflanzen stehen fröstelnd auf dem Balkon, aber die südländischen Gewächse, wie z. B. die gelben Tomaten, starren mit uns vom Inneren der Wohnung nach draußen. Sie haben Glück und stehen im warmen Schlafzimmer. “Siehst du! Deswegen konntest du vom Fenster aus viele, winterharte Deutsche in kurzen Hosen und T-Shirts beobachten. Du aber bist ein südländisches Gewächs und ziehst dir bitte eine ordentliche Jacke an. Einer Tomate reicht im Mai eben keine Lederjacke. Sie braucht eine Leichtdaune – und einen Schal!”, erkläre ich dem Römer.

Die Tomaten sind noch deutlich kleiner als letztes Jahr und stehen im Warmen.

Endlich zieht das südländische Gewächs seine warmen Sachen an. “E se inizio di sudare? [Und wenn ich anfange zu schwitzen?]”, fragt er sicherheitshalber nochmal nach. “Dann ziehst du etwas aus. Das nennt man “Zwiebellook”.”, helfe ich ihm weiter. “Eine Zwiebel ist aber in der Regel winterhart.”, versucht der Römer nochmal einzuhaken. “Ja, aber nur, weil sie genug Schichten anhat. Sonst wäre das auch nicht der Fall.”

Zufriedensbrücke

„Non sapevo… [Ich wusste das nicht…]“, murmelt der Römer während er auf dem Beifahrersitz thront. Nachdenklich blickt er aus dem Fenster und lässt seinen Blick über den Main gleiten, den wir gerade mit dem Auto überqueren.

„Was denn?“, frage ich höchstkonzentriert, weil ich gleichzeitig auf die Instruktionen des Navis warte, wo genau ich nach der Brücke abbiegen soll.

„Die Brücke heißt Zufriedensbrücke.“, spricht er immer noch verwundert und guckt forschend aus dem Autofenster. Da wir gerade an einer Ampel zum Stehen kommen, blicke ich ihn fragend an.

Ausblick auf die Skyline – die (Zu-)Friedensbrücke liegt etwas weiter westlich (links).

„Wie kommst du denn darauf?“, will ich von ihm wissen. „Na, das Navi hat es so gesagt: Si chiama Zufriedensbrücke. [Sie heißt Zufriedensbrücke.]“ Ich denke kurz darüber nach, mustere die Anzeige des Navis, verschiebe die angezeigte Karte etwas mit den Fingern und dann fällt der Groschen. Laut und schallend lache ich.

„Nein, nein. Das Navi sagte: >>Abbiegen zuR Friedensbrücke<< Nicht Zufriendensbrücke!“, kläre ich das Missverständnis auf. Auch der Römer gackert jetzt lauthals los. „Ich habe mich schon gewundert, dass Deutsche eine Brücke „Zufriedensbrücke“ nennen. Mi sembrava strano. [Mir erschien das komisch.].“

„Die Deutschen sind selten zufrieden,. Nichts läge ihnen ferner, eine Brücke so zu benennen. Frieden? Ja, gerne. Zufrieden? Ne, irgendetwas ist ja immer.“, gebe ich grinsend zurück. „Aber es wäre ein Anfang…“, meint der Römer und er hat gar nicht so unrecht.

Übersetzen? Kann ich!

Das vorletzte Wochenende war seltsam entspannend. Beinahe entspannender als der Urlaub, wenn Sie mich fragen. Hingegen war das vergangene Wochenende angespannt, anstrengend, nervig, was alleine an meinem Drang liegt, auf jeder Hochzeit gleichzeitig tanzen zu wollen.

Alles begann am letzten Mittwoch, als mich ein mir bekanntes Marktforschungsinstitut kontaktierte. Bereits in der Vergangenheit habe ich für dieses in unregelmäßigen Abständen gearbeitet. Joachim, der dort arbeitet, fragte per E-Mail, ob ich denn zufällig Zeit hätte zwischen einem und fünfzehn Interviews vom Italienischen ins Deutsche zu übersetzen. Ich solle ihn am besten telefonisch kontaktieren. Tatsächlich hatte ich Zeit und fand die Idee verlockend, ein paar extra Taler zu verdienen. So rief ich Joachim an und wir besprachen die Details. Wie viele eineinhalbstündige, auf Italienisch geführte und von mir sinngemäß auf Deutsch übersetzte Interviews ich in einen eigens dafür konzipierten Fragebogen eintragen könne, wollte er von mir wissen. „Ein bis zwei vielleicht?“, war meine zaghafte Antwort, die Joachim nicht gerade glücklich machte. „Guck, ich habe hier 15 Interviews und spreche kein Wort Italienisch. Wären denn vielleicht drei Interviews möglich?“, wollte Joachim von mir wissen und klang dabei gelinde gesagt etwas verzweifelt. Ich dachte kurz über das Arbeitspensum meines Haupterwerbs. „Wird schon irgendwie gehen.“, dachte ich und sagte kurzerhand zu. Er war zufrieden und schickte mir eine E-Mail mit weiteren Details, Passwörtern und Links, wobei er nicht unerwähnt ließ, dass er sich auch über ein viertes, von mir bearbeitetes Interview freuen würde. Zwei Tage später, am Freitagabend, würden die ersten Interviews, die in Mailand stattfänden, online abrufbar sein, stand im Schlusssatz der E-Mail. Ich schielte auf meinen Terminkalender und hakte das freie Wochenende ab.

Freitag, 21 Uhr. Joachim schrieb eine E-Mail, dass der Startschuss gefallen sei. Blöderweise zeigte Signorino keinerlei Verständnis für den gefallenen Startschuss und weigerte sich vehement ins Bett gebracht zu werden. Auch Papa, der ihn ins Bett bringen sollte, wurde zwar als notwendiges Übel betrachtet, war jedoch keine Alternative zu mir, seiner Mutter. Gerne dürfe Papa im Kinderzimmer als hübsches Beiwerk bleiben, jedoch gebührte nur mir die Hauptrolle der Einschlafbegleitung. Da Signorino bei meiner Abwesenheit wie am Spieß schrie und sich nicht mehr beruhigen ließ, konnte ich weder das Interview anhören, noch mich konzentrieren. So blieb mir nur übrig, mich nervös neben den Ableger zu legen und die Sekunden zu zählen. Mir rann die Zeit sprichwörtlich durch die Finger, denn ich wollte endlich anfangen zu arbeiten. Nicht, weil ich mir nichts schöneres für einen Freitagabend vorstellen konnte als zu übersetzen, nein, vielmehr, weil mir schwante, mich restlos übernommen zu haben. Ein erster Überblick über das zu bewältigende Arbeitspensum sollte mir Ruhe verschaffen, dachte ich.

Freitag, 22 Uhr. Signorino ist endlich eingeschlafen. Ich startete den Laptop, machte mich mit dem Material vertraut und fühlte mich als würde ich alleine im offenen, tiefschwarzen Meer paddeln. „Ja, keine Ahnung.“, murmelte ich immerzu als ich das Material durchlas. Dann hörte ich mir den Anfang der ersten, italienischen Tonaufnahme an. Ein Mailänder näselte sich durchs Interview, das ein, der Stimme nach, älterer Herr mit ihm führte. Der Mailänder war mir unsympathisch, der Interviewer dagegen sehr sympathisch. Aber darum ging es in meiner Arbeit nicht, denn meine einzige Aufgabe bestand darin, die wichtigen Details aus dem Meer an Informationen herauszufischen und auf Deutsch in die richtige Spalte zu schreiben.

Recht schnell verstand ich, dass die beiden in einem Auto-Showroom irgendwo in Mailand standen und herausgefunden werden sollte, wie das Auto des Typus XY vom Mailänder bewertet wurde.

Verstehen Sie mich richtig, meine Italienischkenntnisse kann man als durchaus solide bezeichnen. Dabei sind meine Sprachkenntnisse vermutlich von der eher ruppigeren Sorte, denn schließlich perfektionierte ich mein Italienisch mit dem Römer und das römische Italienisch kann man durchaus als unflätig bezeichnen. Dabei reichen meine Sprachkenntnisse aus, um das tägliche Leben mit meinem Mann zu bestreiten, wobei ich mittlerweile dazu übergangen bin, Italo-Germanisch zu reden. Dabei vermischen sich deutsche und italienische Wörter zu einem einzigen Sprachbrei, der zumindest für uns Sinn ergibt. Ja, ich würde mich soweit aus dem Fenster lehnen, um zu behaupten, dass ich meinen Mann meistens verstehe – und er mich auch.

Doch leider ging es in diesem Interview mit dem näselnden Mailänder nicht darum, ein Alltagsgespräch zu verstehen. Vielmehr wollte eine Automarke Infos darüber haben, wie ihr neuer Prototyp denn nun bei der Zielgruppe ankäme und ich sollte das Bindeglied in der Kette aus Verbraucher und Hersteller sein, das die Information aufbereitet. Sehr zu meinem Missfallen ist mein italienisches Auto-Vokabular so gut wie nicht vorhanden, was mir bereits nach einigen, wenigen Sätzen zwischen dem Mailänder und dem Interviewenden auffiel.

Blöderweise fiel mir dabei auch noch ein in der Vergangenheit liegendes Streitgespräch zwischen dem Römer und mir ein. Wir saßen dabei im Auto, ich fuhr und der Gatte erklärte mir irgendetwas am Auto – und das im dichten Straßenverkehr Frankfurts und auf Italienisch. Da ich ihn absolut nicht verstand und mir sein immer eindringlicher werdendes, italienisches Autovokabular gewaltig auf die Nerven ging, war ich froh unsere Einfahrt hochzurollen. Dort beendete ich unser Gespräch mit einem hitzigen „Es heißt in Frankfurt nicht ‚volante‘, sondern Lenkrad.“. Daraufhin stieg der Römer wutentbrannt aus, knallte mit der Autotür des gerade eben abgestellten Autos und stiefelte fuchsteufelswild in die Wohnung. Alleine diese Szene zeigt doch sehr eindrucksvoll, dass ich in keinster Weise daran interessiert war, mein italienisches Vokabular um die Kategorie „Auto und seine Bestandteile“ zu erweitern. Doch der Teufel ist ein Eichhörnchen.

Ja, diesmal hatte ich keine Wahl und verzweifelte in den ersten Minuten. Unangenehm berührt trabte ich zum Römer. Ob er mir helfen könne, wollte ich wissen. Er guckte mich mit seinen stahlblauen Augen an. „Es geht um italienische Autoteile und davon verstehe ich nichts.“ Er verschränkte seine Arme und grinste diabolisch. Auch er schien sich an den Auto-Streit erinnern zu können. „Ich habe es dir immer gesagt, dass es besser ist, die italienischen Begriffe zumindest verstehen zu können. Aber du hast dich damals mit Händen und Füßen gewehrt. Also, ich für meinen Teil kenne die Teile mittlerweile auf beiden Sprachen. Aber sag, wie heißt nochmal „Lenkrad“ auf Italienisch?“

1:0 für den Römer.

Doch ich holte auf. „Volante.“, antwortete ich nüchtern.

1:1. Ausgleich.

„Ah, dann weißt du ja schon alles. Wozu brauchst du dann meine Hilfe?“, wollte der Römer süffisant grinsend von mir wissen.

2:1 für den Römer.

Ich schwieg. Solange, bis er ein Einsehen hatte und mit mir zum Laptop ging. Gemeinsam hörten wir uns den ersten Teil des italienischen Marktforschungsinterviews an. „Ma che?! [Aber was?!] Der Mailänder tut beinahe so, als wären alle deutschen Autos nüchtern und langweilig.“, kommentierte der Römer das Interview, in dem der Mailänder im Showroom auf seine Lieblingsmodelle deuten sollte. Natürlich entschied er sich für ein Italienisches. „Hm… aber warum mag er das deutsche Auto nicht? Wegen den „prese d‘aria“?“, versuchte ich den Römer aus der Reserve zu locken. „Esatto [Genau.]. Genau deswegen gefällt ihm das italienische Auto besser. Aber wenn du mich fragst, hat er überhaupt keine Ahnung von Geschmack.“, gab der Römer zurück. Ich hielt das aufgezeichnete Interview für einen Moment an: „Entschuldige, aber was sind überhaupt „prese d‘aria“?“, hakte ich beim Römer nach. „Lüftungsschlitze.“, antwortet er in lupenreinem Deutsch. Mein Gott, der Mann hatte damals wirklich recht als er mir das italienische Autovokabular aufdrücken wollte. Doch das behielt ich für mich.

Indessen mauserten wir uns durch den ersten Fragebogen bis ich beinahe mit allen Begriffen vertraut war. Als ich mich fest im Sattel meiner Übersetzertätigkeit sah, bedankte ich mich beim Römer für seine Hilfe und entließ ihn aus seinem Dienst als Chefübersetzer. „Immer gerne.“, antwortete dieser und lächelte milde. Dann drehte er sich noch einmal um und flötete: „Soweit ich mich erinnere, hast du aber auch ein Bilderwörterbuch aus deiner Zeit in Bergamo, das alle Autoteile erklärt. Damit habe ICH die deutschen Begriffe nach unserem Streit im Auto gelernt.“

3:1 für den Römer. Er hat haushoch gewonnen.

Hier ein Auszug aus einem Italienisch-Englischen Wörterbuch

Oh Mann! Grinsend setzte er sich auf die Couch und vertiefte sich in ein Buch. „Das sagst du jetzt?!“, antwortete ich vollkommen perplex, sprang auf und suchte das Buch in unserem Bücherregal. „Die Sprachen sind rechts unten.“, flötete er und amüsierte sich köstlich. „Ja, ja. Weiß ich schon.“, gab ich knapp zurück und wusste es doch nicht. Woher auch? Ich schlage meistens mithilfe einer simplen App die wenigen, noch unklaren Wörter nach. „Ah, da ist es ja.“, rief ich freudig und der Römer mahnte zur Ruhe, weil Signorino schlief und das auch so bleiben sollte. Rasch blätterte ich das bebilderte Wörterbuch auf, glitt an den Seiten mit der menschlichen Anatomie vorbei, ließ auch den Teil über Flora und Fauna, sowie die Bestandteile einer Fabrik hinter mir und fand schließlich den Sektor „Automobile“. „Ah, ‚un monovolume‘ ist also ein Family-Van und kein antikes Auto-Radio.“, stellte ich überrascht und gleichzeitig interessiert fest. Der Römer guckte mich entgeistert an. „Bist du sicher, dass du die Übersetzungen alleine machen willst?“, wollte er von mir wissen. „Na, klar. Das schaffe ich doch mit links.“, gab ich zurück und blickte in das amüsiert-schockierte, römische Antlitz. „Dai, forza! Danach schaue ich vielleicht nochmal über den Fragebogen.“, erwähnte er ganz beiläufig. „Okay!“, willigte ich ein, um kurz danach herauszufinden, dass „minigonne“ so gar nichts mit den mir bekannten Miniröcken zu tun hatten. Vielmehr handelte es sich hier um Einstiegsbleche. die unter den Autotüren angebracht werden. Ja, es ist schon wahr, was man sagt: Man lernt wirklich nie aus!

Einkommensnachweis

Das Verfahren, den Römer zum Germanen zu machen, läuft seit Oktober 2020. Wann immer sich das dafür zuständige Regierungspräsidium bei uns meldet, ist der Gatte schon flattrig im Hausflur. Noch im Lift reißt er den amtsgrauen Umschlag auf und sobald er die Türe aufgesperrt hat, ruft er bereits im Wohnungsflur „Amore, quelli del passaporto mi hanno mandato una lettera.“ [Schatz, die vom Pass(amt) haben mir einen Brief geschickt.]

Nach meiner obligatorischen Frage, was in dem Brief stehen würde, kommt das ebenso obligatorische Schulterzucken. „Beamtendeutsch.“, antwortet der Römer resigniert und drückt mir den Brief in die Hand. Sogleich setze ich mich hin und lese mir den Brief durch.

Doch es geht immer nur um eines: Mehr Unterlagen. Diese sollen gerne vorbeglaubigt, ganz beglaubigt, übersetzt, apostilliert, gestempelt, unterschrieben, vom Notar eigenhändig verpackt, zugeklebt, beschriftet und auf einer weißen Stute, die nicht älter als 5,4 Jahre alt ist bei Vollmond überbracht werden.

Am Ende des ersten Briefes stand der Zusatz:

„Bitte legen Sie einen aktuellen, beglaubigten Einkommensnachweis bei. Auch den Ihrer Ehefrau.“

Das taten wir natürlich. Die Monate verstrichen. Alle Unterlagen waren wie vorgegeben eingereicht. Ein neuer Brief flatterte ins Haus. Selbe Szene. Das Regierungspräsidium habe die Unterlagen geprüft und sie würden die Unterlagen nun zu allen relevanten, staatlichen Instanzen weiterleiten. Am Ende des Briefes wurde noch vermerkt:

„Bitte legen Sie einen aktuellen, beglaubigten Einkommensnachweis bei. Zu unserer Entlastung schicken wir Ihre zuletzt eingereichten Einkommensnachweise zurück.“

Wir machten einen Termin im Bürgeramt aus, ließen erneut Einkommensnachweise beglaubigen und schickten sie nach Darmstadt. Die Zeit verstrich. Ein neuer Brief des Regierungspräsidiums erreichte uns nach Monaten. Dieser teilte uns mit, dass der Römer einen germanischen Pass bekommen könne, solange sein Herkunftsland ihn aus der jetzigen Staatsbürgerschaft entlassen würde. Am Ende stand der obligatorische Satz:

„Bitte legen Sie zu den geforderten Dokumenten einen aktuellen, beglaubigten Einkommensnachweis bei. Zu unserer Entlastung schicken wir Ihre eingereichten Einkommensnachweise zurück.“

„Ma che cavollo! [Aber was für ein Unding!] Wie viele denn noch?“, wollte der Mann von mir wissen. Ich zuckte mit den Schultern. „Ist halt so.“, sprach ich. Was soll ich mich auch aufregen? So sind die Regeln für Passanwärter in diesem Land.

“Produziert in Albanien.” kann eben auch manchmal eine Bürde sein.

Ein paar Tage verstrichen. Mein Mann schrieb mir eine Nachricht und schickte mir ein Foto der wöchentliche Einkaufsliste weiter. Er fragte, ob ich nach der Arbeit einkaufen gehen könne.

Ich schrieb zurück: „Nach ausführlicher Prüfung der Einkaufsliste, bitte ich um einen aktuellen Einkommensnachweis. Den Einkaufszettel der letzten Woche schicke ich Ihnen zu meiner Entlastung zurück.“

„Non fa ridere.“ [Das ist nicht lustig.], antwortet der Mann trocken.

Ja, wer den Schaden hat, braucht für den Spott wahrlich nicht zu sorgen.

Killing him softly – ein Abenteuerbericht

[Teil 1 finden Sie hier]

Die Überraschung folgte für den Römer am Dienstagmorgen um 5 Uhr. “Mi viene a vomitare. [Mir ist übel.]”, raunte der Gatte in die Dunkelheit, sprintete aus dem Schlafzimmer, schloss auf dem Weg zum Bad noch eben die Kinderzimmer-Tür (man will das Kind schließlich nicht wecken), eilte in das zu klein geratene Bad und erbrach sich.

Ausgerechnet er, der mir am Tag zuvor noch erzählte, dass er sich nie und nimmer, oder falls doch, nur in aller größter Not erbrechen würde. So gesehen letztmalig im Jahr 2016 in Albanien, als er Steindatteln aß. Eine Delikatesse aus dem Mittelmeer, die ihm eine ordentliche Muschelvergiftung bescherte. Doch dieses längst vergangene Erlebnis hielt ihn nicht davon ab, seinen Monolog fortzusetzen: Wir, dann zeigte er auf Signorino und mich, hätten ja einen äußerst schwachen Magen. In unserem aalglatten Industriestaat wäre gar kein Platz für Viren und Bakterien, die der Körper kennenlernen könne. Aber im Süden hätte sein Körper schon alles gesehen. A-L-L-E-S. Seine ausladenden Gesten unterstrichen seinen Monolog, den er mit dem Satz beendete, dass er alles vertilgen könne, ohne auch nur Aufzustoßen. „Bis auf Steindatteln…“, murmelte ich sehr leise und grinste in mich hinein.

Derweil interessierte sich die Magen-Darm-Grippe herzlich wenig für sein Geschwätz vom Vortag. Vielmehr vertikutierte sie den Römer mit einer solchen Inbrunst, dass jegliche Lebenskraft aus ihm herausgeschleudert wurde. Um 05:30 Uhr stolperte er kraftlos und kaltschweißig zurück ins Schlafzimmer. Ich blinzelte ihm entgegen. Er hielt mir sein Mobiltelefon vor die müde Nase. „Kannst du meinen Kolleg*innen bitte schreiben, dass ich heute nicht komme? Ich habe all meine Deutschkenntnisse soeben in der Toilette versenkt.“, erklärte er mir auf Italienisch. „Das kann ja dann nicht so viel gewesen sein.“, dachte ich, verbot mir jedoch jeden laut geäußerten Galgenhumor. Dem Gatten ging es wirklich miserabel. Somit setzte ich mir als liebende und fürsorgliche Ehefrau meine Brille auf, tippte eine schmissige Nachricht, so schmissig man eben um 5:30 Uhr morgens sein kann, und las sie dem Römer vor. Fälschlicherweise interpretierte der Römer die Situation so, dass wir gleich noch eine Lektion „Deutsch – Wortschatzerweiterung“ besprechen sollten: „Che vuol dire ‚Mich hat’s erwischt?‘ [Was bedeutet ‚Mich hat’s erwischt?‘]“, fragte er gequält. Ich übersetzte es behelfsmäßig mit „Non stai bene. [Dir geht’s nicht gut.].“ „Aha.“, sprach er. Ich las ihm die restliche Textnachricht vor. „Che vuol dire „Über der Kloschüssel hängen? [Was bedeutet „Über der Kloschüssel hängen?“]“, wollte er nun wissen. „Non stai bene. [Dir geht’s nicht gut.]“, übersetzte ich wieder. „Und warum schreibst du das dann zwei Mal?“, wollte er von mir wissen. „Amore, es ist 5:30 Uhr morgens. Deine Kolleginnen und Kollegen werden die Nachricht schon verstehen. Details können wir gerne morgen klären. Gute Nacht!“, beendete ich den Vokabeltest. „Gute Nacht!“, sprach der Römer. Ich drehte mich um und versuchte wieder in den Schlaf zu finden. Als mir das beinahe gelang, sprach der Römer in die Dunkelheit. „Ma io adesso sto bene [Aber jetzt geht es mir gut.]. Was meinst du? War es falsch mich sofort krank zu melden? Ich habe nun wirklich nichts mehr im Magen, was ich noch ausspucken könnte.“, erörterte der Römer mir seinen Gedankengang. „Anfängerfehler.“, dachte ich und murmelte im Halbschlaf: „Warte doch erstmal ab. Normalerweise ist es mit ein Mal Erbrechen nicht getan.“ Der Römer versuchte mir nun verständlich zu machen, dass er sich schon viel fitter fühlte und sich jetzt ärgerte, dass er sich krank gemeldet hatte.

Einmal so optimistisch in die Zukunft zu blicken wie der Römer, das wäre mein Lebensziel. Aber vermutlich komme ich dort nie an.

Ob der Römer eine Zweitwohnung in der Nähe hat?

„Pazienza! [Geduld!]“, grummelte ich und guckte auf die Uhr. 6:10 Uhr. Nur zehn Minuten nach unserem Gespräch lief der Römer wieder aus dem Schlafzimmer. Ich hörte ihn erbrechen. „Siehste! Sag‘ ich doch.“, dachte ich noch, schielte wieder auf die Uhr und mir wurde bewusst, dass ich in einer Stunde aufstehen muss. Ich klopfte leise an die Badezimmertür. Zwischen zwei Kötzerchen teilte ich dem Römer mit, dass ich auf die Couch umziehen werde, um noch etwas Schlaf zu erhaschen. Sollte er etwas brauchen, könne er es gerne jetzt sagen, auch ein Laut würde mir genügen, oder aber ins Wohnzimmer kommen. Er spuckte wieder, ächzte aus dem letzten Loch und sagte dann, dass er momentan nichts brauche. Ich zog ins Wohnzimmer um. Dann beschloss ich, angesichts der Tatsache, dass auch Signorino nicht wirklich fit war, dass wir alle daheim bleiben würden. Ich meldete mich in der Arbeit krank und versuchte einzuschlafen. Das gelang mir nicht wirklich, weil das Wohnzimmer zur langsam erwachenden Allee lag, wo fleißig Schüler*innen und Eltern vorbeirollten und trollten, laut schnatternd und sich anscheinend auf den Tag freuend. Ich seufzte und schlürfte zum Römer.

Wie ein überfahrener Kaugummi lag er auf dem Bett und atmete gequält. Ich fragte, ob ich kurz auf Toilette könne oder er zu tun habe. Es sei nicht dringend. „Vai!Vai! [Geh ruhig!]“, ermutigte mich der Römer. Als ich in das schmale Zimmer eintrag, lag feinsäuberlich ein flauschiges Handtuch auf dem eiskalten Fliesenboden. Der Gatte macht es sich anscheinend gerne gemütlich, wenn er sich schon in einer so prekären Situation befindet. Oder aber, er bediente sich einem alten germanischen Brauch, der meist im Ausland praktiziert wird: Das Reservieren eines Ortes, gerne nah an einem Gewässer, und oftmals in Form einer Sonnenliege in einer großen Ferienanlage, um der Rekreation von Körper und Geist zu dienen. Wer sein Handtuch als erstes in den frühen Morgenstunden auf die vom Sonnenlicht verblichene Liege klatschte, hatte den ganzen Tag den besten Platz am Pool sicher. Dieser Lokus war also reserviert. Ich beeilte mich, schnell wieder davon zu kommen. Nicht, dass der Besitzer des Handtuchs mich noch bei der Hotelleitung melden würde. Als ich fertig war, breitete ich das kuschelige Handtuch wieder so aus, wie ich es vorgefunden hatte.

Wenig später, der Römer verschwand zwischenzeitlich wieder im Bad, erklärte mir der Gatte, dass es eine selten dämliche Idee war, dieses Seelachsfilet am vorherigen Abend zu vertilgen. Denn während er über der Kloschüssel hing, der Fisch sich den Verdauungs-Ganges Richtung Himalaya nach oben arbeitete, wurde ihm gleich doppelt schlecht beim Geruch des verdauten Fisches. Vielleicht hätte ich ihm konsequenterweise Hákarl, isländischen Gammelhai, anbieten sollen, versehen mit dem Hinweis, dass das ein erprobtes, skandinavisches Hausmittel bei Übelkeit sei. Schließlich wollte er mich noch am Vortag davon überzeugen, dass mir ein Seelachsfilet wieder zu neuen Kräften verhelfen würde. Doch so gemein konnte ich nicht sein, denn woher sollte ich in Frankfurt auf die Schnelle einen Gammelhai herbekommen? So hielt ich den Mund und streichelte dem Römer mitfühlend über den Rücken.

Lange konnte der Römer hingegen nicht den Mund halten. Vielmehr benutzte er ihn, um zum Frühstück Zwieback und Tee zu inhalieren. “Zu schnell, zu viel. Das wird nicht gut getan.”, sprach ich in die Knusper- und Schlürfgeräusche des Römers. “Man muss doch wenigstens versuchen, dass man wieder zu Kräften kommt.”, unterwies mich der Gatte. “Almeno provarlo!! [Wenigstens versuchen!!]”, sagte er mit Nachdruck. Nun, sein Versuch endete, Sie ahnen es, im kleinsten Zimmer der Wohnung, auf dem Lokus, der tatsächlich so klein ist, dass sie nicht bei geschlossener Tür über der Kloschüssel hängen können. So kann die ganze Familie diesem riesen Spektakel beiwohnen. Immerhin, man kann stehend nicht umfallen, sollte man widererwartend ohnmächtig werden. Das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Signorino meldet sich aus dem Kinderzimmer. Er war wach, gut gelaunt und sein erstes, morgendliches Wort war „Schoko-Ku[chen]?“. Es ging ihm bestens. Ich bereitete, sehr zu seinem Verdruss, keinen Schokokuchen, sondern Haferbrei vor. Immerhin färbte ich ihn mit etwas Kakaopulver schokoladig dunkel. Man tut als Mutter eben was man kann.

Um 09:15 Uhr klingelte das Telefon. Es rief die Signorino’sche Erzieherin an. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Kind noch nicht als fehlend gemeldet. Es war per se nicht krank, aber auch nicht topfit. Eben wie die Mutter. Doch sie hatte gar nicht im Sinn, mich zurechtzuweisen, dass das Kind nicht krankgemeldet wurde. Vermutlich lag das daran, dass die Abwesenheitsmeldequote (was für ein Wort!) bei 50-60% der Eltern liegt. Die restlichen bleiben stumm wie die Fische und sagen eben nicht Bescheid, dass das Kind nicht zur Kita kommt. Alles kann, nichts muss. Man kennt es ja. Sie rief an, um mir mitzuteilen, dass man heute und morgen einen Mangel an Vollzeitkräften habe. Alle seien krank. Woran sie erkrankt waren, konnte ich mir in den lebhaftesten Farben ausmalen. Man würde deswegen nur eine beschränkte Öffnungszeit der eh schon eingeschränkten Corona-Öffnungszeit anbieten können. Sie hoffe, dass mir das keine Probleme bereiten würde. „Ach woher!“, winkte ich ab. Was ist schon eine zerbrochene Teetasse inmitten eines Erdbebens, Stufe 8? Die Erzieherin bedankte sich für mein Verständnis. Ich bedankte mich für ihre Disponibilität und hoffte, dass sich der Rest der Erzieherinnen wacker halten würden. Denn wenn die Öffnungszeiten der Kindertagesstätte noch weiter eingeschränkt werden würden, könnte ich ebenso gut vor der Kita warten, bis ich den jungen Mann eine halbe Stunde später wieder einsammeln und mit nach Hause nehmen konnte.

Das Kind verbrachte den Vormittag mit für ihn (und vermutlich alle lebhaften 2jährigen) völlig untypischesm auf der Couch/auf dem Teppich/auf der Rutsche Liegen. Das Köpflein und der Oberkörper schienen so schwer, dass oft nur noch die Beine standen. Der Rest lehnte irgendwo dagegen. So verbrachten wir den Vormittag lesend und ab und an Cartoons guckend. Das Kind war zufrieden, aß und trank gut, und ließ sich ausgiebig bekuscheln, was ein eher rares Event in unserem Haus darstellt. Ab und an erhob Signorino seinen schlappen Körper und wollte Papa besuchen. Er tapste ins Schlafzimmer, fand einen fahlen Römer im Bett vor, bei dessen Anblick mir wieder der Gammelhai in den Sinn kam, so elend sah er aus und versuchte den ältesten Wohnungsbewohner mit Legos aus der Reserve zu locken. Immer mal wieder öffnete der vor sich hin siechende Römer ein Auge und murmelte im Halbschlaf „Si, si, papà è qui. [Ja, ja, Papa ist hier.]“. Dann fielen ihm die schweren Augenlider wieder zu und er schnarchte ein bisschen. Das ließ Signorino nicht gelten. Entfernen lassen wollte er sich auf keinen Fall. Wo kämen wir denn da hin? Er erklärte dem Römer „PapaLegoJa!“ und dieser öffnete wieder mühselig ein Augenlid. Irgendwann wurde es Signorino zu bunt. Er rief den Partynotstand aus. Ja, Sie lesen richtig. Aus dem nichts rief das Kind „Party! Party!“ und nahm die römische Hand, die aus dem Bett ragte. „Pscht! Signorino! Papa will schlafen.“, flüsterte ich und versuchte das Kind aus dem Schlafzimmer zu zerren. Doch er blieb beharrlich stehen und klammerte sich am Bett fest. „Party! Party!“, rief das südländische Partymodell wieder. Der Römer öffnete wieder ein Auge. „Su! [Hoch!]“, sprach der Sohn nun in seinem feinsten Italienisch. Er wollte ins Bett gehoben werden. „Komm, Signorino, wir müssen jetzt gehen. Papa geht’s nicht gut.“, sprach ich nun etwas vehementer. Das Kind wurde ernst. „Nooh! Nooh! [Nein! Nein!]“, sprach es empört und sehr Deutsch akzentuiert mit langem O aus. Su [Hoch] wolle er, aber dalli. Der Römer hob ihn ins Bett. Und so setzte sich unser Nachwuchs neben den Römer, eine Hand in den dunklen Locken seines Papas, die andere auf seinen Kleinkinder-Oberschenkeln ruhend. Er bewachte den maladen Papa und hatte nicht vor zu gehen.

An Mambo Mambo Mambo war trotz Partyausruf nicht zu denken.

So ging ich in die Küche, kochte Kamillentee für den Mann, stöpselte eine Warmflasche zusammen und brachte ihm beides. Den Tee stellte ich unerreichbar für Signorino auf dem Fensterbrett ab. Dann kochte ich für Signorino etwas zu Mittag. Erst als ich mit einem dampfenden Teller Nudeln ums Eck kam, verließ der Sohn seinen angestammten Platz. Er aß einen halben Teller, gähnte und bekam ganz kleine Augen. Ich brachte ihn ins Bett.

Nach anderthalb Stunden wachte Signorino wieder auf. Ich hatte dem Gatten gerade Salzbrezeln ohne Salz gebracht. Signorino lief schnurstracks ins Schlafzimmer, entdeckte die Salzbrezeln und aß sie, während er seinen Vater musterte. Als er die kleine Schüssel vertilgt hat, kletterte er ins Bett und setzte sich neben den komatösen Vater. Wieder lag seine kleine Hand in den dichten, dunklen Wellen des Mannes. Er grinste. „Papa ‚putt? [Ist der Papa kaputt?]“, wollte er nun wissen. Ich nickte. „Richtig kaputt.“, antwortete ich dem Kind. Er streichelte Papa nochmals durch die dunklen Haare, holte sein liebstes „Stofftier“, den Kinderstaubsauger, und legte ihn neben Papas Kopf. Hoffentlich dachte der Mann nicht, dass ich ihm den Staubsauger dort hin legte, als nette Erinnerung. Doch der Gatte verschlief den ganzen Tag. Erbrechen musste er nicht mehr. Die nächsten, beiden Tage war er sehr wackelig unterwegs, aber schlussendlich erholte er sich wieder. Doch von uns dreien traf es den Gatten definitiv am schlimmsten.

Fazit: Anscheinend kannte sein südländischer Körper alle Viren und Bakterien, außer dieses Magen-Darm-Virus der aalglatten Industrienation. 😉

Killing me softly – Ein Abenteuerbericht

Momentan komme ich nicht wirklich zum Schreiben auf meinem Blog. Zu sehr hinke ich in der Uni nach. Zu sehr belüge ich mich selbst, dass eine Teilzeitstelle, 85% der Kindererziehung und ein Studium „total gut“ unter einen Hut zu bringen sind. Es ist als würde man krampfhaft versuchen, viel zu viele Jonglierkeulen gleichzeitig in der Luft zu halten. Ständig droht eine abzustürzen, man hechtet zu ihr, rettet sie, aber dann kommen zwei andere Jonglierkeulen, die kurz davor sind mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden zu knallen.

Doch darum soll es heute nicht gehen. Viel mehr geht es heute um meine Notizen des Monats Februar. Das Kind brachte uns ein Geschenk in Form einer Magen-Darm-Grippe mit nach Hause. Wie wir das überlebten, schildere ich Ihnen hier. Doch seien Sie gewarnt: Ein Magen-Darm-Infekt ist nichts für eine blühende Fantasie und einen schwachen Magen:

Aufbügel-Bild auf meinem Pulli. Bildlich dargestellt, was ich über diese Magen-Darm-Grippe denke.

Es scheint ein eisernes Naturgesetz zu sein, dass Mütter die Krankheit ihres Kindes einige Tage später durchleben müssen, um beurteilen zu können wie schlimm es wirklich für den Nachwuchs war. Im Verkauf würde man vermutlich sagen „Nur wer das Produkt, oder in unserem Fall die Krankheit, gut kennt, kann es überzeugend verkaufen.“ Der Römer und ich, da bin ich mir sicher, könnten Ihnen die Krankheit perfekt verkaufen, so viel „Produkterfahrung“ konnten wir sammeln. 😉

Am Sonntag um 8 Uhr fing es an. Mir war speiübel. Ich wankte ins Bad, ging auf Toilette, wankte wieder zurück ins Bett und wartete darauf einzuschlafen, aber die Übelkeit hatte dermaßen die Überhand gewonnen, dass es mir unmöglich war, in den wohlverdienten Schlaf zurückzufinden. Um 09:00 Uhr tapste das Kind ins Elternzimmer, wobei es an diesem Wochenende Elter-Zimmer heißen müsste, denn der Römer war in Albanien, um seine Familie zu besuchen. Signorino gebot mir, dass er zu frühstücken wünsche. Ich folgte ihm und wir frühstückten zusammen, wobei er mit großer Begeisterung drei Scheiben Nusskuchen verdrückte und ich an meinem Kamillentee nippte. Der Tee brachte nicht den gewünschten Effekt, denn die Übelkeit wurde schlimmer und schlimmer. Ich legte mich auf die Couch, machte den Fernseher für das Kind an und hoffte, dass die Übelkeit gleich vorbei sein würde und wir normal in den Tag starten könnten.

Signorino interessierte sich überhaupt nicht für den Fernseher. Stattdessen animierte er mich zum Lego spielen. Ich setzte mich schwerfällig auf den Boden, nahm zwei Lego-Steine in die Hand, zog einen roten Plastikeimer zu mir heran und erbrach den kompletten Kamillentee hemmungslos. Das Kind guckte mich mit weit aufgerissenen Augen panisch an und krisch aus voller Lunge, als es mich in seinen roten Sandkasteneimer würgen und erbrechen sah. Ich versuchte ihn zu beruhigen, aufzublicken, zu lächeln, „Mama geht’s gut, Schatz.“ zu sagen, doch Sie kennen es vielleicht: Ein Kötzerchen bleibt nie alleine. Man hat mehrmals das Vergnügen. Das Kind schrie immer lauter, immer aufgeregter. Ich tat mein Möglichstes ihn zwischen meinem Erbrechen zu beruhigen, doch er war so panisch und ich so beschäftigt, meinen Mageninhalt loszuwerden, dass meine beschwichtigenden Worte im roten Sandkasten-Eimer verhallten. “Hoffentlich war’s das jetzt.”, dachte ich, als mein Magen wirklich alles losgeworden war, was ihm scheinbar auf der Magenschleimhaut brannte. Aber mein Verdauungsorgan hatte anderes im Sinn.

Es war 10 Uhr Vormittags. Um 16:20 Uhr sollte der Flug des Mannes in Frankfurt landen. Mit einer flotten Einreise würde er nicht vor 17 Uhr daheim sein. Noch sieben Stunden. Mein eh schon flauer Magen wurde noch flauer. Uff! Durchatmen. Wir schaffen das.

Ich informierte den Mann via Messenger-Dienst über meinen Zustand. Er las die Nachricht und antwortete nicht. Jetzt war mir nicht nur schlecht, ich war wütend und wusste nicht wie ich den Tag überleben sollte. Ausruhen und halb tot vor dem Fernseher liegen war dank Signorino keine Option. “Danke für deine lieben Nachrichten!!!!”, schrieb ich dem Mann 30 Minuten später. Jedes einzelne Ausrufezeichen hinter dem Text gab dem Mann einen Hinweis darauf, in welcher Eskalationsstufe meiner Wut ich mich gerade befand. Diesmal war es Stufe 4 von 5. Postwendend antwortete der Römer. “Scusa, amore [Entschuldige, Liebling!]! Uns wäre fast ein LKW aufs Auto geknallt, aber Ibrahim reagierte blitzschnell. Zum Glück ist nichts passiert. Aber das geschah genau zu dem Zeitpunkt, als ich deine Nachricht las. Danach war ich so geschockt, dass ich alles vergaß.” Mich wunderte das gar nicht. Also, dass ein LKW ungebremst auf Ibrahims Kutsche knallen wollte. Wer den Verkehr in Albanien kennt, der wundert sich allenfalls um die niedrige Unfallquote. “Mir geht’s wirklich dreckig.”, schrieb ich dem Mann. Er versprach so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, könne aber den Flugplan der Airline auch nicht beeinflussen. Ich schickte ihm einen grünen Übelkeitssmiley als Antwort. Die Situation war zum Kotzen. Das empfand auch mein Magen so.

Ich legte das Handy beiseite und erbrach wieder. Mehrmals. Das Kind weinte und schrie, wollte mir den Eimer entreißen und schlug mit der flachen Hand fest auf meinen Rücken. Oh Mann! Was für eine erbärmliche Situation. Ich beruhigte den vor Panik schreienden Signorino, nahm ihn in den Arm und erklärte ihm, dass es Mama nicht so gut gehe, aber die Situation unter Kontrolle sei. Letzteres war gelogen. Nichts war unter Kontrolle. Wir guckten seit zwei Stunden Peppa Wutz und ich spuckte mir die Seele aus dem Leib.

Um 12:30 Uhr verdonnerte ich das Kind zum Mittagschlaf. Eine andere Lösung, um die Zeit bis zur Ankunft des Römers zu überbrücken, sah ich nicht. Zum Glück schlief Signorino schnell ein. Ich auch, so erschöpft war ich. Doch nach zwanzig Minuten erwachte ich wieder, da über uns, wie jeden Sonntagmittag (!), eine Singparty unter Freunden stattfand. Unsere grandiosen Nachbarn Nina und Tobi (mit Baby) hielten und halten „Singen mit Freunden an einem Sonntag“ für ein Grundrecht. Sollen die Nachbarn sich doch einfach an ihren schiefen Lagerfeuertönen erfreuen. Das Kind schlief, toi, toi, toi, weiter. Ich ging in unser Schlafzimmer, spuckte auf dem Weg dorthin wieder, steckte das Babyphone ein und legte mich hin. Sofort schlief ich ein. Dann hämmerten Nina und Tobi. Sie hämmerten einen Nagel in die Wand. Oder mehrere. Auf alle Fälle war ich zu kraftlos gegen die Wand zu schlagen. Ich ertrug es. Und nahm mir vor, sobald ich wieder fit sei, ihnen klar zu machen, dass ich sonntags keinen Mucks hören will, der über Zimmerlautstärke hinausgeht, sonst schalte ich die Hausverwaltung ein. Vermutlich würde ich es netter ausdrücken, aber in dem Moment, gefangen in meinem Elend, spürte ich genau das.

Das Kind erwachte nach zwei Stunden Mittagschlaf. Normalerweise weckte ich Signorino früher, denn abends geht er sonst nicht ins Bett, aber ich war um jede freie Minute dankbar. Ich hob ihn aus dem Bett. Eine Seite seiner Hose war bräunlich. Vermutlich das geschmolzene Schokoladen-Eis, das ich ihm vorhin gab, um ihn zu beruhigen und zu beschäftigten. Nun ja. Wie sich nur einige Augenblicke später herausstellte hatte das Kind Durchfall. “Oh Mann! Oh Mann!”, würde das Kind jetzt sagen. Und „Oh Mann! Oh Mann!“ war die Situation tatsächlich. Unter Würgen wechselte ich die Windel, den braun-feuchten Body, wusch das Kind mit einem Waschlappen, zog es an und erbrach mich abermals. Das Kind krisch, Sie ahnen es, ich bemühte mich, es zu beruhigen, aber es beruhigte sich erst wieder, als ich mir den Mund ausspülte und auf allen Vieren auf das Sofa kroch.

Zwanzig Minuten später hörte ich ein Geräusch als würde jemand eine halbvolle Ketchup-Tube ausdrücken. Es war Signorino. Er guckte verwundert und grinste dann. „Oh Nein! Bitte nicht schon wieder.“, dachte ich an unsere Windelwechsel-Aktion von eben zurück. In meiner geistigen Umnachtung machte ich den Fehler, ihn hinzulegen und so verteilte sich die Masse bis zum Hals. Wortwörtlich. Ich fluchte, würgte, wechselte, wischte und rieb das Kind mit einem frischen Waschlappen ab. Dann bezog ich das Kind neu. Neuer Body, neues Oberteil, neue Hose, neue Socken. Alles neu! Am liebsten hätte ich seine alten Klamotten verbrannt, doch ich warf sie bei 95 Grad in die Waschmaschine.

Turtle, die an diesem Tag zu den Spät-Aufstehern gehörte, bot sich an, vorbeizukommen. Allerdings musste sie erst einen Corona-Test machen, denn, so waren die Regeln im Februar, sonst dürfe sie nicht Bahn fahren . Ich war besorgt, dass sie unseren Magen-Darm-Infekt als Gastgeschenk mitnahm, sollte sie uns besuchen.

Ich guckte auf die Uhr: Es war 12:30 Uhr. Das Flugzeug Richtung Albanien hatte bereits in Frankfurt abgehoben, um den Römer in einigen Stunden einsammeln zu können. Ich bedankte mich bei Turtle für Ihre Hilfe und erklärte ihr, dass ich Angst hätte, dass sie ebenfalls das Magen-Darm-Virus bekäme. Sie wollte sich nicht abbringen lassen von ihrem Besuch. Ich insistierte. Nach einiger Zeit willigte sie ein, dass sie daheim bleiben würde.

Ich wankte ins Bad. Leider musste ich auf dem Klo thronend abermals würgen. Ein Glück ist die Toilette so klein, dass man bequem ins Waschbecken spucken konnte, während man auf dem Lokus sitzt. Genau zu dieser Zeit tapste Signorino vorbei, erblickte seine würgende, auf der Toilette sitzende Mutter mit heruntergelassener Hose und schrie wie am Spieß. Wer kann es ihm verdenken? Das sind vermutlich Bilder, die man nur schwerlich vergisst. Er wollte mich sofort von der Toilette wegziehen, was wahrlich keine schlaue Idee war. Ich klammerte mich mit einer Hand an der Kloschüssel fest, mit der anderen Hand versuchte ich den panischen Signorino auf Abstand zu halten und dazwischen ging ich meinem Bedürfnis zu Erbrechen nach. Das Kind wurde immer panischer, je länger der Vorgang dauerte. Er war vollkommen durch den Wind. Nach jedem Schwall beruhigte ich den kleinen Mann. „Alles gut, Liebling. Mama geht’s nur nicht so gut heute. Keine Sorge.“ Meine Sätze beruhigten weder ihn, noch mich. Erst als ich mich nassgeschwitzt und wacklig – Erbrechen ist echt anstrengend – vom WC erhob, beruhigte sich Signorino langsam, zitterte aber dennoch wie Espenlaub. Er schniefte noch eine ganze Weile und hielt meine Hand fest umklammert, so als ob ich jeden Moment zu Staub zerfallen würde. Mir tat das alles furchtbar Leid. Mit aller Kraft versuchte ich fortan meinen Brechreiz zu unterdrücken, damit das Kind beruhigt sein würde. Wie ein zertretener Kaugummi lag ich auf dem Sofa, während das Kind fernschaute. Schamerfüllt muss ich zugeben, dass es das an diesem Tag seit Stunden tat. Ich fühlte mich unglaublich mies. Innerlich wie äußerlich. Ich war ein Wrack.

Die Zeit verging irgendwie. Ich weiß bis heute nicht, wie dieses „irgendwie“ aussah, denn alles lag in einem dichten Nebel.

„Was soll man machen?“, fragte ich mich nicht nur ein Mal…

Um 17:02 Uhr hörte ich Schritte im Hausflur. Sie eilten zu unserer Wohnungstür. Ich betete, dass es mein ausgeflogener, und eben wieder eingeflogener Gatte war und ja, immerhin diesmal wurden meine Gebete erhört. Der Römer marschierte im Stechschritt in die Wohnung. Signorino flippte aus vor Freude und warf sich in die römischen Arme. Alles, was für mich zählte, war nur noch der Überlebenswille, so dass jeglicher Kontrollzwang in weiter Ferne war. Unter normalen Umständen hätte ich gerufen: „Bitte wasch dir erst die Hände nach so einer Reise. Wer weiß, was du alles angefasst hast!“. Doch so jammerte ich nur ein „Endlich bist du da! Ich dachte, die Zeit vergeht nie!!“. Ich schlürfte an Vater und Sohn vorbei, den roten Kindereimer unter meinen Arm geklemmt, und legte mich ins Bett. Sofort nickte ich ein. Signorino wollte das so aber nicht gelten lassen und kam ins Schlafzimmer. Er stand neben meinem Kopf, legte seinen Kopf nur wenige Millimeter neben meinem Kopf ab und erzählte etwas. Ich streichelte seinen Blondschopf, empfahl ihm, ins Bett zu krabbeln und lächelte ihn müde an. Schnell wie der Blitz kletterte er über den Sessel ins Bett und setzte sich neben meinen Kopf. Dann begann er zu singen. Erst „Zum Geburtstag viel Glück“, dann seine ganz eigene Version des „ABCs“, um dann die richtigen Gassenhauer wie „Tschu Tschu Wa“ und „Certe Notti“ rauszuhauen. Mein Kopf dröhnte, mir war übel, aber es war ein schöner Gedanke seinerseits, mein Elend musikalisch auflockern zu wollen. „Signorino, vieni qua![Signorino, komm her!]“, rief der Römer und erklärte dem Sohn, dass ich schlafen müsse. Das war der Sigorino’schen One-Man-Coverband aber ganz egal. Er blieb sitzen und sang aus voller Brust weiter. Mittlerweile ging er zu den langsameren Nummern wie „La Le Lu“ und „Nina Na Na Nina Nu“ über, denn er merkte, dass ich die fetzigeren Lieder nicht so wertschätzen konnte wie das ein guter Sänger von seinem Publikum erwarten würde. Nach einiger Zeit gelang es dem Römer, Signorino aus dem Schlafzimmer zu locken. Vermutlich hat er dem kleinen Kerl mindestens einen „Igel“ [Schoko-Riegel] versprechen müssen, damit er seine angestammte Position auf der Bühne, neben meinem Kopf, verließ.

Dreißig Minuten später kam das Kind wieder bei mir im Schlafzimmer vorbei. An Schlafen war somit nicht zu denken. Ich schleppte mich gebeugt ins Wohnzimmer, platzierte mich wie der sterbende Schwan auf der Couch, bat den Römer um eine Schüssel (für Notfälle) und lag dort, als würde ich den Tod, bereits hinter dem Vorhang stehend, erahnen können. Alles war mir zu laut, zu hell und zu viel. Der Römer bot mir an, Pasta in Bianco zu kochen. Eine furchtbar liebe Geste, aber Nudeln in Öl und Parmesan ertränkt, waren das letzte, was mein Magen aufnehmen wollte. Denn generell wollte mein Magen gar nichts aufnehmen. Weder Wasser, noch Zwieback, noch Salzstangen. Er wollte sich primär erst einmal beruhigen. Das erklärte ich dem Römer, der meinte, ich solle einfach in kleinen Schlucken trinken und in kleinen Bissen essen. Ich würgte bei dem Gedanken, musste aber nicht spucken. Dennoch: Ich blieb bei der Null-Diät.

Als Signorino ins Bett ging, zwang der Römer mich wenigstens ein Nanogramm eines Zwiebacks zu essen. Ich knabberte daran wie ein traumatisiertes Kaninchen. Nach 1,5 Stunden hatte ich ein Viertel des Zwiebacks weggeknabbert und legte ihn zur Seite. Kraftlos schleppte ich mich ins Bett. Es wird schon werden, dachte ich noch. Dann schlief ich ein.

Um 01:30 Uhr wachte ich auf. Ich ging ins Wohnzimmer. Mein Gang war immer noch gebeugt, aber etwas agiler als noch vor einigen Stunden. Mein Magen knurrte. „Komm mir jetzt bloß nicht so.“, feixte ich mein labiles Verdauungsorgan an. Ich knabberte an einem Zwieback. Draußen tobte ein Sturm. Dann trank ich in kleinen Schlucken Wasser. Er blieb drin. Nach einer Stunde ging ich zurück ins Bett. Mein Körper tat mir vom Kopf bis zum Rücken immer noch sehr weg.

Um 07:30 Uhr meldete sich der römische Wecker. Ich machte Tee, Kaffee für den Römer und bereitete ein Marmeladenbrot für Signorino vor. Dann weckten wir das Kind. Wie immer war Signorino „not amused“. Er frühstückte, wir zogen ihn an, die männlichen Farnientes verließen das Haus und dann geschah etwas, dass mir seit zwei Jahren nicht mehr passiert ist. Ich legte mich ins Bett und schlief einfach so ein. An einem Montagvormittag. Es ist nicht so, als hätte ich nie die Gelegenheit gehabt, dies auszuprobieren. Doch normalerweise lag ich mit weit aufgerissenen Augen im Bett und konnte doch nicht wieder einschlafen, aber diesmal nickte ich einfach weg.

Um 12:30 Uhr erwachte ich wieder. Es fühlte sich surreal an, so spät aufzustehen. Ich war fit. Nicht topfit, aber fit. Der Römer brachte gegen 16:00 Uhr den Nachwuchs nach Hause und ich aß eine Haferflockensuppe.

Natürlich war ich noch auf Schonkost. Man will ja nicht gleich übertreiben. Abends bot mir der Römer ein Stück Seelachsfilet zu meinen trockenen Reis an. Ich winkte unter größter, akut auftretender Übelkeit ab. Aber ein Fischfilet sei doch etwas exquisites, versuchte er mir den ollen Fisch schmackhaft zu machen. Es muss wohl in der Familie liegen, dass man Personen, die gerade eine Magendarm-Grippe überstehen, gerne einen Fisch vorsetzt. Zuletzt tat das nämlich der römische Schwager am Ohrid-See, als sich mein Mageninhalt in den weiten der albanischen Steppe ergoss und er ein vorzügliches Fischrestaurant im Hinterland anfuhr. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Römer unterbrach meine Gedanken an das Fischrestaurant am Ohrid-See. „Ich bin nur froh, dass ich diesmal verschont geblieben bin von eurer Magen-Darm-Grippe.“, stellte er, seinen Fisch kauend, fest. Er sollte sich arg täuschen….

[Fortsetzung folgt]

Sonntage mit römischem Husky

Sonntage mit römischem Husky

Sonntage sind herausfordernd. Das liegt hauptsächlich an einer gewissen kulturellen, oder, wenn Sie es etwas enger fassen wollen, persönlichen Diskrepanz zwischen dem Römer und mir.

Für mich zeichnen sich Sonntage dadurch aus, dass sie langsam anrollen. Ähnlich eines sanften, karibischen Meeresrauschen nähern sich die flachen Wellen und ziehen sich langsam, fast unbemerkt, wieder zurück, bevor sie gemächlich wieder anrollen und versuchen, den feinsandigen Strand empor zu krabbeln. Allein ihnen fehlt die Kraft. So wie mir. Denn nichts muss, alles kann an diesem Ruhetag. Doch können möchte ich an diesem Tag so gut wie nichts. Vermutlich deswegen besteht meine Garderobe an Sonntagen aus weichen, unförmigen, seltsam verwaschenen Stoffbahnen, die meinen trägen Körper sanft umspielen. Eben so wie die Wellen der Karibik den Strand umspülen. Nichts engt ein, nichts wird mit Reißverschlüssen, Haken und Knöpfen an Stellen gehalten, die mein Körper aus eigenem Antrieb gar nicht erreichen könnte. Ganz im Gegenteil! Ein paar elastische Nähte, ein Stoffband, das meine Jogginghose daran hindert von meiner Hüfte zu rutschen und ein Paar beige Kuschelsocken, die dank der 4% Elasthan nicht einschneiden und sich gleichzeitig nicht von alleine abstreifen. Auch mein Haaransatz muss sich an diesem Tag seinem Schicksal fügen. Bevor die frühen Abendstunden anbrechen, muss er eben schauen, wie er mit der nicht weniger werdenden Talgproduktion zurecht kommt. Danach erlöse ich ihn gerne mit einer sanften Dusche, die mich in eine Wolke aus Mandelduft und Vanille einlullt.

Aber ganz im Vertrauen: Meiner Meinung nach, sind Sonntage Tage, die die Bademantel- und Pyjama-Lobby erfunden hat. Da bin ich mir recht sicher! Loungewear-Tage, wenn sie das neue Wort benutzen möchten, das kurz vor der Corona-Pandemie werbeträchtig herausgestampft wurde. Und ja, Loungewear klingt soviel eleganter als „Schlabber- und Gammellook“. Ich loungeweare mich also durch den Morgen, lese etwas, stöbere in Ihren Blogs und meinen Entwürfen. Dann schlappe ich in die Küche, wobei Sie das verwendete Verb schlappen wortwörtlich nehmen dürfen. Meine Kuschelsocken-Füße stecken in furchtbar unansehnlichen Schlappen. Ausgeblichenes Pistaziengrün mit weißen Schneeflocken. Urgemütlich, aber, wie beschrieben, auch verboten hässlich. Dazu liegen im Tiefkühlfach bereits die Aufback-Croissants bereit und warten seit dem Wocheneinkauf auf ihren Einsatz. Ich platziere sie auf einem Backblech und schiebe sie in den Ofen. Danach rühre ich im Topf etwas Milch mit Haferflocken zusammen und erhitze den Brei, so dass sich der Kleinste der Familie gleich über sein „Potschi“ (Porridge) freuen kann. Währenddessen setze ich das Teewasser auf. Der Haferbrei wirft träge Blasen, die ebenso träge wieder verschwinden. Mein Blick schweift aus dem Küchenfenster zum Frankfurter Messeturm, der heute gar nicht erst versucht dem hiesigen Hochnebel zu trotzen. Wozu auch? Es ist Sonntag. Keiner wird ihn heute vermissen.

Geräusche nähern sich. Der Römer quatscht mit Signorino, der wiederum etwas nölig antwortet. Es wirkt fast so als würde er nach mir kommen und sich erst langsam in den Sonntag hineinfühlen wollen. Doch dem Römer scheint das egal zu sein. All die unausgesprochenen Worte, die sich im Schlaf scheinbar angestaut haben, will er jetzt, an diesem Sonntagmorgen mit aufgeregten Erzählungen, Spiel und Spaß loswerden als ginge es um sein Leben. Als das Farniente’sche Duo in der Küche ankommt, interpretiere ich eine gewisse Genervtheit in den Signorino’schen Blick hinein. Die Geste, seine Arme hilfesuchend nach mir ausstreckend, untermauert meine Vermutung. Ich nehme ihn auf den Arm. Müde lehnt er seinen Kopf an meinen Hals und betrachtet den Brei, der immer noch gemächlich Blasen wirft. „Che mangiamo? [Was essen wir?]“, durchbricht der Römer diesen innigen Moment zwischen Signorino, dem Haferbrei und mir. Bevor ich überhaupt eine Antwort zu formulieren vermag, hat er die Croissants im Backofen entdeckt und informiert mich ausgiebig darüber, wie schade es ist, dass wir in Deutschland noch keinen Lieferanten für italienische Brioche gefunden haben. Ich nicke und hoffe, dass dieser Redeschwall sich nicht durch den ganzen Sonntag zieht. Kurz denke ich über Noise-Cancelling-Kopfhörer nach, die vermutlich eigens für Morgenmuffel wie mich erfunden worden sind. Doch dann verwerfe ich den Gedanken wieder. Der römische Gatte würde es wohl falsch auffassen und beleidigt sein, wenn wir ihm mit Kopfhörern begegnen würden. Aber was versteht schon ein Morgenmensch von den Bedürfnissen zweier Morgenmuffel?

Irgendetwas sucht der Gatte jetzt. Dazu raschelt und klirrt er in einer Tour. Bei seinen Monologen, die er voller Energie in diesen frühen Sonntagmorgen spricht, gleitet er mühelos von dem Thema Frühstückscroissants zu dem französischen Präsidenten Macron, bis hin zu dem neu eröffneten französischen Café ums Eck, das seiner Meinung nach ausgezeichnete Macarons haben muss, um schließlich darüber zu referieren, dass jetzt die hässlichste Phase des Winters gekommen ist, denn schließlich sind die warmweißen Weihnachtslichter in den Fenstern und in der Stadt bereits verschwunden. Geblieben ist nur noch eine matschbraune Pampe, durch die wir morgens zur S-Bahn stiefeln, Streusplitt und seelenlose Fenster, die stumm auf unsere Allee starren.

Mein Gehirn, das wahrlich noch nicht aufnahmebereit ist, kreiert einen ebenso matschbraunen Sprachbrei aus all seinen Worten, Annahmen und Informationen. Am Ende wundere ich mich, dass der französische Präsident in unserer Nähe ein Café aufgemacht hat und dort matschbraune Macarons und Streusplitt aus seelenlosen Fenstern verkauft. Es wirkt wie ein Albtraum, aus dem man schnell erwachen möchte. „Mein Italienisch ist wohl doch nicht so gut wie ich dachte.“, rede ich mir ein. Signorino haut sich indessen mit der flachen Hand gegen den Kopf und sagt „Au!Au!“. Ja, dieser Wortschwall macht auch in meinem Kopf „Au!Au!“. Leise flüstere ich „Signorino, nicht schlagen! Das tut doch weh.“. Er grinst und fragt nach „Potschi ?[Porridge?]“. Ich fülle es behutsam auf einen Teller und verteile es mit dem Kinderlöffel so, dass es schnell abkühlt und sich der Nachwuchs nicht daran verbrennt. Der Römer ist derweil schon wieder irgendwo in der Wohnung unterwegs, räumt etwas um oder auf, redet dabei mit sich oder mit uns (so genau kann ich das nicht deuten) und verkörpert das Image eines laut plappernden, temperamentvollen und fröhlichen Italieners am Hafen von Ostia. Jede deutsche Marketingagentur würde sich einen solchen Werbeträger für eine italienische Dolce-Vita-Kampagne sehnlichst wünschen. Nur leider sind Signorino und ich keine Marketingagentur und wenn, dann würden wir heute Früh nur gemächliche Ayurveda-Reisen bewerben.

Langsam schlürfe ich zum Esstisch und stelle den Haferbrei ab. Signorino klettert auf seinen Stuhl. Dann setzt er sich plumpsend. Während ich pustend etwas nachhelfe, dass der Haferbrei erkaltet, schlägt unvermittelt die römische Sonntagsfrage in unser Szenario ein. „Quando usciamo? [Wann gehen wir raus?]“, will der Römer wissen und betrachtet uns erwartungsvoll, ähnlich eines sibirischen Huskys, der endlich, endlich vor die Tür will. Ich seufze leise in mich hinein. Signorino spuckt das Porridge aus. Jeden Sonntag die gleiche Frage im Hause Farniente. Es verwundert, dass ihm noch keine Husky’sche Sichelrute gewachsen ist, die er freudig wedelnd hin- und herwerfen kann. Ja, so ein Römer braucht eben Action, Lebensfreude und Bewegung. Aber das sagt einem auch keiner vorher. Das schlimmste daran ist aber, dass wir ihm all das nicht bieten können. Es ist Sonntagmorgen. Wir sind Stubenhocker und leben dies exzessiv an diesem Wochentag aus. Meine Gedanken schweifen ab – in die Vergangenheit. Ich erinnere mich an unsere ersten, gemeinsamen Sonntage vor Jahren in Rom. „Mein Gott, war ich belastbar.“, denke ich noch und sehe die Szenen in vollem Umfang vor meinem geistigen Auge:

Rom, 2015. Es ist 09:45 Uhr an einem Sonntag. Der Römer treibt zur Eile, schließlich sei das enge, römische Zeitfenster kurz davor sich zu schließen. Denn nur in diesem besagten Zeitfenster hätte man in den römischen Bars [Cafés] noch die volle Auswahl an duftenden Croissants mit verschiedenen Füllungen. Wer danach komme, den beißen die Hunde. Denn dann wären nur noch cornetti con crema pasticcera, Croissants mit einer Art Vanillecreme, vorrätig. Und wer würde diese schon freiwillig essen wollen? Nichts anderes als Ladenhüter sein diese, erklärt mir der Römer. Ich murmele ein leises „Ich mag Vanillecreme“ auf seine rhetorische Frage und will mich noch einmal im Bett umdrehen. Doch zu spät. Der Römer steht bereits mit weißem T-Shirt, dunkler Lederjacke, dunkler Sonnenbrille und perfekt gestyltem Haar vor mir. Er scheint es ernst zu meinen. Ich quäle mich aus dem Bett, werfe mir meinen Leo-Pulli über, binde die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz und springe in die verwaschene Jeans. Nein, Botticellis Venus bin ich heute wahrlich nicht. Vielmehr habe ich eine gewisse Ähnlichkeit mit Charlize Theron im Film Monster*. Nur muss ich nicht betonen, wie Charlize Theron damals in einem ihrer Presse-Interviews, dass ich für diesen abgekämpften Look stundenlang in der Maske saß. Bei mir reicht es vollkommen aus, wenn man mich unsanft aus dem Bett sprengt und beim Zähneputzen ungeduldig zur Eile antreibt. Dabei brauche ich Ihnen vermutlich nicht zu erklären, wie ich mich zwischen all diesen top gestylten, römischen Diven im Café fühlte. Immerhin, ich hatte ein cornetto integrale al miele [Vollkorncroissant mit Honig-Füllung] vor mir stehen und blinzelte in die Vormittagssonne. Doch, unter uns, ein schnelles Vanille-Croissant um 11:30 Uhr wäre für mich vollkommen ausreichend gewesen.

Die Jahre vergingen, der Römer zog nach Deutschland und so manch liebgewonnene Sitte veränderte sich. Außer die eben beschriebene. Jeden Sonntag mutierte der Römer wieder und wieder zum hechelnden Husky, der sofort und unbedingt an die frische Luft musste, um noch rechtzeitig vor 10:15 Uhr seinen ersten Cappuccino in einem Café zu trinken. Irgendwann ging ich genervt dazu über, dass ich sonntags grundsätzlich nicht daheim war. Dank meines Arbeitgebers konnte ich die Flüge so legen, dass ich – leider, leider- immer an diesem Tag arbeiten musste. Der Teufel ist ein Eichhörnchen.

Dann kam Signorino und danach das Coronavirus. Auch hier waren meinem römischen Husky die Pfoten gebunden. Langsam schlich sich sogar eine gewisse Sonntagslethargie bei ihm ein. Es war ein angenehmes, sonntägliches Miteinander. Doch dann, der Umzug im Herbst 2021 war gerade durchgestanden, knisterte und kribbelte es wieder in den römischen Synapsen. Der Husky in meinem Mann erwachte, was vermutlich auch daran lag, dass wir plötzlich unzählige Cafés in nächster Nähe zum neuen Wohnort hatten, die bereits in den frühen Morgenstunden geöffnet hatten. Noch dazu ist das italienische Lieblingscafé nun mit einem straffen 30 Minuten Marsch zu erreichen.

Signorino und ich müssen da jetzt irgendwie durch. Letzte Woche beispielsweise wurde Signorino vom Römer aus seinem Schlafsack gesprengt wie ich damals aus dem römischen Bett im Stadtteil Testaccio. Der kleine Mann nörgelte und maulte, aber es half nichts. Ich hingegen wollte noch in Ruhe ein Paar Winterstiefel für den Sohnemann kaufen. Gelassen suchte ich im Internet nach einem Rabattcode, bemerkte dann, dass ich meine Treuepunkte eintauschen konnte und konvertierte diese Punkte vollkonzentriert in einen Gutschein. Das ging dem Römer nicht schnell genug. „Quanto ti dura? [Wie lange dauert es noch?]“, wollte der Gatte wissen. „Gleich!“, antwortete ich wie ein genervter Teenager. „Sag mir doch eine Zeitangabe an.“, fuhr der Römer unruhig fort und zog dem motzenden Signorino die abgenutzten Winterschuhe an. „Keine Ahnung….15 Minuten.“, murmelte ich und gab den Gutscheincode ein. „Okay…also um 11:20 Uhr bist du fertig, kann man sagen?“, nagelte mich der Römer mit meinem flapsig dahingesagten Satz fest. „Öhm…ja…vielleicht eher 11:25 Uhr oder 11:30 Uhr?“, versuchte ich sein strenges Zeitplan-Korsette zu lockern. „Deciditi! [Entscheide dich!)“, knurrte der Römer genervt und streifte dem wehrlosen Signorino den Schlauchschal mit den roten Dinos über. „Ja… 20 Minuten so in etwa.“, antwortete ich genervt. Wenigstens an Sonntagen wollte ich mich keinem straffen Zeitplan unterwerfen. An allen anderen Tagen hatte ich keine Wahl, schließlich waren sie bestimmt von Arbeitszeiten, Kitabring- und -abholzeiten, Terminen und Fahrplänen. „Okay. Alle 11:25 [Um 11:25]. Dir bleiben noch 17 Minuten.“, erklärte mir der Römer ungeduldig und Signorino hatte bereits seine Mütze auf. Mit großen, traurigen Augen guckte mich mein Sonntagskind an. Nein, auch er hatte keine Lust. Viel lieber würde er Bausteine in einem Spielzeugtopf kochen. Ganz in Ruhe. Eben ohne, dass ihn jemand zur Eile antrieb.

Ich hastete ins Bad, band meine strähnigen Haare zu einem Dutt, schlüpfte in meinen Leo-Pulli, stolperte fast wieder rückwärts aus der Jeans, weil ich das Gleichgewicht in all der Eile verlor, deodorierte mich und streifte mir die Kuschelsocken ab, da ich damit unmöglich in meine Winterstiefel passte. „Tschüss! Vielleicht sehen wir uns nachher.“, flüsterte ich meinen wollenen Sonntagsfreunden hoffnungsvoll zu. „Solo per non perdere l’obiettivo: Ti rimangono 5 minuti. [Nur, um das Wesentliche nicht zu vergessen: Die hast noch 5 Minuten.]“, rief mir der Römer zwischendurch zu. Ich kaschierte meine Augenschatten mithilfe eines Abdeckstiftes. Als ich Richtung Flur ging, das Kind war bereits in seine Daunenjacke gepresst, hielt mir der Römer eine weiße Maske entgegen. „Hier! Nicht, dass du die Maske vergisst.“, sicherte sich der Gatte auch gegen diese Imponderabilie ab. Ich steckte sie widerwillig in meine Manteltasche. Das Kind wurde in den Buggy gehievt und versuchte, als letzten Protest, seine Mütze vom Kopf zu ziehen. Es gelang halbwegs. Dann schritt der Römer ein. Wir nahmen den Aufzug und standen um 11:32 Uhr auf der Straße. „Puh! Ganz schön kalt.“, stellte der Römer fest. Für einen Tag Anfang Januar empfand ich die Temperaturen als durchaus erträglich. Wir gingen Richtung italienisches Lieblingscafé. Ich zog die Wintermütze etwas weiter in die Stirn. Nach etwas mehr als 500 Metern bemerkte der Römer wieder, dass es „echt kalt“ sei. Ich nickte. „Sollen wir nicht lieber umdrehen?“, fragte die römische Frostbeule. Es war 11:39 Uhr. „Nein!“, maulte ich. „Aber es ist sooo kalt!“, bettelte der Römer. „Du wolltest raus und hast uns alle aus unseren gemütlichen Sonntagsuniformen herausgesprengt. Jetzt laufen wir eben zu deiner Lieblingsbar. Los!“, herrschte ich ihn genervt an. „Aber vielleicht biegen wir hier links ab und statten dem neuen, französischen Café einen Besuch ab? Das Brixia* [die römische Lieblingsbar] ist echt weit weg. 30 minuti a piedi! [30 Minuten zu Fuß!]“, schlug der Römer vor. „Oooookay.“, erbarmte ich mich und witterte meine Chance: „Aber nächsten Sonntag bleiben Signorino und ich daheim. Allerhöchstens können wir einen Nachmittagsspaziergang machen – wenn das Wetter mitspielt.“ Der Römer nickte und bibberte in seinem schwarzen Kaschmirmantel. Den dunkelgrauen Schal zog er noch ein bisschen fester um den Hals, die Mütze noch ein bisschen tiefer.

Zu unserem Glück änderten wir den Plan und gingen zum französischen Café, das fantastische Schokotörtchen vorweisen konnte. Denn wären wir zur römischen Lieblingsbar gegangen, hätte uns das Schild „Chiuso per ferie – Geschlossen wegen Urlaub“ erwartet. So ging nochmal alles gut!

In diesem Sinne: Haben Sie einen wundervollen, ruhigen Restsonntag!

*Werbung, unbezahlt und unbeauftragt

Weihnachten bei den Farnientes

Ich glaube, der weihnachtlichste Moment in diesen Festtagen war, als das Kind darauf bestand mit einer Rentier-Geschenkpapierrolle einzuschlafen. Es war der 23. Dezember und mein Plan war es, die unverpackten Geschenke abends, wenn das Kind schläft, einzupacken.

Den Plan vereitelte Signorino, in dem er die Geschenkpapierrolle fand und fortan als seinen Intimus betrachtete. Den ganzen Abend verbrachten die beiden miteinander. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass diese Freundschaft nur so lange Bestand hielt, weil die Rolle noch in ihrer dünnen Plastikfolie eingewickelt war. Das Zähneputzen fand selbstverständlich mit der Geschenkpapierrolle in der rechten Hand statt. Ein riesen Gekreische schrillte durchs Wohnzimmer als er die Rolle für den Bruchteil einer Sekunde aus der Hand legen musste, weil wir ihn in den Pyjama steckten. Man hätte meinen können, wir würden das Kind abstechen. „Nimm ihm doch jetzt die blöde Rolle weg! Ich brauche die eh gleich, weil ich die Geschenke noch einpacken muss.“, wies ich den Römer an. „Ma che? Non ci dobbiamo stressare. [Ach was! Wir müssen uns nicht stressen.] Wir nehmen sie ihm gleich weg, wenn er schläft.“, antwortete der römische Gatte. Ein guter Plan, der leider am Faktor Kind scheiterte.

Wir brachten Signorino und seine Geschenkpapierrolle ins Bett. Er lag in der Mitte, flankiert vom Römer und mir. Wenn Sie sich jetzt fragen, warum man zwei Elternteile braucht, um ein Kind ins Bett zu bringen, ist das eine überaus berechtigte Frage. Die Antwort ist eine sehr einfache. Es ist (momentan) der schnellste und effizienteste Weg, das Kind ins Bett zu bringen. Fehlt ein Elternteil, wird dieser solange von Signorino gesucht bis er sich schließlich auch ins Bett begibt. Wenn man Signorino nicht aus dem Bett oder gar aus dem Schlafzimmer entlassen will, damit er den abwesenden Elternteil suchen kann, kreischt er ebenfalls solange bis er suchen gehen darf. Deswegen dauert der Einschlafprozess 15 Minuten, wenn wir beide zusammen anwesend sind – oder 2,5 Stunden, wenn nur ein Elternteil Signorino ins Bett bringen darf. Sie können sich denken, für welchen Weg wir uns regelmäßig entscheiden.

Als Signorino langsam ins Reich der Träume glitt, streckte ich im Halbdunkeln meine Hand nach oben, darauf bedacht, den Abkömmling nicht zu wecken, aber gleichzeitig die Aufmerksamkeit des Römers zu gewinnen. Der Römer reckte seinen Kopf. Ich flüsterte „Geschenkpapierrolle!!“. Er kuschelte sich an das Kind heran, löste den kindlichen Daumen und wollte dann die restlichen Finger von der Rolle lösen, doch das Kind schrie bereits los. Mist! Der kleine Kerl hatte noch nicht richtig geschlafen. Der Römer ließ von seiner Hand und der Geschenkpapierrolle ab, um ihn dann sofort mit beruhigenden „Sssch’s“ zu besänftigen. Ein paar Mal nuckelte Signorino empört am Schnuller, um dann wieder einzuschlafen. „Nochmal?“, flüsterte ich nach 5 Minuten, in denen der Römer und ich unbeweglich wie zwei Eisblöcke neben dem Kind lagen. „Bloß nicht wecken!“ war die Devise. Der Römer schüttelte den Kopf und zeigte Richtung Tür. Wir schlichen uns aus dem Zimmer. Im Flur besprachen wir die Taktik. „Wenn die Entspannungsphase im Schlaf einsetzt, dann wird Signorino ganz von alleine von der Rolle ablassen und wir können sie mühelos und ohne Geschrei entfernen. Notfalls packst du erst morgen die Geschenke ein.“, erklärte mir der Römer seinen Plan. Ich stimmte zu. Als wir gegen Mitternacht ins Bett gingen, lag unser Sprössling mit seiner Geschenkpapierrolle im Klammergriff tief schlafend im Bett. „Und jetzt?“, flüsterte ich. „Ich schlaf doch nicht neben einer Geschenkpapierrolle?!“ Der Römer musste sich bei diesem Gedanken ein Lachen verkneifen und hielt sich den Mund zu, um das Kind nicht zu wecken. „Dai! Non ti preoccupare. [Komm schon! Mach dir keine Sorgen.] Jetzt kann man ihm die Rolle einfach wegnehmen.“ Sie ahnen es: Man konnte nicht. So schliefen wir also zu viert im Bett: Der Römer, Signorino, die Geschenkpapierrolle und ich. Wann immer sich das Kind drehte, und das tat es oft und viel, hatte man entweder einen kleinen Fuß im Bauch, eine Geschenkpapierrolle im Gesicht oder eine Hand auf dem Kopf. Irgendwann wurde es mir zu bunt. Ich quartierte mich aus. „Es wird Zeit, dass das Kind alleine schläft.“, dachte ich noch. Dann schlief ich ein.

Am nächsten Tag verbrachten Signorino und die Geschenkpapierrolle den Tag miteinander. Als die junge Freundschaft zur Mittagsschläfchenzeit immer noch nicht vorbei war, beschloss ich, die Geschenke in Geschenkpapier mit der Aufschrift „Happy Birthday!!“ zu verpacken. Anderes Papier hatte ich nicht zur Verfügung. Das Kind kann nicht lesen und in 30 Jahren werden wir bei der PowerPoint-Präsentation (oder was auch immer es dann geben wird) anlässlich seiner Hochzeit alle etwas zu lachen haben, sofern er denn überhaupt heiraten will. Nachdem alle Geschenke eingepackt waren, das Kind wieder wach und fit für die zweite Tageshälfte, verlor er, wie sollte es anders sein, sein Interesse an der Geschenkpapierrolle.

Der 24. Dezember war ansonsten recht unspektakulär. Es gab in unserer Wohnung keinerlei Weihnachtsdeko, was der mangelnden Zeit im Dezember geschuldet war. Das Kind riss seine Geschenke gegen 19 Uhr auf und wollte ansonsten gerne „Bobo Siebenschläfer*“ gucken. Der zweite Weihnachtsfeiertag plätscherte so vor sich hin. Morgens nieselte es, nachmittags schneite es, aber es war auch vollkommen egal, welches Wetter vor unseren Fenstern tobte. Wir hatten eh nicht vor, heute das Haus zu verlassen. Selbst der Knirps wollte nicht raus, trotz mehrmaligem Anbieten eines Spielplatz-Besuches. „No’malBoboJA?! [Nochmal Bobo Siebenschläfer, ja?]“, war seine Antwort. Dabei muss ich hervorheben, dass seine Satzstruktur mich stark an unseren neuen, überaus freundlichen Kebab-Dealer Cetin erinnert. „ZweiMalDönerMitAllesScharf,JA?!“, sagt Cetin, wenn die Schlange vor seinem Laden sich mal wieder um die nächste Straßenecke schlängelt. Da Cetin nicht nur überaus freundlich und schnell ist, sondern, hier lege ich mich fest, einen der besten Döner Frankfurts anbietet, ist seine Satzstruktur aufgrund des hohen Aufkommens an hungrigen Gästen oft auf das Nötigste reduziert. Er kann aber auch ganz normal sprechen, wenn nicht Horden von hungrigen Frankfurtern vor seinem Laden warten. Dennoch weiß ich nicht, ob es für uns als Eltern spricht, dass das Kind nun diese Satzstruktur aufweist. Zu unserer Verteidigung möchte ich trotzdem erwähnen: Wir hatten im Dezember echt viel zu tun und haben nur deswegen so oft bei Cetin bestellt. Immerhin sagt das Kind noch nicht „NächsteBitteHalloMeinFreundWasDarfsSein?“.

Am Abend des 25. Dezembers machten wir etwas total verrücktes: Wir buchten unseren Sommerurlaub. Das taten wir noch nie so früh, was einerseits daran lag, dass wir ein sehr unstetes Leben hatten und nicht länger als zwei Wochen im Voraus planen konnten. Andererseits lag es an der ständigen Ungewissheit, wann wir überhaupt Urlaub nehmen können, ob und wann wir einen Kitaplatz finden, ob und wann wir umziehen, usw.. Doch dieses Jahr haben wir bereits alle Unwägbarkeiten, von denen wir zum heutigen Zeitpunkt wissen können, abgeklärt. Dazu sind wir dieses Jahr umgezogen, haben eine Kita gefunden und werden unseren Urlaub rechtzeitig beantragen.

Dazu wussten wir: Die Kita schließt in den letzten zwei Augustwochen. Irgendjemand muss das Kind betreuen. Wir arbeiten beide und somit ist es klar, dass wir uns in dieser Zeit frei nehmen werden. Zuerst buchten wir fünf Nächte in Rom in dem Reihenhäuschen, dass wir 2020 kennen und lieben gelernt hatten. Dann dachten wir daran, dass wir danach den Zug nach Bari nehmen könnten und in Polignano a Mare eine Woche bei einem römischen Freund verbringen könnten. Die Züge waren noch nicht buchbar, was wenig verwunderte, denn DB Tickets* kann man auch erst drei Monate vorher buchen. Der Römer und ich redeten etwas über Albanien und über Gjiri i Lalzit, die Lalzit Bucht. etwas oberhalb von Durrës. Hier waren wir das erste und letzte Mal am Meer als ich mit Signorino schwanger war. Furchtbar langweilig, wenn man als Paar dort ist. Mit Kind sieht das aber ganz anders aus: Es gibt einen langen Strand, zwei Restaurants, drei Spielplätze, viele Kinder, ein Café, fertig. Dazu ist die Wohnanlage von langen Wohngebietsstraßen durchzogen, die zu allen heiligen Zeiten von einem Auto befahren werden. Davor und danach gehört die Straße den Kindern mit Laufrädern, Bobby Cars und Fahrrädern. „Ach, ich weiß nicht.“, stöhnte der Römer bei der Vorstellung. „Warum in den Norden schweifen, wenn wir im Süden die besten Strände des Landes haben?“ Ich bat ihn, mir noch ein Mal die Bilder von Orten wie Dhermi, Ksamil, Palasë und Himar zu zeigen. Hübsch sah es dort aus. Wir suchten nach Unterkünften. Der Haupttenor des Römers war bei jeder Unterkunft “Ma che cos’è? [Aber was ist das denn?] Das würde ich nicht mal an den Mann** meiner Schwester vermieten.“ Irgendwann, durch eine göttliche Fügung, fanden wir eine Unterkunft die dem Römer genehm war. Der Preis im August sprach aber auch für sich. Gleichzeitig glänzten die römischen Augen. „Okay, können wir machen. Dann wird aber Rom storniert. Wir sind doch nicht Graf Koks!“, erklärte ich dem Römer. „Okay, kein Problem.“, sprach der Gatte und stornierte in zwei Klicks den Besuch in Rom. „Dann nehmen wir am besten ein Taxi bis dorthin.“, schlug er vor. „Ne, ne, ne, ne, ne! Sicher nicht. Das kenne ich schon. Vergiss es!“, insistierte ich blitzschnell. „Ma perché no? [Aber warum nicht?]“, wollte der Römer wissen. Ich hatte meine innere Kontra-Liste schon seit 2019 fertig in meiner virtuellen Albanien-Schublade und feuerte ein Argument nach dem anderen ab: „1. Mir ist bis jetzt kein albanischer Taxifahrer begegnet, der nicht die ganze Zeit durchgeredet hat. Natürlich in einem undefinierbaren, albanischen Dialekt. Mit dir. Die Fahrt dauert mindestens vier Stunden. Ne, danke. 2. Entweder Taxis haben keine Klimaanlage und ich fühle mich wie ein Grillhähnchen. Oder aber es gibt eine Klimaanlage. Dann ist die Einstellung immer auf „Winter in Jakutsk“. 3. Die Blicke! Jedes Mal, wenn ich den Kindersitz für Signorino installiere, werde ich angeguckt als hätte ich sie nicht alle. Das reicht mir schon, wenn dein Bruder mich so anguckt. 4. Gespräche über Deutschland. J-E-D-E-S einzelne Mal. Es scheint, als wärst du ein Gesandter der albanischen Botschaft in Berlin. Der Fahrer feuert also ein unbestätigtes Gerücht über Deutschland ab und du übertreibst es entweder mit deinen Lobeshymnen oder du machst Deutschland so schlecht, dass man denkt, man wohnt in einem seelenlosen Land voller dysfunktionaler Menschen. 5….“ Der Römer unterbrach mich: „Ist ja schon gut. Was willst du stattdessen machen?“ Ich grinste. Auch hier hatte ich bereits meine Lösung feinsäuberlich vorbereitet: „Ich buche einen Mietwagen. Bei Firma X – am Flughafen. Nicht wieder bei einer Mietwagenplattform, wo ich irgendeine Schrottbrasse in der Stadt abholen darf und wenn ich ankomme, sagt man mir: ‚Oh, da haben Sie aber Glück, dass sie fünf Minuten zu früh dran sind. Denn das ist unser letzter Mietwagen. Na ja, dann hat das Paar nach Ihnen eben Pech.‘ Wenn ich einen Mietwagen vier Monate vorher gebucht und bezahlt habe, brauche ich kein „Glück“. Der Mietwagen steht dort, wie vertraglich vereinbart, und wartet darauf von mir übernommen zu werden. Außerdem will ich die Mietwagenkategorie „Panzer“. Nie wieder fahre ich mit einer halbkaputten Coladose auf den Straßen Albaniens. Ich bin doch nicht lebensmüde. Wir haben teure Fracht an Bord, unseren Signorino.“ Ich drehte den Bildschirm zum Römer, um ihm zu zeigen, was ich mir genau vorstellte. „So viel Geld? Bist du irre! Sollen wir nicht lieber meinen Schwager Besim fragen, ob wir seinen Hyundai*** in der Zeit haben dürfen?“, wollte der Römer wissen. „Ne, danke. Auch das kenne ich schon. Natürlich sagt er sofort Ja, weil er zum heutigen Zeitpunkt denkt, dass er es schon irgendwie hinbekommt seinen Hyundai*** zu verleihen. Wenn wir dann Mitte August mit Kind und Koffer vor seiner Tür stehen, ist er so überrascht, dass er uns den Kleinstwagen seines Sohnes anbietet, denn der Hyundai*** sei angeblich in der Werkstatt. Zu dritt quetschen wir uns dann in den alten Opel Corsa*** und tuckern nach Dhermi. Ne, ne, mein Lieber! Entweder das – zu meinen Konditionen oder wir fahren an die Nordsee.“, machte ich dem Römer klar. „Gut, dann fahren wir an die Nordsee.“, trotzte er und verschränkte die Arme. Ich zeigte ihm wortlos die Wassertemperaturkurve der Insel Amrum. „Okay, und du meinst, dass ein Taxi vom Flughafen Tirana nach Dhermi wirklich keine Option darstellt?“, wollte der Gatte noch einmal wissen. „NEIN!“, sprach ich. „MamaPapaBoboJa? [Mama, Papa, darf ich Bobo Siebenschläfer gucken?]“, sagte eine leise Stimme. Signorino hatte sich unbemerkt aus dem Bett ins Wohnzimmer geschlichen. „Nein, Schatz. Du gehst jetzt wieder ins Bett.“, erklärte ich unserem Ableger. „TschuTschuWaJa? [Das Lied TschuTschuWa wäre auch in Ordnung für mich, Mutter.]“, versuchte es der Nachwuchs weiter. „Nein, auch das nicht. Komm, wir gehen zusammen ins Bett.“, schlug ich ihm vor. Seine kleine, warme Hand nahm meine und ich brachte ihn wieder ins Bett. Diesmal klappte es auch ohne römische Verstärkung. Als ich nochmals aufstand, buchte ich die Mietwagenkategorie „Panzer“ zum Preis einer halben Niere. „Freiheit kostet Geld.“, pflegt mein Vater immer zu sagen. Recht hat er.

Ein Schokotörtchen gab’s auch noch. Die Fenster sind ungeputzt, aber das fällt bei dem Vordergrund und dem schrecklichen Wetter kaum auf. 😉

*Eine Fernsehsendung der Öffentlich-Rechtlichen. Werbung, unbezahlt und unbeauftragt

**Man akzeptiert ihn, mag ihn aber nicht besonders, weil er so dickköpfig ist

***Werbung, unbezahlt und unbeauftragt

Ein denkwürdiger Tag

Ich weiß nicht, was Sie gestern um 13:27 Uhr gemacht haben und vermutlich wissen Sie das auf die Minute genau auch nicht, aber ich habe zur genannten Uhrzeit meine wissenschaftliche Hausarbeit bei der Universität hochgeladen. Überpünktlich wie die Maurer, drei Tage vor meinem selbst gesetzten Abgabeschluss. Dass ich den gesetzten Abgabeschluss zwischen Oktober und Dezember drei Mal verschoben habe, kehre ich an dieser Stelle großzügig unter den Tisch. Am Ende zählt eben nur das Ergebnis, welches im besten Fall im Februar veröffentlicht wird. Ob die Universität mein schnittiges Dr. Markus Söder Thema auch so pfiffig finden wird? Ich werde es Ihnen berichten, oder aber: Es unter den Tisch kehren – zu meinen verstrichenen Abgabeschluss-Daten. 😉

Symbolbild: Ein Lernender (Römer).

Dabei muss ich erwähnen, dass ich gestern Morgen absolut nicht damit gerechnet hätte, etwas abzugeben – außer meiner Seidenpapier starken Nerven. Der Mann, der immer zur Arbeit geht, egal in welchem Zustand, meldete sich gestern früh erst bei mir und dann bei seinem Arbeitgeber krank. Wenn Sie sich auf eines beim Römer verlassen können, dann ist es, dass er selbst auf dem Arbeitsweg angeschossen, noch zur Arbeit humpelt und seine Stunden abarbeitet. Aber heute hatte er migränebedingte Kopfschmerzen, die ihn zwangen, seinen Arbeitgeber über sein Fernbleiben der Arbeitsstelle zu informieren. Das wiederum hieß für mich, nicht er würde Signorino zur Kita bringen, sondern ich. Also machte ich mich in aller Eile zurecht, ging vor ungewohnter Dienstags-Aufregung drei Mal aufs Töpfchen, nur, dass der Römer sich dann in die Jacke schmiss und auch zur Kita mitkommen wollte. Trotz intensiver Bemühungen meinerseits und dem Hinweis, dass er am besten im Bett aufgehoben ist, insistierte er. Also fuhren wir zu dritt zur Kita und brachten das Kind in eine sichtlich leere Betreuungsstätte. Dabei ist es nicht dem vorweihnachtlichen Reiseverkehr zu den Verwandten geschuldet, dass die Kitakinder der Einrichtung fernblieben. Vielmehr erreichte mich am Montagmittag eine E-Mail, dass die beiden Nachbargruppen in Corona bedingte Quarantäne mussten. Ein Glück gab (und gibt) es keinen Fall in Signorinos Gruppe (toitoitoi). Dennoch lassen viele Eltern ihr Kind bereits daheim, um nichts zu riskieren. Da wir eh nirgendwo hinfahren, schickten wir das Kind trotzdem. Trotz alledem würde eine x-tägige Weihnachts-Quarantäne nicht auf meiner Weihnachtswunschliste zu finden sein.

Als wir Signorino um 09:20 Uhr abgegeben hatten, fuhr ich den Römer und mich wieder nach Hause. Der Römer frühstückte, ich tippte nervös Nichtssagendes in den PC, weil ich mich bei seinen Frühstücksgeräuschen nicht konzentrieren konnte. Dann ging der Herr des Hauses schlafen und mein nichtssagendes Getippe wurde endlich von wissenschaftlich fundierten Aussagen abgelöst. Bis 12:55 Uhr klimperte ich geschäftig auf der Tastatur meines PCs umher bis ich zufrieden auf „speichern“ klickte. Geschafft!

Nach einem zwanzigminütigen Anfall meinerseits, in dem ich die Prüfungsplattform meiner Uni verfluchte, gelang es mir doch noch meine Arbeit hochzuladen. Währenddessen schaufelte ich hektisch Ravioli in mich hinein, die der bereits erwachte Mann uns zubereitet hatte. Um 13:27 Uhr war es dann vollbracht. Ich war ein freier Mensch – bezogen auf dieses abgelegte Modul. Und meine Freiheit kann und konnte ich auch nur unter Vorbehalt genießen. Wer weiß, ob ich das Modul bestanden habe? Immerhin hatte ich jetzt genug Zeit, den Römer zu betrachten. Er sah nach seinem Schläfchen gleich viel gesünder aus. So voller Farbe im Gesicht und einem halbwegs zufriedenen Lächeln auf den Lippen.

Um 14 Uhr wollte der Römer wieder mitfahren, um Signorino abzuholen. Als wir ankamen, kümmerten sich zwei Erzieherinnen um zwei Kinder. Mehr Kinder waren nicht (mehr) im Gruppenraum. Das Kind war dennoch froh, abgeholt zu werden und hüpfte uns in Strumpfhose entgegen. Als alle angezogen, verpackt und verladen im Auto saßen, fragte ich den Römer, ob wir noch kurz nach Frankfurt-Oberrad fahren könnten, denn dort würde ich gerne Gratis-Pflanzen abholen. Er willigte ein und auch Signorino hatte nichts dagegen. Klar, der kleine Kerl hatte auch noch ein Butterbrot in der Hand, an dem er geschäftig nagte. In Oberrad angekommen wurden Fahrerin und Beifahrer auch nur ein einziges Mal und ganz kurz laut, weil der Römer mein Handy auf die Mittelkonsole legte, es prompt in einer engen Kurve auf meine Seite fiel und ich panische Angst hatte, dass es sich unter dem Gas- oder, noch schlimmer, Bremspedal verfangen würde. „Ma che! [Ach was!]“, trotzte der Beifahrer ohne Fahrerfahrung. Meine Hypothese lag außerhalb seiner Vorstellungskraft. Wie so vieles, was mit dem Fahren und Führen von Kraftfahrzeugen zu tun hat. „Fahr halt einfach rechts ran.“, empfahl er mir flapsig auf der dreispurigen Fahrbahn im frühen Berufsverkehr, wobei sich linkerhand eine Tram vorbeiquetschte und rechts Offenbacher Sportwagen an uns vorbeizogen. Ich motzte irgendetwas, wobei der Römer meinen meist gehassten Satz überhaupt darauf antwortete: „Du – fahr einfach! Ich mach den Rest.“ Dieser Satz lässt eine ungeahnte Aggression in mir aufsteigen. Das ist gar nicht in Worte zu fassen, was dieser unverschämte, römische Imperativ mit mir macht. Dazu muss ich ergänzend erwähnen, dass ich mich jedes Mal frage, was denn dieser besagte „Rest“ ist, von dem der Römer als Beifahrer spricht und um den er sich immerzu kümmern will? Meint er damit, dass er Schnittchen und kühle Getränke serviert? Einmal feucht durch die Fahrerkabine feudelt? Die Fenster putzt? Ich weiß bis heute nicht, welche verantwortungsvolle Aufgabe ein Beifahrer hat, von der ich in all den Jahren nichts mitbekam. Doch, Moment. Eine Aufgabe gibt es: Wenn wir zum Supermarkt fahren und in dessen Tiefgarage parken, ist es seine Aufgabe, das Parkticket vom Auto bis zur Tiefgaragenausfahrt in der Hand zu halten und es mir zum richtigen Zeitpunkt auszuhändigen, während ich versuche, nicht zu nah und nicht zu weit von der Säule, die unser Parkticket entgegen nimmt, anzuhalten. Wobei die Aufgabe mir das Ticket auszuhändigen auch von der Mittelkonsole äußerst gewissenhaft erledigt wird.

Pflanzen auf dem Fensterbrett. Die erste auf dem Bild wurde mir überlassen, weil die ehemalige Besitzerin dachte, ich hätte einen grünen Daumen. Na, wenn die gewusst hätte, dass ich passive, florale Sterbebegleitung ausübe, dann hätte sie sie vermutlich behalten.

Doch zurück zum Oberrader Verkehrsmanöver: Irgendwann und irgendwie schaffte ich es dann, ohne Handy, dass sich unter den Pedalen verfing, in eine unscheinbare Einfahrt und friemelte das Handy aus dem Fußraum. „Hier! Festhalten“, pflaumte ich den Römer an und drückte ihm mein Handy in die Hand. Dann entriss ich es ihm sogleich wieder, weil ich nachschauen wollte, wo wir hier überhaupt waren. Die Landkarten-App gab mir an, dass wir nur 200 Meter von unserem Zielort entfernt waren. Ich ließ das Auto (aus Sicherheitsgründen) in der Einfahrt stehen, sprintete die Straße entlang und hüpfte in den 1. Stock, um die Pflanzen von einer netten Kleinanzeigen-Dame abzuholen. Da ich privat zwar einen halbwegs grünen Daumen habe, in der Arbeit aber den Tod der ein oder anderen Pflanze auf meinem Konto verbuchen muss (darunter einen unkaputtbaren Kaktus und einen Bogenhanf🙈), brauchte ich Ersatz, damit mich mein Chef nicht wegen floralem Todschlags entlässt. Ich holte also eine Tüte neuer Leidensgenossen in einem gepflegten Wohnhaus ab und hoffte, dass diese grünen Freunde nach einer kurzen Zeit bei mir schlussendlich auch im Büro überleben werden. Im Auto angekommen verstaute ich meine Tragetasche sicher im Fußraum der Rückbank und ließ den Motor an. Von der Rückbank kam ein leises, aber im Fahrtverlauf immer lauter werdendes „Iiiigel!!“. Der Nachwuchs wollte einen Riegel, aber konnte das dazugehörige R noch nicht aussprechen. Egal – sein Wunsch kam trotzdem bei uns an. Der Römer kramte in meinem Rucksack, doch dort war kein Riegel zu finden. „Du hast vergessen, Riegel in deinen Rucksack zu füllen.“, unterrichtete mich der Römer. „Und du hast nicht einmal einen Geldbeutel dabei. Wird sicher ganz schön kalt, wenn ich dich hier an der Ecke rauslasse und du heimläufst.“, konterte ich. Der Römer maulte etwas nach. „Trotzdem haben wir keinen Riegel für das Kind.“, wiederholte er. Ich nickte. Noch 2,5 Kilometer nach Hause. Er wird schon nicht durchschreien. Auf Höhe des Frankfurter Hauptbahnhofes brüllte Signorino so laut „Iiigel!!!“, dass ich den Römer anwies, ihm das Päckchen gefriergetrocknete Erdbeeren zu geben. „Gesunde Chips für Kinder.“ stand auf der Packung. Ich wusste auch, warum sie so gesund waren. Durch ihren unangenehmen, sauren, aber naturbelassenen Geschmack lässt jedes Kind freiwillig von diesen Chips ab und isst lieber den eigenen Jackenärmel. Doch in der Not war uns jedes Mittel recht, dass ein paar Augenblicke lang das laute Brüllen im Auto unterband und uns sicher und konzentriert durch den Stadtverkehr kommen ließ. Signorino schniefte und brüllte immer noch. „Sicher?“, fragte der Römer. Wir wussten beide, dass diese Erdbeeren seit Wochen im Auto mitfuhren und Signorino diesen Snack bis jetzt jedes Mal verschmähte. Aber was hatten wir jetzt noch zu verlieren? Er tobte eh schon unaufhörlich. Im Gutleutviertel angekommen verstummte das Kind und kaute zufrieden saure Erdbeerchips. Sogar ein „Mmmh.“ kam aus dem Fond des Autos. Irgendjemand hatte uns wohl heimlich das Kind in der Kita ausgetauscht. Wir nahmen die plötzliche Ruhe dankend an und freuten uns über die letzten, ruhigen Meter bis wir von Signorino mehrmals aufgefordert wurden „Tschu Tschu Wa“ zu singen. Nach 500 Metern war der Spuk vorbei. Wir rollten in die Hofeinfahrt. Laut singend. Das Kind war selig. Wir beinahe heiser.

Daheim angekommen leerte ich zwei Packungen Riegel in meinem Rucksack aus. Sicher ist sicher, denn die Packung mit den gefriergetrockneten Erdbeeren war nun leer.