Killing him softly – ein Abenteuerbericht

[Teil 1 finden Sie hier]

Die Überraschung folgte für den Römer am Dienstagmorgen um 5 Uhr. “Mi viene a vomitare. [Mir ist übel.]”, raunte der Gatte in die Dunkelheit, sprintete aus dem Schlafzimmer, schloss auf dem Weg zum Bad noch eben die Kinderzimmer-Tür (man will das Kind schließlich nicht wecken), eilte in das zu klein geratene Bad und erbrach sich.

Ausgerechnet er, der mir am Tag zuvor noch erzählte, dass er sich nie und nimmer, oder falls doch, nur in aller größter Not erbrechen würde. So gesehen letztmalig im Jahr 2016 in Albanien, als er Steindatteln aß. Eine Delikatesse aus dem Mittelmeer, die ihm eine ordentliche Muschelvergiftung bescherte. Doch dieses längst vergangene Erlebnis hielt ihn nicht davon ab, seinen Monolog fortzusetzen: Wir, dann zeigte er auf Signorino und mich, hätten ja einen äußerst schwachen Magen. In unserem aalglatten Industriestaat wäre gar kein Platz für Viren und Bakterien, die der Körper kennenlernen könne. Aber im Süden hätte sein Körper schon alles gesehen. A-L-L-E-S. Seine ausladenden Gesten unterstrichen seinen Monolog, den er mit dem Satz beendete, dass er alles vertilgen könne, ohne auch nur Aufzustoßen. „Bis auf Steindatteln…“, murmelte ich sehr leise und grinste in mich hinein.

Derweil interessierte sich die Magen-Darm-Grippe herzlich wenig für sein Geschwätz vom Vortag. Vielmehr vertikutierte sie den Römer mit einer solchen Inbrunst, dass jegliche Lebenskraft aus ihm herausgeschleudert wurde. Um 05:30 Uhr stolperte er kraftlos und kaltschweißig zurück ins Schlafzimmer. Ich blinzelte ihm entgegen. Er hielt mir sein Mobiltelefon vor die müde Nase. „Kannst du meinen Kolleg*innen bitte schreiben, dass ich heute nicht komme? Ich habe all meine Deutschkenntnisse soeben in der Toilette versenkt.“, erklärte er mir auf Italienisch. „Das kann ja dann nicht so viel gewesen sein.“, dachte ich, verbot mir jedoch jeden laut geäußerten Galgenhumor. Dem Gatten ging es wirklich miserabel. Somit setzte ich mir als liebende und fürsorgliche Ehefrau meine Brille auf, tippte eine schmissige Nachricht, so schmissig man eben um 5:30 Uhr morgens sein kann, und las sie dem Römer vor. Fälschlicherweise interpretierte der Römer die Situation so, dass wir gleich noch eine Lektion „Deutsch – Wortschatzerweiterung“ besprechen sollten: „Che vuol dire ‚Mich hat’s erwischt?‘ [Was bedeutet ‚Mich hat’s erwischt?‘]“, fragte er gequält. Ich übersetzte es behelfsmäßig mit „Non stai bene. [Dir geht’s nicht gut.].“ „Aha.“, sprach er. Ich las ihm die restliche Textnachricht vor. „Che vuol dire „Über der Kloschüssel hängen? [Was bedeutet „Über der Kloschüssel hängen?“]“, wollte er nun wissen. „Non stai bene. [Dir geht’s nicht gut.]“, übersetzte ich wieder. „Und warum schreibst du das dann zwei Mal?“, wollte er von mir wissen. „Amore, es ist 5:30 Uhr morgens. Deine Kolleginnen und Kollegen werden die Nachricht schon verstehen. Details können wir gerne morgen klären. Gute Nacht!“, beendete ich den Vokabeltest. „Gute Nacht!“, sprach der Römer. Ich drehte mich um und versuchte wieder in den Schlaf zu finden. Als mir das beinahe gelang, sprach der Römer in die Dunkelheit. „Ma io adesso sto bene [Aber jetzt geht es mir gut.]. Was meinst du? War es falsch mich sofort krank zu melden? Ich habe nun wirklich nichts mehr im Magen, was ich noch ausspucken könnte.“, erörterte der Römer mir seinen Gedankengang. „Anfängerfehler.“, dachte ich und murmelte im Halbschlaf: „Warte doch erstmal ab. Normalerweise ist es mit ein Mal Erbrechen nicht getan.“ Der Römer versuchte mir nun verständlich zu machen, dass er sich schon viel fitter fühlte und sich jetzt ärgerte, dass er sich krank gemeldet hatte.

Einmal so optimistisch in die Zukunft zu blicken wie der Römer, das wäre mein Lebensziel. Aber vermutlich komme ich dort nie an.

Ob der Römer eine Zweitwohnung in der Nähe hat?

„Pazienza! [Geduld!]“, grummelte ich und guckte auf die Uhr. 6:10 Uhr. Nur zehn Minuten nach unserem Gespräch lief der Römer wieder aus dem Schlafzimmer. Ich hörte ihn erbrechen. „Siehste! Sag‘ ich doch.“, dachte ich noch, schielte wieder auf die Uhr und mir wurde bewusst, dass ich in einer Stunde aufstehen muss. Ich klopfte leise an die Badezimmertür. Zwischen zwei Kötzerchen teilte ich dem Römer mit, dass ich auf die Couch umziehen werde, um noch etwas Schlaf zu erhaschen. Sollte er etwas brauchen, könne er es gerne jetzt sagen, auch ein Laut würde mir genügen, oder aber ins Wohnzimmer kommen. Er spuckte wieder, ächzte aus dem letzten Loch und sagte dann, dass er momentan nichts brauche. Ich zog ins Wohnzimmer um. Dann beschloss ich, angesichts der Tatsache, dass auch Signorino nicht wirklich fit war, dass wir alle daheim bleiben würden. Ich meldete mich in der Arbeit krank und versuchte einzuschlafen. Das gelang mir nicht wirklich, weil das Wohnzimmer zur langsam erwachenden Allee lag, wo fleißig Schüler*innen und Eltern vorbeirollten und trollten, laut schnatternd und sich anscheinend auf den Tag freuend. Ich seufzte und schlürfte zum Römer.

Wie ein überfahrener Kaugummi lag er auf dem Bett und atmete gequält. Ich fragte, ob ich kurz auf Toilette könne oder er zu tun habe. Es sei nicht dringend. „Vai!Vai! [Geh ruhig!]“, ermutigte mich der Römer. Als ich in das schmale Zimmer eintrag, lag feinsäuberlich ein flauschiges Handtuch auf dem eiskalten Fliesenboden. Der Gatte macht es sich anscheinend gerne gemütlich, wenn er sich schon in einer so prekären Situation befindet. Oder aber, er bediente sich einem alten germanischen Brauch, der meist im Ausland praktiziert wird: Das Reservieren eines Ortes, gerne nah an einem Gewässer, und oftmals in Form einer Sonnenliege in einer großen Ferienanlage, um der Rekreation von Körper und Geist zu dienen. Wer sein Handtuch als erstes in den frühen Morgenstunden auf die vom Sonnenlicht verblichene Liege klatschte, hatte den ganzen Tag den besten Platz am Pool sicher. Dieser Lokus war also reserviert. Ich beeilte mich, schnell wieder davon zu kommen. Nicht, dass der Besitzer des Handtuchs mich noch bei der Hotelleitung melden würde. Als ich fertig war, breitete ich das kuschelige Handtuch wieder so aus, wie ich es vorgefunden hatte.

Wenig später, der Römer verschwand zwischenzeitlich wieder im Bad, erklärte mir der Gatte, dass es eine selten dämliche Idee war, dieses Seelachsfilet am vorherigen Abend zu vertilgen. Denn während er über der Kloschüssel hing, der Fisch sich den Verdauungs-Ganges Richtung Himalaya nach oben arbeitete, wurde ihm gleich doppelt schlecht beim Geruch des verdauten Fisches. Vielleicht hätte ich ihm konsequenterweise Hákarl, isländischen Gammelhai, anbieten sollen, versehen mit dem Hinweis, dass das ein erprobtes, skandinavisches Hausmittel bei Übelkeit sei. Schließlich wollte er mich noch am Vortag davon überzeugen, dass mir ein Seelachsfilet wieder zu neuen Kräften verhelfen würde. Doch so gemein konnte ich nicht sein, denn woher sollte ich in Frankfurt auf die Schnelle einen Gammelhai herbekommen? So hielt ich den Mund und streichelte dem Römer mitfühlend über den Rücken.

Lange konnte der Römer hingegen nicht den Mund halten. Vielmehr benutzte er ihn, um zum Frühstück Zwieback und Tee zu inhalieren. “Zu schnell, zu viel. Das wird nicht gut getan.”, sprach ich in die Knusper- und Schlürfgeräusche des Römers. “Man muss doch wenigstens versuchen, dass man wieder zu Kräften kommt.”, unterwies mich der Gatte. “Almeno provarlo!! [Wenigstens versuchen!!]”, sagte er mit Nachdruck. Nun, sein Versuch endete, Sie ahnen es, im kleinsten Zimmer der Wohnung, auf dem Lokus, der tatsächlich so klein ist, dass sie nicht bei geschlossener Tür über der Kloschüssel hängen können. So kann die ganze Familie diesem riesen Spektakel beiwohnen. Immerhin, man kann stehend nicht umfallen, sollte man widererwartend ohnmächtig werden. Das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Signorino meldet sich aus dem Kinderzimmer. Er war wach, gut gelaunt und sein erstes, morgendliches Wort war „Schoko-Ku[chen]?“. Es ging ihm bestens. Ich bereitete, sehr zu seinem Verdruss, keinen Schokokuchen, sondern Haferbrei vor. Immerhin färbte ich ihn mit etwas Kakaopulver schokoladig dunkel. Man tut als Mutter eben was man kann.

Um 09:15 Uhr klingelte das Telefon. Es rief die Signorino’sche Erzieherin an. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Kind noch nicht als fehlend gemeldet. Es war per se nicht krank, aber auch nicht topfit. Eben wie die Mutter. Doch sie hatte gar nicht im Sinn, mich zurechtzuweisen, dass das Kind nicht krankgemeldet wurde. Vermutlich lag das daran, dass die Abwesenheitsmeldequote (was für ein Wort!) bei 50-60% der Eltern liegt. Die restlichen bleiben stumm wie die Fische und sagen eben nicht Bescheid, dass das Kind nicht zur Kita kommt. Alles kann, nichts muss. Man kennt es ja. Sie rief an, um mir mitzuteilen, dass man heute und morgen einen Mangel an Vollzeitkräften habe. Alle seien krank. Woran sie erkrankt waren, konnte ich mir in den lebhaftesten Farben ausmalen. Man würde deswegen nur eine beschränkte Öffnungszeit der eh schon eingeschränkten Corona-Öffnungszeit anbieten können. Sie hoffe, dass mir das keine Probleme bereiten würde. „Ach woher!“, winkte ich ab. Was ist schon eine zerbrochene Teetasse inmitten eines Erdbebens, Stufe 8? Die Erzieherin bedankte sich für mein Verständnis. Ich bedankte mich für ihre Disponibilität und hoffte, dass sich der Rest der Erzieherinnen wacker halten würden. Denn wenn die Öffnungszeiten der Kindertagesstätte noch weiter eingeschränkt werden würden, könnte ich ebenso gut vor der Kita warten, bis ich den jungen Mann eine halbe Stunde später wieder einsammeln und mit nach Hause nehmen konnte.

Das Kind verbrachte den Vormittag mit für ihn (und vermutlich alle lebhaften 2jährigen) völlig untypischesm auf der Couch/auf dem Teppich/auf der Rutsche Liegen. Das Köpflein und der Oberkörper schienen so schwer, dass oft nur noch die Beine standen. Der Rest lehnte irgendwo dagegen. So verbrachten wir den Vormittag lesend und ab und an Cartoons guckend. Das Kind war zufrieden, aß und trank gut, und ließ sich ausgiebig bekuscheln, was ein eher rares Event in unserem Haus darstellt. Ab und an erhob Signorino seinen schlappen Körper und wollte Papa besuchen. Er tapste ins Schlafzimmer, fand einen fahlen Römer im Bett vor, bei dessen Anblick mir wieder der Gammelhai in den Sinn kam, so elend sah er aus und versuchte den ältesten Wohnungsbewohner mit Legos aus der Reserve zu locken. Immer mal wieder öffnete der vor sich hin siechende Römer ein Auge und murmelte im Halbschlaf „Si, si, papà è qui. [Ja, ja, Papa ist hier.]“. Dann fielen ihm die schweren Augenlider wieder zu und er schnarchte ein bisschen. Das ließ Signorino nicht gelten. Entfernen lassen wollte er sich auf keinen Fall. Wo kämen wir denn da hin? Er erklärte dem Römer „PapaLegoJa!“ und dieser öffnete wieder mühselig ein Augenlid. Irgendwann wurde es Signorino zu bunt. Er rief den Partynotstand aus. Ja, Sie lesen richtig. Aus dem nichts rief das Kind „Party! Party!“ und nahm die römische Hand, die aus dem Bett ragte. „Pscht! Signorino! Papa will schlafen.“, flüsterte ich und versuchte das Kind aus dem Schlafzimmer zu zerren. Doch er blieb beharrlich stehen und klammerte sich am Bett fest. „Party! Party!“, rief das südländische Partymodell wieder. Der Römer öffnete wieder ein Auge. „Su! [Hoch!]“, sprach der Sohn nun in seinem feinsten Italienisch. Er wollte ins Bett gehoben werden. „Komm, Signorino, wir müssen jetzt gehen. Papa geht’s nicht gut.“, sprach ich nun etwas vehementer. Das Kind wurde ernst. „Nooh! Nooh! [Nein! Nein!]“, sprach es empört und sehr Deutsch akzentuiert mit langem O aus. Su [Hoch] wolle er, aber dalli. Der Römer hob ihn ins Bett. Und so setzte sich unser Nachwuchs neben den Römer, eine Hand in den dunklen Locken seines Papas, die andere auf seinen Kleinkinder-Oberschenkeln ruhend. Er bewachte den maladen Papa und hatte nicht vor zu gehen.

An Mambo Mambo Mambo war trotz Partyausruf nicht zu denken.

So ging ich in die Küche, kochte Kamillentee für den Mann, stöpselte eine Warmflasche zusammen und brachte ihm beides. Den Tee stellte ich unerreichbar für Signorino auf dem Fensterbrett ab. Dann kochte ich für Signorino etwas zu Mittag. Erst als ich mit einem dampfenden Teller Nudeln ums Eck kam, verließ der Sohn seinen angestammten Platz. Er aß einen halben Teller, gähnte und bekam ganz kleine Augen. Ich brachte ihn ins Bett.

Nach anderthalb Stunden wachte Signorino wieder auf. Ich hatte dem Gatten gerade Salzbrezeln ohne Salz gebracht. Signorino lief schnurstracks ins Schlafzimmer, entdeckte die Salzbrezeln und aß sie, während er seinen Vater musterte. Als er die kleine Schüssel vertilgt hat, kletterte er ins Bett und setzte sich neben den komatösen Vater. Wieder lag seine kleine Hand in den dichten, dunklen Wellen des Mannes. Er grinste. „Papa ‚putt? [Ist der Papa kaputt?]“, wollte er nun wissen. Ich nickte. „Richtig kaputt.“, antwortete ich dem Kind. Er streichelte Papa nochmals durch die dunklen Haare, holte sein liebstes „Stofftier“, den Kinderstaubsauger, und legte ihn neben Papas Kopf. Hoffentlich dachte der Mann nicht, dass ich ihm den Staubsauger dort hin legte, als nette Erinnerung. Doch der Gatte verschlief den ganzen Tag. Erbrechen musste er nicht mehr. Die nächsten, beiden Tage war er sehr wackelig unterwegs, aber schlussendlich erholte er sich wieder. Doch von uns dreien traf es den Gatten definitiv am schlimmsten.

Fazit: Anscheinend kannte sein südländischer Körper alle Viren und Bakterien, außer dieses Magen-Darm-Virus der aalglatten Industrienation. 😉

Killing me softly – Ein Abenteuerbericht

Momentan komme ich nicht wirklich zum Schreiben auf meinem Blog. Zu sehr hinke ich in der Uni nach. Zu sehr belüge ich mich selbst, dass eine Teilzeitstelle, 85% der Kindererziehung und ein Studium „total gut“ unter einen Hut zu bringen sind. Es ist als würde man krampfhaft versuchen, viel zu viele Jonglierkeulen gleichzeitig in der Luft zu halten. Ständig droht eine abzustürzen, man hechtet zu ihr, rettet sie, aber dann kommen zwei andere Jonglierkeulen, die kurz davor sind mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden zu knallen.

Doch darum soll es heute nicht gehen. Viel mehr geht es heute um meine Notizen des Monats Februar. Das Kind brachte uns ein Geschenk in Form einer Magen-Darm-Grippe mit nach Hause. Wie wir das überlebten, schildere ich Ihnen hier. Doch seien Sie gewarnt: Ein Magen-Darm-Infekt ist nichts für eine blühende Fantasie und einen schwachen Magen:

Aufbügel-Bild auf meinem Pulli. Bildlich dargestellt, was ich über diese Magen-Darm-Grippe denke.

Es scheint ein eisernes Naturgesetz zu sein, dass Mütter die Krankheit ihres Kindes einige Tage später durchleben müssen, um beurteilen zu können wie schlimm es wirklich für den Nachwuchs war. Im Verkauf würde man vermutlich sagen „Nur wer das Produkt, oder in unserem Fall die Krankheit, gut kennt, kann es überzeugend verkaufen.“ Der Römer und ich, da bin ich mir sicher, könnten Ihnen die Krankheit perfekt verkaufen, so viel „Produkterfahrung“ konnten wir sammeln. 😉

Am Sonntag um 8 Uhr fing es an. Mir war speiübel. Ich wankte ins Bad, ging auf Toilette, wankte wieder zurück ins Bett und wartete darauf einzuschlafen, aber die Übelkeit hatte dermaßen die Überhand gewonnen, dass es mir unmöglich war, in den wohlverdienten Schlaf zurückzufinden. Um 09:00 Uhr tapste das Kind ins Elternzimmer, wobei es an diesem Wochenende Elter-Zimmer heißen müsste, denn der Römer war in Albanien, um seine Familie zu besuchen. Signorino gebot mir, dass er zu frühstücken wünsche. Ich folgte ihm und wir frühstückten zusammen, wobei er mit großer Begeisterung drei Scheiben Nusskuchen verdrückte und ich an meinem Kamillentee nippte. Der Tee brachte nicht den gewünschten Effekt, denn die Übelkeit wurde schlimmer und schlimmer. Ich legte mich auf die Couch, machte den Fernseher für das Kind an und hoffte, dass die Übelkeit gleich vorbei sein würde und wir normal in den Tag starten könnten.

Signorino interessierte sich überhaupt nicht für den Fernseher. Stattdessen animierte er mich zum Lego spielen. Ich setzte mich schwerfällig auf den Boden, nahm zwei Lego-Steine in die Hand, zog einen roten Plastikeimer zu mir heran und erbrach den kompletten Kamillentee hemmungslos. Das Kind guckte mich mit weit aufgerissenen Augen panisch an und krisch aus voller Lunge, als es mich in seinen roten Sandkasteneimer würgen und erbrechen sah. Ich versuchte ihn zu beruhigen, aufzublicken, zu lächeln, „Mama geht’s gut, Schatz.“ zu sagen, doch Sie kennen es vielleicht: Ein Kötzerchen bleibt nie alleine. Man hat mehrmals das Vergnügen. Das Kind schrie immer lauter, immer aufgeregter. Ich tat mein Möglichstes ihn zwischen meinem Erbrechen zu beruhigen, doch er war so panisch und ich so beschäftigt, meinen Mageninhalt loszuwerden, dass meine beschwichtigenden Worte im roten Sandkasten-Eimer verhallten. “Hoffentlich war’s das jetzt.”, dachte ich, als mein Magen wirklich alles losgeworden war, was ihm scheinbar auf der Magenschleimhaut brannte. Aber mein Verdauungsorgan hatte anderes im Sinn.

Es war 10 Uhr Vormittags. Um 16:20 Uhr sollte der Flug des Mannes in Frankfurt landen. Mit einer flotten Einreise würde er nicht vor 17 Uhr daheim sein. Noch sieben Stunden. Mein eh schon flauer Magen wurde noch flauer. Uff! Durchatmen. Wir schaffen das.

Ich informierte den Mann via Messenger-Dienst über meinen Zustand. Er las die Nachricht und antwortete nicht. Jetzt war mir nicht nur schlecht, ich war wütend und wusste nicht wie ich den Tag überleben sollte. Ausruhen und halb tot vor dem Fernseher liegen war dank Signorino keine Option. “Danke für deine lieben Nachrichten!!!!”, schrieb ich dem Mann 30 Minuten später. Jedes einzelne Ausrufezeichen hinter dem Text gab dem Mann einen Hinweis darauf, in welcher Eskalationsstufe meiner Wut ich mich gerade befand. Diesmal war es Stufe 4 von 5. Postwendend antwortete der Römer. “Scusa, amore [Entschuldige, Liebling!]! Uns wäre fast ein LKW aufs Auto geknallt, aber Ibrahim reagierte blitzschnell. Zum Glück ist nichts passiert. Aber das geschah genau zu dem Zeitpunkt, als ich deine Nachricht las. Danach war ich so geschockt, dass ich alles vergaß.” Mich wunderte das gar nicht. Also, dass ein LKW ungebremst auf Ibrahims Kutsche knallen wollte. Wer den Verkehr in Albanien kennt, der wundert sich allenfalls um die niedrige Unfallquote. “Mir geht’s wirklich dreckig.”, schrieb ich dem Mann. Er versprach so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, könne aber den Flugplan der Airline auch nicht beeinflussen. Ich schickte ihm einen grünen Übelkeitssmiley als Antwort. Die Situation war zum Kotzen. Das empfand auch mein Magen so.

Ich legte das Handy beiseite und erbrach wieder. Mehrmals. Das Kind weinte und schrie, wollte mir den Eimer entreißen und schlug mit der flachen Hand fest auf meinen Rücken. Oh Mann! Was für eine erbärmliche Situation. Ich beruhigte den vor Panik schreienden Signorino, nahm ihn in den Arm und erklärte ihm, dass es Mama nicht so gut gehe, aber die Situation unter Kontrolle sei. Letzteres war gelogen. Nichts war unter Kontrolle. Wir guckten seit zwei Stunden Peppa Wutz und ich spuckte mir die Seele aus dem Leib.

Um 12:30 Uhr verdonnerte ich das Kind zum Mittagschlaf. Eine andere Lösung, um die Zeit bis zur Ankunft des Römers zu überbrücken, sah ich nicht. Zum Glück schlief Signorino schnell ein. Ich auch, so erschöpft war ich. Doch nach zwanzig Minuten erwachte ich wieder, da über uns, wie jeden Sonntagmittag (!), eine Singparty unter Freunden stattfand. Unsere grandiosen Nachbarn Nina und Tobi (mit Baby) hielten und halten „Singen mit Freunden an einem Sonntag“ für ein Grundrecht. Sollen die Nachbarn sich doch einfach an ihren schiefen Lagerfeuertönen erfreuen. Das Kind schlief, toi, toi, toi, weiter. Ich ging in unser Schlafzimmer, spuckte auf dem Weg dorthin wieder, steckte das Babyphone ein und legte mich hin. Sofort schlief ich ein. Dann hämmerten Nina und Tobi. Sie hämmerten einen Nagel in die Wand. Oder mehrere. Auf alle Fälle war ich zu kraftlos gegen die Wand zu schlagen. Ich ertrug es. Und nahm mir vor, sobald ich wieder fit sei, ihnen klar zu machen, dass ich sonntags keinen Mucks hören will, der über Zimmerlautstärke hinausgeht, sonst schalte ich die Hausverwaltung ein. Vermutlich würde ich es netter ausdrücken, aber in dem Moment, gefangen in meinem Elend, spürte ich genau das.

Das Kind erwachte nach zwei Stunden Mittagschlaf. Normalerweise weckte ich Signorino früher, denn abends geht er sonst nicht ins Bett, aber ich war um jede freie Minute dankbar. Ich hob ihn aus dem Bett. Eine Seite seiner Hose war bräunlich. Vermutlich das geschmolzene Schokoladen-Eis, das ich ihm vorhin gab, um ihn zu beruhigen und zu beschäftigten. Nun ja. Wie sich nur einige Augenblicke später herausstellte hatte das Kind Durchfall. “Oh Mann! Oh Mann!”, würde das Kind jetzt sagen. Und „Oh Mann! Oh Mann!“ war die Situation tatsächlich. Unter Würgen wechselte ich die Windel, den braun-feuchten Body, wusch das Kind mit einem Waschlappen, zog es an und erbrach mich abermals. Das Kind krisch, Sie ahnen es, ich bemühte mich, es zu beruhigen, aber es beruhigte sich erst wieder, als ich mir den Mund ausspülte und auf allen Vieren auf das Sofa kroch.

Zwanzig Minuten später hörte ich ein Geräusch als würde jemand eine halbvolle Ketchup-Tube ausdrücken. Es war Signorino. Er guckte verwundert und grinste dann. „Oh Nein! Bitte nicht schon wieder.“, dachte ich an unsere Windelwechsel-Aktion von eben zurück. In meiner geistigen Umnachtung machte ich den Fehler, ihn hinzulegen und so verteilte sich die Masse bis zum Hals. Wortwörtlich. Ich fluchte, würgte, wechselte, wischte und rieb das Kind mit einem frischen Waschlappen ab. Dann bezog ich das Kind neu. Neuer Body, neues Oberteil, neue Hose, neue Socken. Alles neu! Am liebsten hätte ich seine alten Klamotten verbrannt, doch ich warf sie bei 95 Grad in die Waschmaschine.

Turtle, die an diesem Tag zu den Spät-Aufstehern gehörte, bot sich an, vorbeizukommen. Allerdings musste sie erst einen Corona-Test machen, denn, so waren die Regeln im Februar, sonst dürfe sie nicht Bahn fahren . Ich war besorgt, dass sie unseren Magen-Darm-Infekt als Gastgeschenk mitnahm, sollte sie uns besuchen.

Ich guckte auf die Uhr: Es war 12:30 Uhr. Das Flugzeug Richtung Albanien hatte bereits in Frankfurt abgehoben, um den Römer in einigen Stunden einsammeln zu können. Ich bedankte mich bei Turtle für Ihre Hilfe und erklärte ihr, dass ich Angst hätte, dass sie ebenfalls das Magen-Darm-Virus bekäme. Sie wollte sich nicht abbringen lassen von ihrem Besuch. Ich insistierte. Nach einiger Zeit willigte sie ein, dass sie daheim bleiben würde.

Ich wankte ins Bad. Leider musste ich auf dem Klo thronend abermals würgen. Ein Glück ist die Toilette so klein, dass man bequem ins Waschbecken spucken konnte, während man auf dem Lokus sitzt. Genau zu dieser Zeit tapste Signorino vorbei, erblickte seine würgende, auf der Toilette sitzende Mutter mit heruntergelassener Hose und schrie wie am Spieß. Wer kann es ihm verdenken? Das sind vermutlich Bilder, die man nur schwerlich vergisst. Er wollte mich sofort von der Toilette wegziehen, was wahrlich keine schlaue Idee war. Ich klammerte mich mit einer Hand an der Kloschüssel fest, mit der anderen Hand versuchte ich den panischen Signorino auf Abstand zu halten und dazwischen ging ich meinem Bedürfnis zu Erbrechen nach. Das Kind wurde immer panischer, je länger der Vorgang dauerte. Er war vollkommen durch den Wind. Nach jedem Schwall beruhigte ich den kleinen Mann. „Alles gut, Liebling. Mama geht’s nur nicht so gut heute. Keine Sorge.“ Meine Sätze beruhigten weder ihn, noch mich. Erst als ich mich nassgeschwitzt und wacklig – Erbrechen ist echt anstrengend – vom WC erhob, beruhigte sich Signorino langsam, zitterte aber dennoch wie Espenlaub. Er schniefte noch eine ganze Weile und hielt meine Hand fest umklammert, so als ob ich jeden Moment zu Staub zerfallen würde. Mir tat das alles furchtbar Leid. Mit aller Kraft versuchte ich fortan meinen Brechreiz zu unterdrücken, damit das Kind beruhigt sein würde. Wie ein zertretener Kaugummi lag ich auf dem Sofa, während das Kind fernschaute. Schamerfüllt muss ich zugeben, dass es das an diesem Tag seit Stunden tat. Ich fühlte mich unglaublich mies. Innerlich wie äußerlich. Ich war ein Wrack.

Die Zeit verging irgendwie. Ich weiß bis heute nicht, wie dieses „irgendwie“ aussah, denn alles lag in einem dichten Nebel.

„Was soll man machen?“, fragte ich mich nicht nur ein Mal…

Um 17:02 Uhr hörte ich Schritte im Hausflur. Sie eilten zu unserer Wohnungstür. Ich betete, dass es mein ausgeflogener, und eben wieder eingeflogener Gatte war und ja, immerhin diesmal wurden meine Gebete erhört. Der Römer marschierte im Stechschritt in die Wohnung. Signorino flippte aus vor Freude und warf sich in die römischen Arme. Alles, was für mich zählte, war nur noch der Überlebenswille, so dass jeglicher Kontrollzwang in weiter Ferne war. Unter normalen Umständen hätte ich gerufen: „Bitte wasch dir erst die Hände nach so einer Reise. Wer weiß, was du alles angefasst hast!“. Doch so jammerte ich nur ein „Endlich bist du da! Ich dachte, die Zeit vergeht nie!!“. Ich schlürfte an Vater und Sohn vorbei, den roten Kindereimer unter meinen Arm geklemmt, und legte mich ins Bett. Sofort nickte ich ein. Signorino wollte das so aber nicht gelten lassen und kam ins Schlafzimmer. Er stand neben meinem Kopf, legte seinen Kopf nur wenige Millimeter neben meinem Kopf ab und erzählte etwas. Ich streichelte seinen Blondschopf, empfahl ihm, ins Bett zu krabbeln und lächelte ihn müde an. Schnell wie der Blitz kletterte er über den Sessel ins Bett und setzte sich neben meinen Kopf. Dann begann er zu singen. Erst „Zum Geburtstag viel Glück“, dann seine ganz eigene Version des „ABCs“, um dann die richtigen Gassenhauer wie „Tschu Tschu Wa“ und „Certe Notti“ rauszuhauen. Mein Kopf dröhnte, mir war übel, aber es war ein schöner Gedanke seinerseits, mein Elend musikalisch auflockern zu wollen. „Signorino, vieni qua![Signorino, komm her!]“, rief der Römer und erklärte dem Sohn, dass ich schlafen müsse. Das war der Sigorino’schen One-Man-Coverband aber ganz egal. Er blieb sitzen und sang aus voller Brust weiter. Mittlerweile ging er zu den langsameren Nummern wie „La Le Lu“ und „Nina Na Na Nina Nu“ über, denn er merkte, dass ich die fetzigeren Lieder nicht so wertschätzen konnte wie das ein guter Sänger von seinem Publikum erwarten würde. Nach einiger Zeit gelang es dem Römer, Signorino aus dem Schlafzimmer zu locken. Vermutlich hat er dem kleinen Kerl mindestens einen „Igel“ [Schoko-Riegel] versprechen müssen, damit er seine angestammte Position auf der Bühne, neben meinem Kopf, verließ.

Dreißig Minuten später kam das Kind wieder bei mir im Schlafzimmer vorbei. An Schlafen war somit nicht zu denken. Ich schleppte mich gebeugt ins Wohnzimmer, platzierte mich wie der sterbende Schwan auf der Couch, bat den Römer um eine Schüssel (für Notfälle) und lag dort, als würde ich den Tod, bereits hinter dem Vorhang stehend, erahnen können. Alles war mir zu laut, zu hell und zu viel. Der Römer bot mir an, Pasta in Bianco zu kochen. Eine furchtbar liebe Geste, aber Nudeln in Öl und Parmesan ertränkt, waren das letzte, was mein Magen aufnehmen wollte. Denn generell wollte mein Magen gar nichts aufnehmen. Weder Wasser, noch Zwieback, noch Salzstangen. Er wollte sich primär erst einmal beruhigen. Das erklärte ich dem Römer, der meinte, ich solle einfach in kleinen Schlucken trinken und in kleinen Bissen essen. Ich würgte bei dem Gedanken, musste aber nicht spucken. Dennoch: Ich blieb bei der Null-Diät.

Als Signorino ins Bett ging, zwang der Römer mich wenigstens ein Nanogramm eines Zwiebacks zu essen. Ich knabberte daran wie ein traumatisiertes Kaninchen. Nach 1,5 Stunden hatte ich ein Viertel des Zwiebacks weggeknabbert und legte ihn zur Seite. Kraftlos schleppte ich mich ins Bett. Es wird schon werden, dachte ich noch. Dann schlief ich ein.

Um 01:30 Uhr wachte ich auf. Ich ging ins Wohnzimmer. Mein Gang war immer noch gebeugt, aber etwas agiler als noch vor einigen Stunden. Mein Magen knurrte. „Komm mir jetzt bloß nicht so.“, feixte ich mein labiles Verdauungsorgan an. Ich knabberte an einem Zwieback. Draußen tobte ein Sturm. Dann trank ich in kleinen Schlucken Wasser. Er blieb drin. Nach einer Stunde ging ich zurück ins Bett. Mein Körper tat mir vom Kopf bis zum Rücken immer noch sehr weg.

Um 07:30 Uhr meldete sich der römische Wecker. Ich machte Tee, Kaffee für den Römer und bereitete ein Marmeladenbrot für Signorino vor. Dann weckten wir das Kind. Wie immer war Signorino „not amused“. Er frühstückte, wir zogen ihn an, die männlichen Farnientes verließen das Haus und dann geschah etwas, dass mir seit zwei Jahren nicht mehr passiert ist. Ich legte mich ins Bett und schlief einfach so ein. An einem Montagvormittag. Es ist nicht so, als hätte ich nie die Gelegenheit gehabt, dies auszuprobieren. Doch normalerweise lag ich mit weit aufgerissenen Augen im Bett und konnte doch nicht wieder einschlafen, aber diesmal nickte ich einfach weg.

Um 12:30 Uhr erwachte ich wieder. Es fühlte sich surreal an, so spät aufzustehen. Ich war fit. Nicht topfit, aber fit. Der Römer brachte gegen 16:00 Uhr den Nachwuchs nach Hause und ich aß eine Haferflockensuppe.

Natürlich war ich noch auf Schonkost. Man will ja nicht gleich übertreiben. Abends bot mir der Römer ein Stück Seelachsfilet zu meinen trockenen Reis an. Ich winkte unter größter, akut auftretender Übelkeit ab. Aber ein Fischfilet sei doch etwas exquisites, versuchte er mir den ollen Fisch schmackhaft zu machen. Es muss wohl in der Familie liegen, dass man Personen, die gerade eine Magendarm-Grippe überstehen, gerne einen Fisch vorsetzt. Zuletzt tat das nämlich der römische Schwager am Ohrid-See, als sich mein Mageninhalt in den weiten der albanischen Steppe ergoss und er ein vorzügliches Fischrestaurant im Hinterland anfuhr. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Römer unterbrach meine Gedanken an das Fischrestaurant am Ohrid-See. „Ich bin nur froh, dass ich diesmal verschont geblieben bin von eurer Magen-Darm-Grippe.“, stellte er, seinen Fisch kauend, fest. Er sollte sich arg täuschen….

[Fortsetzung folgt]

“Hallo zusammen!”

Dienstagmorgen an der S-Bahn Station. Signorino und ich warten darauf, ins Zentrum der Stadt transportiert zu werden. Es regnet und ist ungemütlich kalt. Das Kind erzählt ohne Unterlass. Ich verstehe nur Wortfetzen wie “Seilbahn” (er meint die S-Bahn) und “nass” (er meint den Regen).

Der rote Zug unseres Verkehrsbundes fährt ein. Darin sitzen überwiegend Menschen mit schwarzen Jacken und grauen Gesichtern. Man merkt deutlich, dass einige Arbeitgeber beschlossen haben, dass Homeoffice nicht nur keine Pflicht mehr darstellt, sondern auch keine Option mehr ist. Die Laune ist dementsprechend.

Signorino und ich steigen in die S-Bahn ein. Unser kleiner, blonder Zweijähriger mit blauer Winterjacke und grauer Trainingshose, blickt sich um und spricht inbrünstig mit fester Stimme, laut und deutlich:

“Hallo zusammen!”

Die Leute blicken sich nach dem Besitzer der hellen Kinderstimme um, lachen und lächeln, das Grau verschwindet von ihren Gesichtern.

Was ein einfacher Gruß an einem grauen Dienstag ausmachen kann. Probieren Sie’s doch mal aus und folgen Sie Signorinos Beispiel! 😉

So sähe ein deutlich entspannterer Morgen aus. Lauwarme Marzipancroissants beim Frühstück mit meinem besten Freund, dem Einen.

Mam(m)a Mia

Mam(m)a Mia

Zweisprachige Kinder haben’s nicht leicht. Mama sagt so und Papa sagt anders und da soll einer schlau daraus werden?

Aber sehen Sie selbst, wie schwer es Signorino mit uns als Eltern hat.

Ich: Signorino, wie heißt du?

Signorino: Farniente!

Signorino nennt wie immer nur seinen Nachnamen. Seinen Vornamen nennt er grundsätzlich nicht, obwohl wir ihn unzählige Male mit ihm geübt haben. Er bevorzugt dennoch beim ‚Sie‘ zu bleiben. Vermutlich dürfen ihn nur seine engsten Kindergartenfreunde duzen.

Ich: Signorino, und wie heißt die Mama?

Signorino: Mia!

Ich (irritiert): Nein, Schatz, ich heiße nicht Mia. Ich heiße Eva. Wie kommst du denn auf Mia?

Signorino wiederholt stoisch den Namen Mia und lässt sich nicht davon abbringen. Die Tage vergehen. Das Rätsel kann nicht gelöst werden.

Bis…

…dem Römer eine Schüssel in der Küche herunterfällt und in tausend Teile zerspringt. Der Mann ruft aufgebracht: „Mamma mia! Mancava solo questo! [Mamma mia! Nur das fehlte mir noch.]“ Signorino und ich sind im Wohnzimmer. Der kleine Kerl fixiert mich, lacht, ruft „Mamma mia“ und zerrt mich in die Küche.

Ist doch logisch. Wenn Papa „Mamma mia!“ ruft, dann braucht er die Hilfe von „Mama Mia“.

Rom – mit Blick auf das Monumento Nazionale a Vittorio Emanuele II oder: Mamma mia! Was für eine Aussicht.

Weihnachten bei den Farnientes

Ich glaube, der weihnachtlichste Moment in diesen Festtagen war, als das Kind darauf bestand mit einer Rentier-Geschenkpapierrolle einzuschlafen. Es war der 23. Dezember und mein Plan war es, die unverpackten Geschenke abends, wenn das Kind schläft, einzupacken.

Den Plan vereitelte Signorino, in dem er die Geschenkpapierrolle fand und fortan als seinen Intimus betrachtete. Den ganzen Abend verbrachten die beiden miteinander. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass diese Freundschaft nur so lange Bestand hielt, weil die Rolle noch in ihrer dünnen Plastikfolie eingewickelt war. Das Zähneputzen fand selbstverständlich mit der Geschenkpapierrolle in der rechten Hand statt. Ein riesen Gekreische schrillte durchs Wohnzimmer als er die Rolle für den Bruchteil einer Sekunde aus der Hand legen musste, weil wir ihn in den Pyjama steckten. Man hätte meinen können, wir würden das Kind abstechen. „Nimm ihm doch jetzt die blöde Rolle weg! Ich brauche die eh gleich, weil ich die Geschenke noch einpacken muss.“, wies ich den Römer an. „Ma che? Non ci dobbiamo stressare. [Ach was! Wir müssen uns nicht stressen.] Wir nehmen sie ihm gleich weg, wenn er schläft.“, antwortete der römische Gatte. Ein guter Plan, der leider am Faktor Kind scheiterte.

Wir brachten Signorino und seine Geschenkpapierrolle ins Bett. Er lag in der Mitte, flankiert vom Römer und mir. Wenn Sie sich jetzt fragen, warum man zwei Elternteile braucht, um ein Kind ins Bett zu bringen, ist das eine überaus berechtigte Frage. Die Antwort ist eine sehr einfache. Es ist (momentan) der schnellste und effizienteste Weg, das Kind ins Bett zu bringen. Fehlt ein Elternteil, wird dieser solange von Signorino gesucht bis er sich schließlich auch ins Bett begibt. Wenn man Signorino nicht aus dem Bett oder gar aus dem Schlafzimmer entlassen will, damit er den abwesenden Elternteil suchen kann, kreischt er ebenfalls solange bis er suchen gehen darf. Deswegen dauert der Einschlafprozess 15 Minuten, wenn wir beide zusammen anwesend sind – oder 2,5 Stunden, wenn nur ein Elternteil Signorino ins Bett bringen darf. Sie können sich denken, für welchen Weg wir uns regelmäßig entscheiden.

Als Signorino langsam ins Reich der Träume glitt, streckte ich im Halbdunkeln meine Hand nach oben, darauf bedacht, den Abkömmling nicht zu wecken, aber gleichzeitig die Aufmerksamkeit des Römers zu gewinnen. Der Römer reckte seinen Kopf. Ich flüsterte „Geschenkpapierrolle!!“. Er kuschelte sich an das Kind heran, löste den kindlichen Daumen und wollte dann die restlichen Finger von der Rolle lösen, doch das Kind schrie bereits los. Mist! Der kleine Kerl hatte noch nicht richtig geschlafen. Der Römer ließ von seiner Hand und der Geschenkpapierrolle ab, um ihn dann sofort mit beruhigenden „Sssch’s“ zu besänftigen. Ein paar Mal nuckelte Signorino empört am Schnuller, um dann wieder einzuschlafen. „Nochmal?“, flüsterte ich nach 5 Minuten, in denen der Römer und ich unbeweglich wie zwei Eisblöcke neben dem Kind lagen. „Bloß nicht wecken!“ war die Devise. Der Römer schüttelte den Kopf und zeigte Richtung Tür. Wir schlichen uns aus dem Zimmer. Im Flur besprachen wir die Taktik. „Wenn die Entspannungsphase im Schlaf einsetzt, dann wird Signorino ganz von alleine von der Rolle ablassen und wir können sie mühelos und ohne Geschrei entfernen. Notfalls packst du erst morgen die Geschenke ein.“, erklärte mir der Römer seinen Plan. Ich stimmte zu. Als wir gegen Mitternacht ins Bett gingen, lag unser Sprössling mit seiner Geschenkpapierrolle im Klammergriff tief schlafend im Bett. „Und jetzt?“, flüsterte ich. „Ich schlaf doch nicht neben einer Geschenkpapierrolle?!“ Der Römer musste sich bei diesem Gedanken ein Lachen verkneifen und hielt sich den Mund zu, um das Kind nicht zu wecken. „Dai! Non ti preoccupare. [Komm schon! Mach dir keine Sorgen.] Jetzt kann man ihm die Rolle einfach wegnehmen.“ Sie ahnen es: Man konnte nicht. So schliefen wir also zu viert im Bett: Der Römer, Signorino, die Geschenkpapierrolle und ich. Wann immer sich das Kind drehte, und das tat es oft und viel, hatte man entweder einen kleinen Fuß im Bauch, eine Geschenkpapierrolle im Gesicht oder eine Hand auf dem Kopf. Irgendwann wurde es mir zu bunt. Ich quartierte mich aus. „Es wird Zeit, dass das Kind alleine schläft.“, dachte ich noch. Dann schlief ich ein.

Am nächsten Tag verbrachten Signorino und die Geschenkpapierrolle den Tag miteinander. Als die junge Freundschaft zur Mittagsschläfchenzeit immer noch nicht vorbei war, beschloss ich, die Geschenke in Geschenkpapier mit der Aufschrift „Happy Birthday!!“ zu verpacken. Anderes Papier hatte ich nicht zur Verfügung. Das Kind kann nicht lesen und in 30 Jahren werden wir bei der PowerPoint-Präsentation (oder was auch immer es dann geben wird) anlässlich seiner Hochzeit alle etwas zu lachen haben, sofern er denn überhaupt heiraten will. Nachdem alle Geschenke eingepackt waren, das Kind wieder wach und fit für die zweite Tageshälfte, verlor er, wie sollte es anders sein, sein Interesse an der Geschenkpapierrolle.

Der 24. Dezember war ansonsten recht unspektakulär. Es gab in unserer Wohnung keinerlei Weihnachtsdeko, was der mangelnden Zeit im Dezember geschuldet war. Das Kind riss seine Geschenke gegen 19 Uhr auf und wollte ansonsten gerne „Bobo Siebenschläfer*“ gucken. Der zweite Weihnachtsfeiertag plätscherte so vor sich hin. Morgens nieselte es, nachmittags schneite es, aber es war auch vollkommen egal, welches Wetter vor unseren Fenstern tobte. Wir hatten eh nicht vor, heute das Haus zu verlassen. Selbst der Knirps wollte nicht raus, trotz mehrmaligem Anbieten eines Spielplatz-Besuches. „No’malBoboJA?! [Nochmal Bobo Siebenschläfer, ja?]“, war seine Antwort. Dabei muss ich hervorheben, dass seine Satzstruktur mich stark an unseren neuen, überaus freundlichen Kebab-Dealer Cetin erinnert. „ZweiMalDönerMitAllesScharf,JA?!“, sagt Cetin, wenn die Schlange vor seinem Laden sich mal wieder um die nächste Straßenecke schlängelt. Da Cetin nicht nur überaus freundlich und schnell ist, sondern, hier lege ich mich fest, einen der besten Döner Frankfurts anbietet, ist seine Satzstruktur aufgrund des hohen Aufkommens an hungrigen Gästen oft auf das Nötigste reduziert. Er kann aber auch ganz normal sprechen, wenn nicht Horden von hungrigen Frankfurtern vor seinem Laden warten. Dennoch weiß ich nicht, ob es für uns als Eltern spricht, dass das Kind nun diese Satzstruktur aufweist. Zu unserer Verteidigung möchte ich trotzdem erwähnen: Wir hatten im Dezember echt viel zu tun und haben nur deswegen so oft bei Cetin bestellt. Immerhin sagt das Kind noch nicht „NächsteBitteHalloMeinFreundWasDarfsSein?“.

Am Abend des 25. Dezembers machten wir etwas total verrücktes: Wir buchten unseren Sommerurlaub. Das taten wir noch nie so früh, was einerseits daran lag, dass wir ein sehr unstetes Leben hatten und nicht länger als zwei Wochen im Voraus planen konnten. Andererseits lag es an der ständigen Ungewissheit, wann wir überhaupt Urlaub nehmen können, ob und wann wir einen Kitaplatz finden, ob und wann wir umziehen, usw.. Doch dieses Jahr haben wir bereits alle Unwägbarkeiten, von denen wir zum heutigen Zeitpunkt wissen können, abgeklärt. Dazu sind wir dieses Jahr umgezogen, haben eine Kita gefunden und werden unseren Urlaub rechtzeitig beantragen.

Dazu wussten wir: Die Kita schließt in den letzten zwei Augustwochen. Irgendjemand muss das Kind betreuen. Wir arbeiten beide und somit ist es klar, dass wir uns in dieser Zeit frei nehmen werden. Zuerst buchten wir fünf Nächte in Rom in dem Reihenhäuschen, dass wir 2020 kennen und lieben gelernt hatten. Dann dachten wir daran, dass wir danach den Zug nach Bari nehmen könnten und in Polignano a Mare eine Woche bei einem römischen Freund verbringen könnten. Die Züge waren noch nicht buchbar, was wenig verwunderte, denn DB Tickets* kann man auch erst drei Monate vorher buchen. Der Römer und ich redeten etwas über Albanien und über Gjiri i Lalzit, die Lalzit Bucht. etwas oberhalb von Durrës. Hier waren wir das erste und letzte Mal am Meer als ich mit Signorino schwanger war. Furchtbar langweilig, wenn man als Paar dort ist. Mit Kind sieht das aber ganz anders aus: Es gibt einen langen Strand, zwei Restaurants, drei Spielplätze, viele Kinder, ein Café, fertig. Dazu ist die Wohnanlage von langen Wohngebietsstraßen durchzogen, die zu allen heiligen Zeiten von einem Auto befahren werden. Davor und danach gehört die Straße den Kindern mit Laufrädern, Bobby Cars und Fahrrädern. „Ach, ich weiß nicht.“, stöhnte der Römer bei der Vorstellung. „Warum in den Norden schweifen, wenn wir im Süden die besten Strände des Landes haben?“ Ich bat ihn, mir noch ein Mal die Bilder von Orten wie Dhermi, Ksamil, Palasë und Himar zu zeigen. Hübsch sah es dort aus. Wir suchten nach Unterkünften. Der Haupttenor des Römers war bei jeder Unterkunft “Ma che cos’è? [Aber was ist das denn?] Das würde ich nicht mal an den Mann** meiner Schwester vermieten.“ Irgendwann, durch eine göttliche Fügung, fanden wir eine Unterkunft die dem Römer genehm war. Der Preis im August sprach aber auch für sich. Gleichzeitig glänzten die römischen Augen. „Okay, können wir machen. Dann wird aber Rom storniert. Wir sind doch nicht Graf Koks!“, erklärte ich dem Römer. „Okay, kein Problem.“, sprach der Gatte und stornierte in zwei Klicks den Besuch in Rom. „Dann nehmen wir am besten ein Taxi bis dorthin.“, schlug er vor. „Ne, ne, ne, ne, ne! Sicher nicht. Das kenne ich schon. Vergiss es!“, insistierte ich blitzschnell. „Ma perché no? [Aber warum nicht?]“, wollte der Römer wissen. Ich hatte meine innere Kontra-Liste schon seit 2019 fertig in meiner virtuellen Albanien-Schublade und feuerte ein Argument nach dem anderen ab: „1. Mir ist bis jetzt kein albanischer Taxifahrer begegnet, der nicht die ganze Zeit durchgeredet hat. Natürlich in einem undefinierbaren, albanischen Dialekt. Mit dir. Die Fahrt dauert mindestens vier Stunden. Ne, danke. 2. Entweder Taxis haben keine Klimaanlage und ich fühle mich wie ein Grillhähnchen. Oder aber es gibt eine Klimaanlage. Dann ist die Einstellung immer auf „Winter in Jakutsk“. 3. Die Blicke! Jedes Mal, wenn ich den Kindersitz für Signorino installiere, werde ich angeguckt als hätte ich sie nicht alle. Das reicht mir schon, wenn dein Bruder mich so anguckt. 4. Gespräche über Deutschland. J-E-D-E-S einzelne Mal. Es scheint, als wärst du ein Gesandter der albanischen Botschaft in Berlin. Der Fahrer feuert also ein unbestätigtes Gerücht über Deutschland ab und du übertreibst es entweder mit deinen Lobeshymnen oder du machst Deutschland so schlecht, dass man denkt, man wohnt in einem seelenlosen Land voller dysfunktionaler Menschen. 5….“ Der Römer unterbrach mich: „Ist ja schon gut. Was willst du stattdessen machen?“ Ich grinste. Auch hier hatte ich bereits meine Lösung feinsäuberlich vorbereitet: „Ich buche einen Mietwagen. Bei Firma X – am Flughafen. Nicht wieder bei einer Mietwagenplattform, wo ich irgendeine Schrottbrasse in der Stadt abholen darf und wenn ich ankomme, sagt man mir: ‚Oh, da haben Sie aber Glück, dass sie fünf Minuten zu früh dran sind. Denn das ist unser letzter Mietwagen. Na ja, dann hat das Paar nach Ihnen eben Pech.‘ Wenn ich einen Mietwagen vier Monate vorher gebucht und bezahlt habe, brauche ich kein „Glück“. Der Mietwagen steht dort, wie vertraglich vereinbart, und wartet darauf von mir übernommen zu werden. Außerdem will ich die Mietwagenkategorie „Panzer“. Nie wieder fahre ich mit einer halbkaputten Coladose auf den Straßen Albaniens. Ich bin doch nicht lebensmüde. Wir haben teure Fracht an Bord, unseren Signorino.“ Ich drehte den Bildschirm zum Römer, um ihm zu zeigen, was ich mir genau vorstellte. „So viel Geld? Bist du irre! Sollen wir nicht lieber meinen Schwager Besim fragen, ob wir seinen Hyundai*** in der Zeit haben dürfen?“, wollte der Römer wissen. „Ne, danke. Auch das kenne ich schon. Natürlich sagt er sofort Ja, weil er zum heutigen Zeitpunkt denkt, dass er es schon irgendwie hinbekommt seinen Hyundai*** zu verleihen. Wenn wir dann Mitte August mit Kind und Koffer vor seiner Tür stehen, ist er so überrascht, dass er uns den Kleinstwagen seines Sohnes anbietet, denn der Hyundai*** sei angeblich in der Werkstatt. Zu dritt quetschen wir uns dann in den alten Opel Corsa*** und tuckern nach Dhermi. Ne, ne, mein Lieber! Entweder das – zu meinen Konditionen oder wir fahren an die Nordsee.“, machte ich dem Römer klar. „Gut, dann fahren wir an die Nordsee.“, trotzte er und verschränkte die Arme. Ich zeigte ihm wortlos die Wassertemperaturkurve der Insel Amrum. „Okay, und du meinst, dass ein Taxi vom Flughafen Tirana nach Dhermi wirklich keine Option darstellt?“, wollte der Gatte noch einmal wissen. „NEIN!“, sprach ich. „MamaPapaBoboJa? [Mama, Papa, darf ich Bobo Siebenschläfer gucken?]“, sagte eine leise Stimme. Signorino hatte sich unbemerkt aus dem Bett ins Wohnzimmer geschlichen. „Nein, Schatz. Du gehst jetzt wieder ins Bett.“, erklärte ich unserem Ableger. „TschuTschuWaJa? [Das Lied TschuTschuWa wäre auch in Ordnung für mich, Mutter.]“, versuchte es der Nachwuchs weiter. „Nein, auch das nicht. Komm, wir gehen zusammen ins Bett.“, schlug ich ihm vor. Seine kleine, warme Hand nahm meine und ich brachte ihn wieder ins Bett. Diesmal klappte es auch ohne römische Verstärkung. Als ich nochmals aufstand, buchte ich die Mietwagenkategorie „Panzer“ zum Preis einer halben Niere. „Freiheit kostet Geld.“, pflegt mein Vater immer zu sagen. Recht hat er.

Ein Schokotörtchen gab’s auch noch. Die Fenster sind ungeputzt, aber das fällt bei dem Vordergrund und dem schrecklichen Wetter kaum auf. 😉

*Eine Fernsehsendung der Öffentlich-Rechtlichen. Werbung, unbezahlt und unbeauftragt

**Man akzeptiert ihn, mag ihn aber nicht besonders, weil er so dickköpfig ist

***Werbung, unbezahlt und unbeauftragt

Ein denkwürdiger Tag

Ich weiß nicht, was Sie gestern um 13:27 Uhr gemacht haben und vermutlich wissen Sie das auf die Minute genau auch nicht, aber ich habe zur genannten Uhrzeit meine wissenschaftliche Hausarbeit bei der Universität hochgeladen. Überpünktlich wie die Maurer, drei Tage vor meinem selbst gesetzten Abgabeschluss. Dass ich den gesetzten Abgabeschluss zwischen Oktober und Dezember drei Mal verschoben habe, kehre ich an dieser Stelle großzügig unter den Tisch. Am Ende zählt eben nur das Ergebnis, welches im besten Fall im Februar veröffentlicht wird. Ob die Universität mein schnittiges Dr. Markus Söder Thema auch so pfiffig finden wird? Ich werde es Ihnen berichten, oder aber: Es unter den Tisch kehren – zu meinen verstrichenen Abgabeschluss-Daten. 😉

Symbolbild: Ein Lernender (Römer).

Dabei muss ich erwähnen, dass ich gestern Morgen absolut nicht damit gerechnet hätte, etwas abzugeben – außer meiner Seidenpapier starken Nerven. Der Mann, der immer zur Arbeit geht, egal in welchem Zustand, meldete sich gestern früh erst bei mir und dann bei seinem Arbeitgeber krank. Wenn Sie sich auf eines beim Römer verlassen können, dann ist es, dass er selbst auf dem Arbeitsweg angeschossen, noch zur Arbeit humpelt und seine Stunden abarbeitet. Aber heute hatte er migränebedingte Kopfschmerzen, die ihn zwangen, seinen Arbeitgeber über sein Fernbleiben der Arbeitsstelle zu informieren. Das wiederum hieß für mich, nicht er würde Signorino zur Kita bringen, sondern ich. Also machte ich mich in aller Eile zurecht, ging vor ungewohnter Dienstags-Aufregung drei Mal aufs Töpfchen, nur, dass der Römer sich dann in die Jacke schmiss und auch zur Kita mitkommen wollte. Trotz intensiver Bemühungen meinerseits und dem Hinweis, dass er am besten im Bett aufgehoben ist, insistierte er. Also fuhren wir zu dritt zur Kita und brachten das Kind in eine sichtlich leere Betreuungsstätte. Dabei ist es nicht dem vorweihnachtlichen Reiseverkehr zu den Verwandten geschuldet, dass die Kitakinder der Einrichtung fernblieben. Vielmehr erreichte mich am Montagmittag eine E-Mail, dass die beiden Nachbargruppen in Corona bedingte Quarantäne mussten. Ein Glück gab (und gibt) es keinen Fall in Signorinos Gruppe (toitoitoi). Dennoch lassen viele Eltern ihr Kind bereits daheim, um nichts zu riskieren. Da wir eh nirgendwo hinfahren, schickten wir das Kind trotzdem. Trotz alledem würde eine x-tägige Weihnachts-Quarantäne nicht auf meiner Weihnachtswunschliste zu finden sein.

Als wir Signorino um 09:20 Uhr abgegeben hatten, fuhr ich den Römer und mich wieder nach Hause. Der Römer frühstückte, ich tippte nervös Nichtssagendes in den PC, weil ich mich bei seinen Frühstücksgeräuschen nicht konzentrieren konnte. Dann ging der Herr des Hauses schlafen und mein nichtssagendes Getippe wurde endlich von wissenschaftlich fundierten Aussagen abgelöst. Bis 12:55 Uhr klimperte ich geschäftig auf der Tastatur meines PCs umher bis ich zufrieden auf „speichern“ klickte. Geschafft!

Nach einem zwanzigminütigen Anfall meinerseits, in dem ich die Prüfungsplattform meiner Uni verfluchte, gelang es mir doch noch meine Arbeit hochzuladen. Währenddessen schaufelte ich hektisch Ravioli in mich hinein, die der bereits erwachte Mann uns zubereitet hatte. Um 13:27 Uhr war es dann vollbracht. Ich war ein freier Mensch – bezogen auf dieses abgelegte Modul. Und meine Freiheit kann und konnte ich auch nur unter Vorbehalt genießen. Wer weiß, ob ich das Modul bestanden habe? Immerhin hatte ich jetzt genug Zeit, den Römer zu betrachten. Er sah nach seinem Schläfchen gleich viel gesünder aus. So voller Farbe im Gesicht und einem halbwegs zufriedenen Lächeln auf den Lippen.

Um 14 Uhr wollte der Römer wieder mitfahren, um Signorino abzuholen. Als wir ankamen, kümmerten sich zwei Erzieherinnen um zwei Kinder. Mehr Kinder waren nicht (mehr) im Gruppenraum. Das Kind war dennoch froh, abgeholt zu werden und hüpfte uns in Strumpfhose entgegen. Als alle angezogen, verpackt und verladen im Auto saßen, fragte ich den Römer, ob wir noch kurz nach Frankfurt-Oberrad fahren könnten, denn dort würde ich gerne Gratis-Pflanzen abholen. Er willigte ein und auch Signorino hatte nichts dagegen. Klar, der kleine Kerl hatte auch noch ein Butterbrot in der Hand, an dem er geschäftig nagte. In Oberrad angekommen wurden Fahrerin und Beifahrer auch nur ein einziges Mal und ganz kurz laut, weil der Römer mein Handy auf die Mittelkonsole legte, es prompt in einer engen Kurve auf meine Seite fiel und ich panische Angst hatte, dass es sich unter dem Gas- oder, noch schlimmer, Bremspedal verfangen würde. „Ma che! [Ach was!]“, trotzte der Beifahrer ohne Fahrerfahrung. Meine Hypothese lag außerhalb seiner Vorstellungskraft. Wie so vieles, was mit dem Fahren und Führen von Kraftfahrzeugen zu tun hat. „Fahr halt einfach rechts ran.“, empfahl er mir flapsig auf der dreispurigen Fahrbahn im frühen Berufsverkehr, wobei sich linkerhand eine Tram vorbeiquetschte und rechts Offenbacher Sportwagen an uns vorbeizogen. Ich motzte irgendetwas, wobei der Römer meinen meist gehassten Satz überhaupt darauf antwortete: „Du – fahr einfach! Ich mach den Rest.“ Dieser Satz lässt eine ungeahnte Aggression in mir aufsteigen. Das ist gar nicht in Worte zu fassen, was dieser unverschämte, römische Imperativ mit mir macht. Dazu muss ich ergänzend erwähnen, dass ich mich jedes Mal frage, was denn dieser besagte „Rest“ ist, von dem der Römer als Beifahrer spricht und um den er sich immerzu kümmern will? Meint er damit, dass er Schnittchen und kühle Getränke serviert? Einmal feucht durch die Fahrerkabine feudelt? Die Fenster putzt? Ich weiß bis heute nicht, welche verantwortungsvolle Aufgabe ein Beifahrer hat, von der ich in all den Jahren nichts mitbekam. Doch, Moment. Eine Aufgabe gibt es: Wenn wir zum Supermarkt fahren und in dessen Tiefgarage parken, ist es seine Aufgabe, das Parkticket vom Auto bis zur Tiefgaragenausfahrt in der Hand zu halten und es mir zum richtigen Zeitpunkt auszuhändigen, während ich versuche, nicht zu nah und nicht zu weit von der Säule, die unser Parkticket entgegen nimmt, anzuhalten. Wobei die Aufgabe mir das Ticket auszuhändigen auch von der Mittelkonsole äußerst gewissenhaft erledigt wird.

Pflanzen auf dem Fensterbrett. Die erste auf dem Bild wurde mir überlassen, weil die ehemalige Besitzerin dachte, ich hätte einen grünen Daumen. Na, wenn die gewusst hätte, dass ich passive, florale Sterbebegleitung ausübe, dann hätte sie sie vermutlich behalten.

Doch zurück zum Oberrader Verkehrsmanöver: Irgendwann und irgendwie schaffte ich es dann, ohne Handy, dass sich unter den Pedalen verfing, in eine unscheinbare Einfahrt und friemelte das Handy aus dem Fußraum. „Hier! Festhalten“, pflaumte ich den Römer an und drückte ihm mein Handy in die Hand. Dann entriss ich es ihm sogleich wieder, weil ich nachschauen wollte, wo wir hier überhaupt waren. Die Landkarten-App gab mir an, dass wir nur 200 Meter von unserem Zielort entfernt waren. Ich ließ das Auto (aus Sicherheitsgründen) in der Einfahrt stehen, sprintete die Straße entlang und hüpfte in den 1. Stock, um die Pflanzen von einer netten Kleinanzeigen-Dame abzuholen. Da ich privat zwar einen halbwegs grünen Daumen habe, in der Arbeit aber den Tod der ein oder anderen Pflanze auf meinem Konto verbuchen muss (darunter einen unkaputtbaren Kaktus und einen Bogenhanf🙈), brauchte ich Ersatz, damit mich mein Chef nicht wegen floralem Todschlags entlässt. Ich holte also eine Tüte neuer Leidensgenossen in einem gepflegten Wohnhaus ab und hoffte, dass diese grünen Freunde nach einer kurzen Zeit bei mir schlussendlich auch im Büro überleben werden. Im Auto angekommen verstaute ich meine Tragetasche sicher im Fußraum der Rückbank und ließ den Motor an. Von der Rückbank kam ein leises, aber im Fahrtverlauf immer lauter werdendes „Iiiigel!!“. Der Nachwuchs wollte einen Riegel, aber konnte das dazugehörige R noch nicht aussprechen. Egal – sein Wunsch kam trotzdem bei uns an. Der Römer kramte in meinem Rucksack, doch dort war kein Riegel zu finden. „Du hast vergessen, Riegel in deinen Rucksack zu füllen.“, unterrichtete mich der Römer. „Und du hast nicht einmal einen Geldbeutel dabei. Wird sicher ganz schön kalt, wenn ich dich hier an der Ecke rauslasse und du heimläufst.“, konterte ich. Der Römer maulte etwas nach. „Trotzdem haben wir keinen Riegel für das Kind.“, wiederholte er. Ich nickte. Noch 2,5 Kilometer nach Hause. Er wird schon nicht durchschreien. Auf Höhe des Frankfurter Hauptbahnhofes brüllte Signorino so laut „Iiigel!!!“, dass ich den Römer anwies, ihm das Päckchen gefriergetrocknete Erdbeeren zu geben. „Gesunde Chips für Kinder.“ stand auf der Packung. Ich wusste auch, warum sie so gesund waren. Durch ihren unangenehmen, sauren, aber naturbelassenen Geschmack lässt jedes Kind freiwillig von diesen Chips ab und isst lieber den eigenen Jackenärmel. Doch in der Not war uns jedes Mittel recht, dass ein paar Augenblicke lang das laute Brüllen im Auto unterband und uns sicher und konzentriert durch den Stadtverkehr kommen ließ. Signorino schniefte und brüllte immer noch. „Sicher?“, fragte der Römer. Wir wussten beide, dass diese Erdbeeren seit Wochen im Auto mitfuhren und Signorino diesen Snack bis jetzt jedes Mal verschmähte. Aber was hatten wir jetzt noch zu verlieren? Er tobte eh schon unaufhörlich. Im Gutleutviertel angekommen verstummte das Kind und kaute zufrieden saure Erdbeerchips. Sogar ein „Mmmh.“ kam aus dem Fond des Autos. Irgendjemand hatte uns wohl heimlich das Kind in der Kita ausgetauscht. Wir nahmen die plötzliche Ruhe dankend an und freuten uns über die letzten, ruhigen Meter bis wir von Signorino mehrmals aufgefordert wurden „Tschu Tschu Wa“ zu singen. Nach 500 Metern war der Spuk vorbei. Wir rollten in die Hofeinfahrt. Laut singend. Das Kind war selig. Wir beinahe heiser.

Daheim angekommen leerte ich zwei Packungen Riegel in meinem Rucksack aus. Sicher ist sicher, denn die Packung mit den gefriergetrockneten Erdbeeren war nun leer.

Uno, due, cento. Eins, zwei, hundert.

Es ist 03:30 Uhr nachts. Draußen ist es kalt, aber nicht so kalt wie ich dachte, als ich mir vorhin schnell den Mantel überwarf. Signorino brüllt. Eben so wie er das seit 7 Uhr morgens machte. Der einzige Unterschied zu tagsüber ist, dass er jetzt keine Schrei-Pausen mehr macht. Er schreit seit 22 Uhr ununterbrochen. Dabei tastet, oder vielmehr wühlt, er sich stimmlich durch mehrere Oktaven. Wir haben alles versucht. Und mit alles meine ich jede erdenkliche Idee, die uns Eltern in den Sinn kam. Nur der, der schreit, gibt uns keinen Hinweis darauf, wie zum Henker er beruhigt werden möchte. Der Geistesblitz, dass kühle, frische Luft entspannend wirkt, kam mir übrigens gegen 03:15 Uhr, weswegen wir uns hier in der menschenleeren Allee befinden. Nicht einmal ein Auto rollt die Straße entlang. Nur Signorinos Brüllen lässt erahnen, dass hier Menschen wohnen. Und, das Brüllen gibt einen weiteren Hinweis: Mein Plan ging nicht auf. Kühle, frische Luft wirkt in dieser Nacht weder auf das Kind, und, in diesem Zuge auch nicht auf die Eltern, entspannend. Wir flüchten nach Hause, quälen uns hastig durch den Hausflur und laufen zur Wohnungstür. Schnell schließen wir sie hinter uns. Das Kind kreischt noch immer und wir stehen einer Mauer aus Gefühlen gegenüber, die aus Hilflosigkeit, Scham, Wut, Verzweiflung und Mitleid konstruiert wurde. Jeder Schrei Signorinos ist ein neuer Backstein dieser Mauer, die sich minütlich höher und höher schraubt und damit unüberwindbar scheint.

Dazu haben wir uns als Eltern eines Schreikindes zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Mal gestritten, aus Verzweiflung angebrüllt, uns gegenseitig die Schuld an Signorinos Schreien gegeben und am Ende mit dem sofortigen Verlassen der Familie gedroht. Nicht, weil irgendwer das tatsächlich vor hätte. Viel mehr, weil wir nicht mehr weiter wissen. Um 03:35 Uhr ist der Römer an dem Punkt, an dem wir schon öfter waren: “Ruf das Jugendamt – oder vielmehr die Polizei! Die sollen uns Signorino wegnehmen. Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende.” Ich nehme ihm das nasse Bündel heulender und schreiender Mini-Mensch ab. Es brüllt und schlägt um sich. Letzteres ist neu und mit unter schmerzhaft, wenn er die Augenbraue mit dem kleinen Ellbogen trifft.

Um 03:42 Uhr rufe ich beim ärztlichen Bereitschaftsdienst an. Signorinos Zustand ist nervenaufreibend, aber sicher nicht lebensbedrohlich. Meine Daten werden aufgenommen und an den diensthabenden Arzt weitergeleitet. Er rufe gleich zurück, sagt der nette Herr am Telefon. Man merkt jedoch, dass er hinsichtlich der Problematik des seit Stunden schreienden Kindes auch nicht recht weiß, was man den Eltern raten soll. Ist ein stundenlanges Schreien überhaupt ein medizinisches Problem oder viel mehr ein psychisches? Sind die Eltern nur überfordert oder steckt eine ernste Angelegenheit dahinter? Fast scheint es mir, als belächle der Herr in der Hotline unsere Situation. Und sollte er sie nicht belächeln, so fand er sie vermutlich übertrieben. Dabei muss ich an den Satz “Ein Kind schreit halt mal.” denken. Wie oft habe ich diesen Spruch von meinen Umfeld gehört? Jedem einzelnen dieser Personen wünsche ich eine, nur eine einzelne Nacht mit einem Schreikind.

Sie sehen es an der bunten Kleidung: Das war ich in den wilden 90ern.

Während wir auf den Anruf des diensthabenden Arztes warten, ziehen wir Signorino wieder um. Er weint und brüllt so viel, dass sein Pyjama-Oberteil nass ist. Vier Mal haben wir ihm in den letzten Stunden das Oberteil gewechselt, weil es ganz durchweicht war. Signorino beruhigt sich noch immer nicht. Ich versuche das Handy zu hypnotisieren, auf dass der Arzt baldmöglichst zurückrufen würde. Doch nichts passiert.

Der Römer legt sich in das Kinderbett. Signorino krabbelt dazu, will aber von niemanden angefasst werden. Alle Versuche schlägt er vehement zurück. Der Römer spielt eines von Signorinos Lieblingsliedern ab, auf dass sich der kleine Kerl beruhigen möge. „Je t’aime.„, haucht die hübsche Südfranzösin durchs Kinderzimmer. Signorino kreischt weiter. Der Trick mit dem Lied war sicher ein Versuch wert. Aber was die letzten sechs Stunden nicht geklappt hat, wird jetzt vermutlich auch nicht klappen.

Das Videoportal schlägt mir Regengeräusche als Meditations- und Einschlafmusik vor. Ich klicke auf den Vorschlag. Was habe ich schon zu verlieren? Es regnet nun klangvoll im Kinderzimmer. Der Römer dreht sich nach rechts. Signorino tut es ihm nach. Es sähe witzig aus wie der sehr kleine Signorino der große Löffel sein will, wenn wir nicht in dieser Situation gefangen wären, aus der vermutlich alle Beteiligten hoffen, schnellstmöglich ausbrechen zu können. Am Telefon tut sich noch immer nichts.

Der kleine Löffel weint und wimmert. Wie gerne würden wir ihm helfen! Mein kleiner Spatz. Der Römer will ihn in den Arm nehmen und dreht sich um. Signorino will immer noch keine Berührung zulassen und rastet nochmals richtig aus. Der Römer dreht sich einfach um und hält sich die Ohren mit einem Kissen zu. Signorino setzt sich auf und starrt mich, die ich gegen das Bett gelehnt bin, mit großen, geschwollenen Augen an. Der Mund ist weit aufgerissen. Meine Hand schlägt er weg.

Nach kurzer Zeit legt er sich wieder hin. Er schreit, wimmert, es wird etwas leiser, dann wieder lauter, dann kann man nur noch ein klägliches Gejammer vernehmen. Langsam, langsam wird es schwächer. Er atmet gleichmäßig. Zwei Mal schreit er noch, dann ist Ruhe.

Nach 6 Stunden Dauerschreiens.

Um 04:02 Uhr ruft der diensthabende Arzt an. Ein älterer Hesse mit Bierbauch und Rauschebart. Die beiden letzten Details kann ich zwar nicht explizit hören, aber mein Kopf konstruiert sie so. “Sie haben wegen Ihres Sohnes angerufen.”, spricht er. Ich schleiche mich aus dem Kinderzimmer und flüstere: “Ehrlich gesagt hat sich das Problem gerade nach Stunden erledigt. Er ist eingeschlafen.” Der Arzt räuspert sich. “Eingeschlafen? So, so. Na dann, auf bald!” Ich hoffe, er meint die letzten Worte seines Satzes nicht ernst.

Ja, ich habe es mir idyllischer vorgestellt, dieses Muttersein. Natürlich nicht mit einem Himmel voll rosa Wolken und einem immer gut gelaunten Baby. Aber mit einem Kind, das nicht stundenlang kreischt. Es ist unheimlich kräftezerrend.

Dennoch: Es ist besser geworden seit er ein Kleinkind ist. Aber ab und an, wenn er zahnt oder es ihm besonders schlecht geht, wird er zu dem Schreibaby, das er war. Es geht mir dermaßen an die Substanz, das ich mir in diesen Situationen wünsche, nie Mutter geworden zu sein. Nur wer in etlichen dieser Situationen war, kann die Ohnmacht und Wut darüber nachvollziehen.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer schiele ich durch die Wohnzimmertür. Dort sieht es aus wie nach einem Kampf: Ein angebissenes Brot liegt verteilt auf der Couch. Daneben Wäscheklammern, Papierschnipsel, ein Kinderschal und Mützen. Daneben stapeln sich Winterjacken auf dem Stuhl. Zwei Wasserflaschen stehen auf dem Boden. Kissen liegen überall verteilt herum. Auf dem Tisch steht eine Schüssel Haferbrei, den ich um 01:30 Uhr für Signorino kochte. „Vielleicht hat er nur Hunger?“, dachte ich, denn den ganzen Tag aß er kaum etwas. Doch selbstredend verschmähte er den Brei. Nicht einmal Schokolade wollte er.

Um 04:35 Uhr schreckt Signorino wieder hoch. Er brüllt abermals, schlägt um sich, ist extrem aggressiv. Alles, was er greifen kann, schleudert er durch das Kinderzimmer. Dann steht er auf, geht durch die Wohnung, rastlos, ziellos, planlos. Nichts und niemand kann ihn beruhigen. Der Römer kommentiert, das Kind sei ein Besessener, ein Psychopath. Vielleicht mag Ihnen die Wortwahl extrem hart erscheinen, denn schließlich reden wir hier über einen knapp Zweijährigen. Und in einer normalen bis tolerierbaren Situation haben Sie absolut recht. Doch dies ist eine Ausnahmesituation. Dazu kommt die Müdigkeit aller drei Protagonisten. Und Müdigkeit, so viel sei gesagt, ist ein unbarmherziger Gefährte. Jede trüb erscheinende Situation wird augenblicklich zu einer rabenschwarzen. So auch hier: Ein stockfinsterer, vor Trostlosigkeit tropfender Schleier legt sich auf den gegenwärtigen Moment, der dadurch vollkommen aussichtslos wirkt.

Natürlich geben wir nicht auf und versuchen alles, damit Signorino sich wieder beruhigt. Der Römer verliert seinen kühlen Kopf und redet von der Einweisung in die Psychiatrie. Ob er damit uns oder aber das Kind meint, weiß ich nicht. Wir sind wieder drauf und dran uns anzuziehen, loszufahren und ins Krankenhaus zu eilen. Seltsamerweise kommt mir in den Sinn, dass wir erst eine Suchmaschine befragen sollten, was das sein könnte. Google* ist sich sicher: Ein Nachtschreck. Würde Google sprechen können, wäre es eine dieser Übermütter, die abwechselnd sanft und flötend säuseln. “Streicheln Sie Ihr Kind nicht! Fassen Sie es nicht an, auch wenn es schwer fällt. Reden Sie stattdessen sanft und leise auf ihr Kind ein. Nach 10 bis 15 Minuten ist der Schreck vorbei und ihr Kind schläft wieder ein. In Ausnahmefällen kann es auch 45 Minuten dauern.

Oder in unserem Fall eineinhalb Stunden. Das ist zwei Mal der Ausnahmefall. Aneinandergereiht.

Um 06:15 Uhr schläft Signorino endlich ein. Man soll laut Google* bloß keine Lieder abspielen, Licht anmachen, das Kind wecken (haha – als ob das möglich wäre). Letztendlich habe ich mich der Suchmaschine widersetzt und ein Lied von Ultimo, einem italienischen Sänger, abgespielt. Am Anfang dieses Liedes zählt der Sänger leise und melodisch: “Uno, due, tre. Uno, due, cento. [Eins, zwei, drei. Eins, zwei, hundert.]” Ja, genau so fühlt sich diese Nacht an. Irgendwie verrückt, unlogisch, unerklärbar. Als würde man bis 100 zählen, aber die Ziffern 3 bis 99 dabei weglassen. Uno, due, cento. Eins, zwei, hundert.

Am nächsten Tag schäme ich mich durch unseren Hausflur zu gehen. Penibelst achte ich darauf, niemanden zu begegnen. Unsere Nachbarn müssen denke, wir misshandeln das Kind oder sind Eltern, die ihr Kind stundenlang schreien lassen.

Wissen Sie, ich würde uns generell als fürsorgliche, manchmal zu lasche, ab und an strenge und in meinem Fall vorsichtige Eltern bezeichnen. Aber auf so ein Verhalten waren wir nicht vorbereitet. Wir stellen in diesen Momenten alles in Frage. Aber besonders fragen wir uns: Was zum Teufel machen wir falsch? Die anderen Eltern kriegen es doch auch hin.

Ich denke, der Römer und ich hätten prinzipiell sehr gerne mehr als ein Kind gehabt. Aber noch eines, das sich als Schreikind entpuppt, hält unsere Ehe nicht aus. Unter anderem deswegen versetzt mir die Frage nach einem zweiten Kind jedes Mal einen Stich: Wir würden gerne. Wir können aber nicht, weil wir es nicht schaffen.

Wann immer wir eine dieser Nächte durchlebt haben, sagen wir uns: “Noch so eine Nacht halte ich nicht aus. Das schaffe ich nicht.” Aber ich verrate Ihnen etwas: Das Schicksal lässt einem keine Wahl. Es fragt nicht, was Sie aushalten können oder wollen. Irgendwie geht es immer. Es muss einfach. Notfalls mit einem italienischen Lied: Uno, due, cento. Eins, zwei, hundert.**

*Werbung, unbezahlt und unbeauftragt.

**Das Lied von Ultimo heißt übrigens “Il bambino che contava le stelle.” Das Kind, das die Sterne zählte. Irgendwie passt das.

SauerEI

Und ich sage noch zum römischen Gatten im heimischen Supermarkt: „Du, lass uns lieber zehn Eier (statt sechs) nehmen, die halten länger.“ Das war der erste Fehler einer langen Anreihung an falsch getroffenen Entscheidungen.

Den zweiten Fehler beging ich an der Kasse, als ich dem Römer mit folgendem Satz entlasten wollte: „Amore, gib‘ mir mal lieber die schweren und sperrigen Sachen. Ich lege sie in den Unterkorb des Kinderwagens. Das macht keinen Sinn, dass du alles schleppst.“

Den dritten Fehler machten wir, der Römer und ich, zusammen. Wir waren der Meinung erst die große Einkaufstasche zu entleeren. Danach würden wir in aller Ruhe den Unterkorb ausräumen. Doch Signorino kümmerte sich schon von ganz alleine um den Unterkorb. Erst zog er den 4er Pack Joghurt hervor. Sogleich knüpften wir ihm den Joghurt ab, dachten aber im angeregten Gespräch nicht weiter als bis zum Joghurt-Quartett. Dass im Kinderwagenkörbchen noch andere Artikel auf Signorinos großen Auftritt warteten, kam uns nicht in den Sinn. Daraufhin zog er den Toast hervor und hüpfte damit fröhlich ins Wohnzimmer. Ja, gut. Den würden wir gleich nachher einsammeln, denn bis jetzt weiß er nicht, wie sich der Klippverschluss öffnet.

Somit wären wir bei Fehler Nr. 4 angelangt. Wir vergaßen einerseits, dass im Unterkorb noch Eier lagerten. Andererseits unterhielten wir uns so leidenschaftlich, dass wir – nach Joghurt und Toast – nicht weiter verifizierten, was sich tatsächlich noch im Korb des Kinderwagens befand.

Irgendwann hörte man ein sich in äußerst kurzen Abständen wiederholendes „FLATSCH!“-Geräusch. Ich nahm es nur als Randgeräusch zur Kenntnis, während ich den italienischen Hartkäse einräumte. Der Römer nahm es deutlich bewusster wahr, drehte sich um und schrie: „AAAAH! Figlio mio! Figlio mio! [Mein Sohn! Mein Sohn!]“ Figlio nostro [Unser Sohn] hatte 10 Eier aus ihrem Kartonagen-Zuhause ins Freie katapultiert. Eines überlebte. 9 breiteten sich im Wohnungsflur aus. Der Römer transportierte den jungen Mann, laut schimpfend, ab. Ich wischte derweil die Eierpampe auf. Dazu braucht man übrigens, falls Sie sich die Frage stellen, eine 3/4 Küchenpapierrolle für 9 Eier.

Am Ende war ich dennoch heilfroh, dass der Flurteppich bereits ins neue Heim transportiert wurde. Signorino guckte noch sehr lange sehr betreten. Erst eine Banane lockte ihn wieder aus der Reserve. Schließlich fühlte er sich nach einem halben Vanillepudding später wieder bereit, im Reich der Rabauken zu schalten und walten.

Wie man in Frankfurt einen Kita-Platz findet

Es war Mitte Dezember, 2019. Signorino war wenige Stunden alt und schlief neben mir im Krankenhausbett. Ich registrierte ihn bei diversen Kitas im Umkreis, was in Frankfurt über die Onlineplattform „Kitanet“ geregelt wird. „Ha,“, dachte ich, „wer ist schon so genial und meldet sich am Tag der Geburt des Kindes an?“ Das Schicksal prustete vermutlich los, denn in einigen Städten melden sich Eltern bereits weit vor der Geburt ihres Nachwuchses an. Zum Glück ist das in Frankfurt nicht möglich.

Dann hielt ich ein Jahr die Füßchen still, denn schließlich waren wir online registriert. Zeitgleich begannen die ersten, zarten Stimmen im Bekanntenkreis, die sich im Verlauf des ersten Jahres zu einem stimmgewaltigen (und ziemlich nervigen) Orkan formierten. „Seid ihr verrückt? Ihr müsst bei den Kitas anrufen, Emails mit Ostergrüßen schicken, Kitas besichtigen! So findet ihr nie einen Platz.“ erklärte uns die überragende Mehrheit der Eltern. Nur ein einziger Vater, ein tiefenentspannter Mann um die 40, erklärte uns, dass er sich ebenfalls nur online registriert hatte, ruhig abwartete und kurz vor seinem Wunschtermin von einer Kita kontaktiert wurde. Ohne Ostergrüße, Besichtigungen und einer Zeremonie zu Ehren des Gottes der Kindertagesstätte. Unsere anderen Bekannten zweifelten diese Version stark an. Eine Mutter tat es unter einem lauten Wortschwall als „unwahrscheinlichen Einzelfall“ ab. Somit stand es bei den Elternaussagen 5 zu 1.

Die ersten, zarten Januartage dieses Jahres verbrachte ich damit, zu recherchieren wie man jetzt noch an einen Kita-Platz in Frankfurt kommen könnte. Auf der offiziellen Internetseite stand, dass man „Tage der offenen Tür“ wahrnehmen solle. Ich musste bei diesem Punkt erst einmal laut loslachen. Wir befanden uns mitten in einer Pandemie ungeahnten Ausmaßes. Wenn es momentan etwas in Kitas geben würde, dann waren das „Tage und Wochen der geschlossenen Tür“. Denn schließlich waren die meisten Eltern dazu angehalten, ihr Kind daheim zu betreuen und das bereits seit Monaten.

Ich klickte weiter durch die Internetseite und stolperte über einen anderen Punkt. Er hieß „Vergabe der Kita-Plätze“. Dort las ich, dass es nicht nach Anmeldezeitpunkt, sondern nach Sozialplan ginge. Mist! Meine erste Amtshandlung, nachdem Signorino wenige Stunden alt war, war also für die Katz. Aber natürlich ist diese Regel absolut richtig. Selbstredend sollte ein alleinerziehender Elternteil an erster Stelle bei der Vergabe der Kita-Plätze stehen.

Ich schloss die Seite und gab etwas in eine Suchmaschine ein. Daraufhin fand ich den sehr ambitionierten Blog einer Frankfurter Mutter von drei Kindern. Sie lobpreiste ihre große Erfahrung mit Kitas und der dazugehörigen Anmeldung bereits im Einleitungstext. Weiter im Artikel berichtete sie über einen genauen Schlachtplan und schilderte wie man sich einen Betreuungsplatz in Frankfurt verschaffen könne. Dazu gehörten Kitabesichtigungen im Säuglingsalter, regelmäßige Anrufe bei der Kita-Leitung und Emails mit Fotos des Kindes, um stets präsent zu sein. Damit habe sie bei allen drei Kindern einen herausragenden Erfolg verzeichnen können. Mir drehte sich der Magen um! Nein, das kann ich nicht. Nein, das bin ich nicht. Ich will keine Ostergrüße an Kitas mit Fotos meines Sohnes schicken. Ich klickte auf das kleine X im rechten, oberen Bildschirmrand und klappte den Laptop zu. Aus den Augen, aus dem Sinn.

So verstrichen die Monate bis mich irgendwann erneut die Panik packte. Zugegeben, sie packte mich, weil mich eine automatische Email der Kitaplattform zwölf Wochen vor dem gewünschten Starttermin erreichte. Dort standen erneut Tipps wie „Nutzen Sie unbedingt die Tage der offenen Tür“ oder „Nehmen Sie gerne bereits vorab Kontakt zu den Kitas auf“. Außerdem riet mir diese Email dazu, den Suchradius zu erhöhen und regelmäßig in der Restplatzbörse zu gucken. Als ersten Schritt informierte ich mich in der Restplatzbörse. Puh, alle freien Plätze lagen in den Vororten. Jeden Tag im Auto dreißig Minuten hin- und zurückzufahren im Berufsverkehr? Nein, danke! Dann meldete ich das Kind in anderen Stadtteilen an und schrieb in der Kommentarfunktion einer jeden Kita: „Gerne auch Halbtagesplatz, Mutter arbeitet ab Dezember wieder als Flugbegleiterin“. Am darauffolgenden Tag erzählte ich dem Römer äußerst aufgeregt vom Kita Dilemma. Die irrationale Panik hatte mittlerweile Regie in meinem Kopf übernommen. Mein Gatte war, wie es nicht anders zu erwarten war, sehr gelassen. „Si, si, non ti preoccupare. [Ja, ja, keine Sorge.]“ winkte er ab und lehnte sich mit dem Rücken gemütlich gegen die Stuhllehne, während er interessiert in einem sozialen Netzwerk surfte.

Klasse Tipp, danke auch. Ich war aber besorgt! Sehr sogar. Deswegen bat ich ihn inständig, mir das Kind an zumindest einem Vormittag abzunehmen, damit ich mich durch die Kitas telefonieren konnte. Er willigte ein und es passierte von beiden Seiten – nichts. Die Vormittage verstrichen meist viel zu schnell und mein Telefonvorhaben verschwand irgendwo zwischen der Wäsche, Aufräumen, Putzen, den Keller ausräumen und das Auto zum TÜV bringen. Unter matschigen Marmeladenbrotstückchen, die ich nach unserem sehr späten Frühstück gegen 11 Uhr vom Boden kratzte, geriet meine Telefonaktion vollends in Vergessenheit.

Ein paar Wochen später bäumte sich noch einmal meine Kita-Panik auf. Doch der Römer erstickte sie im Keim: „Amore, versuch‘ doch einfach den Sachen mit Gelassenheit zu begegnen. Es wird sich schon alles finden.“

Was hatte ich schon zu verlieren? Wenn ich keinen Kitaplatz zum Juni finden würde, dann vielleicht im Herbst und wenn es im Herbst nicht klappen sollte, dann vielleicht im Winter. Bis Februar 2022 hatte ich immerhin noch Resturlaub.

Nachdem ich nicht konsequent genug für meine eigene „Stress-Methode“ war und alles, was blieb, nur die ständige Anspannung war, entschied ich mich dazu, die römische Methode auszuprobieren. „Tranquilla. [in etwa: Nur mit der Ruhe.] säuselte der Römer, während wir meist schon im Auge des Stress-Sturms standen. „Andrà tutto bene.“ [Es wird alles gut.] schob er dann noch nach, lächelte und widmete sich wieder einer anderen Aufgabe. Gut, ganz so einfach machte ich es mir nicht. Ich wollte zwar gerne Gebrauch von der römischen Methode machen, brauchte aber, um mich vollends zu entspannen, einen Plan B. So bin ich gestrickt. Das kriege ich nicht aus meiner DNA. Zumindest eine grobe Aussicht wollte ich haben, falls alles in die Binsen ging. Denn „Abwarten und Tee trinken“ ist eine Sache, aber es wirklich so auszuleben wie vom Römer angedacht, ist eine komplett andere. Am zweiten Schritt der römischen Variante, „In letzter Sekunde improvisieren – und das mit größter Gelassenheit zelebrieren“, scheitere ich meistens kolossal. Bei mir brennen alle Sicherungen durch, wenn ich nicht in Ruhe Zeit habe, über die bestmöglichste Variante nachzudenken, so dass ich dann tatsächlich zu dem kopflosen Huhn werde, für das mich der Römer ab und an hält.

So dauerte es ein paar Tage bis ich die Zeit fand, mir einen Plan B zu überlegen: Sollte die römische Methode nicht klappen, werde ich 1.) ab November die deutsche Methode versuchen und alle Kitas abklappern/anrufen, 2.) notfalls meine Elternzeit verlängern müssen, um das Kind dann eventuell mit drei Jahren direkt in den Kindergarten zu schicken. Hier rechnete ich mir größere Chancen aus, da man Kinder erst ab 1,5 Jahren für den Kindergarten in Frankfurt registrieren kann. Das wäre immerhin noch nicht zu spät.

Als mein grober Schlachtplan stand, stieg ich in die römische Methode ein, was mir, als rastloser Mensch, recht schwer fiel. Ich wartete ab. Wann immer sich meine gestresste Agathe, die ökologisch-korrekte Nordendmutter mit dem Lastenfahrrad, meldete und mir eindringlich ins Gewissen redete, dass das doch irre sei, sich um überhaupt nichts zu kümmern, beschwichtigte ich sie mit den Worten, dass man das wie eine Meditation behandeln müsse. Dann zitierte ich noch eine Kalenderblattseite „Alles kommt zur Rechten Zeit in dein Leben. Du musst nur Geduld haben!“ Meine innere Agathe tobte. Passiv-aggressiv, versteht sich. Sonst sehr auf die angemessene, friedvolle Kommunikation vertrauend, rastete sie jetzt komplett aus: „Wir sind in FRANKFURT!! Du findest mit dieser Einstellung nie einen Kita-Platz. Bist du von allen guten Geistern verlassen? Als ob, ohne Vorstellung, ohne vorheriges Telefonat, ohne Email-Grüße von Signorino, dich IRGENDWER anrufen wird – außer vielleicht der psychosoziale Notdienst!“ Ich ignorierte sie, schließlich war ich jetzt zu einer fleischgewordenen, weiblichen Version des Römers geworden. Gelassen schlappte ich in die Küche und machte mir einen Espresso. Signorino nahm derweil das Wohnzimmer auseinander. Ich lächelte entspannt und legte mir noch einen Cantuccio auf den Espressountertassenrand. In aller Ruhe setzte ich mich an den Tisch, beobachtete Signorino wie er dreihundert verschiedene Bauklötzchen durch die Gegend warf, und rührte einen halben Löffel voll Zucker in die fast schwarze Flüssigkeit. Es fehlte nur noch, dass ich auf die Erdumdrehung vertraute, die den Zucker schon verrühren würde. Aber das fand selbst ich, die lockere Römerin, affig.

So verstrichen die Tage und Wochen. An einem Donnerstag Ende März waren wir am Flughafen, um nach Albanien zu fliegen. Genau an diesem Donnerstag rief Frau Det an. Das hörte ich allerdings nicht, was daran liegen mag, dass ich mit Signorino unzählige Runden am Flughafen drehte. Das stets laufende Kleinkind betrieb Gatehopping und wir sorgten für sehr gute Unterhaltung zwischen den wartenden Passagieren.

Als ich kurz vor Boarding auf mein Telefon blickte, erspähte ich zwei entgangene Anrufe. Frankfurter Nummern. Ich vermutete, es wäre mein Zahnarzt, der mir mitteilen wolle, dass die nächste, ungeliebte Prophylaxe anstünde. Vorsichtshalber googelte ich die Nummer. Die Suchmaschine teilte mir mit, dass die Telefonnummer einer Frankfurter Kita gehöre. Alles fiel mir aus dem Gesicht: Klappte die römische Variante etwa doch? Ich klickte auf die Kategorie „Anrufbeantworter“ und hörte ihn ab. Die Computerstimme schaltete sich ein: Heute, 9:37 Uhr, dann ging die Ansage über zu einer sympathischen Stimme: „Hallo Frau Farniente, hier ist Frau Det von der Kita. Wir hätten einen Platz für Signorino. Bitte rufen Sie bis 12:00 Uhr zurück, sonst muss ich den Platz anderweitig vergeben.“ Geschockt guckte ich auf die Uhr. Es war bereits 11:30 Uhr. Die Bodenmitarbeiter befanden sich in den letzten Zügen, um zeitig mit dem Boarding zu beginnen. Ich gab dem Römer, der mittlerweile mit dem rennenden Kleinkind beschäftigt war, zu verstehen, dass ich ein dringendes Telefonat führen müsse. Zwei Gates weiter fand ich eine ruhige Ecke. Irgendwo zwischen Herren- und Damentoilette, rief ich Frau Det zurück. Es tutete zweimal, dann hob sie ab. Eindeutig übernahm jetzt die ambitionierte, innere Agathe. Mein Redeschwall ergoss sich über Frau Det. Nachdem ich fertig geredet hatte, fragte sie höflich: „Sind Sie denn interessiert an dem Platz?“ In diesem Moment fragte ich mich, ob irgendein Elternteil jemals nein sagen würde. Überschwänglich bejahte ich und fügte hinzu, dass das einem 6er im Lotto nahekäme. Zumal ich mir weder die große Hafenrundfahrt gegönnt hatte, um Kitas zu besichtigen, noch jemals irgendwo angerufen hatte. Ich hab mich einfach im Online-System eingetragen und gewartet. Aber das wissen Sie ja bereits. Frau Det erklärt mir den Ablauf und sagte, dass ich mir am kommenden Donnerstag die Räumlichkeiten angucken könne. (Ich dachte für mich: Solange auf dem Kita-Hof keine Drogen verkauft oder gedealt würden, wäre jede Kita für mich Recht. Obwohl, wir befanden uns in Frankfurt. Selbst das könnte man in späteren Lebensläufen noch als Berufserfahrung im „Sales Department“ deklarieren. )

Ich bestätige den Termin. Donnerstag! Wunderbar. Im Hintergrund wurde Herr Ramirez lautstark in Deutsch, Englisch und Spanisch zu Gate Z22 gebeten, denn der Flug nach Cancun würde gleich den Boardingprozess beenden. Ich brüllte dagegen an und hoffte, dass mich Frau Det verstünde. Und das tat sie, denn sie fügte noch hinzu: „Kommen Sie mit Kind und medizinischer Maske!“ Klaro, das sollte ich hinkriegen. Notfalls würde ich auch im pinken Einhornkostüm mit Holzclogs kommen, wenn mir das einen Kita-Platz verschaffen würde.

Am darauffolgenden Donnerstag war es dann soweit. Wir besichtigten die Kita. Frau Det, eine überaus freundliche, herzliche Person, zeigte mir die Räumlichkeiten. Die zwei Erzieherinnen seiner zukünftigen Gruppe, waren ebenso anzutreffen. Zwei resolute, aber äußerst angenehme Damen, die aussahen, als würden sie bei keinem Trotzanfall der Welt mehr mit der Wimper zucken. Man zeigte mir außerdem den Balkon, die Außenanlage und die Wickelmöglichkeiten. Dann gingen wir ins Elterngesprächszimmer. Frau Det erklärte mir alles mit sanfter, ruhiger Stimme. Viele Ausflüge würde man in dieser Kita machen. Aber das fiel Corona leider zum Opfer. Man arrangiere sich, so gut es ginge, erklärte sie. Man sah Frau Det an, dass auch sie und ihr Team an dieser Situation deutlich zu knabbern hatten. Am Ende des Gesprächs, sagte Frau Det: „Überlegen Sie es sich gerne in Ruhe. Besprechen Sie es mit Ihrem Partner, ob Sie Ihren Sohn hier in die Kita geben wollen und melden Sie sich gerne morgen.“ Ich nickte und antwortete: „Frau Det? Darf ich auch gleich „Ja“ sagen? Ich habe so einen guten Eindruck, ich bin mir sicher, dass mein Mann damit einverstanden ist.“ Warum sollte er auch nicht einverstanden sein? Er hätte die Kita eh nicht besichtigen können aufgrund der Pandemie und musste auf mein Urteil vertrauen. Frau Det lachte bei meiner prompten Zusage. „Aber natürlich! Wunderbar. Wir freuen uns!“ Ich guckte auf Signorino. „Wir auch!“. Das Händeschütteln ließen wir aus. Corona.

Als Frau Det uns zehn Minuten später verabschiedete, ich Signorino anzog und wir aus dieser Hinterhofoase an die große Straße gespült wurden, musste ich grinsen. Verrückt! Die römische Methode funktionierte – und das ganz ohne Stress und Anstrengung.

Nun stand es bei den Elternaussagen immerhin 5 zu 2.