
Es war Mitte Dezember, 2019. Signorino war wenige Stunden alt und schlief neben mir im Krankenhausbett. Ich registrierte ihn bei diversen Kitas im Umkreis, was in Frankfurt über die Onlineplattform „Kitanet“ geregelt wird. „Ha,“, dachte ich, „wer ist schon so genial und meldet sich am Tag der Geburt des Kindes an?“ Das Schicksal prustete vermutlich los, denn in einigen Städten melden sich Eltern bereits weit vor der Geburt ihres Nachwuchses an. Zum Glück ist das in Frankfurt nicht möglich.
Dann hielt ich ein Jahr die Füßchen still, denn schließlich waren wir online registriert. Zeitgleich begannen die ersten, zarten Stimmen im Bekanntenkreis, die sich im Verlauf des ersten Jahres zu einem stimmgewaltigen (und ziemlich nervigen) Orkan formierten. „Seid ihr verrückt? Ihr müsst bei den Kitas anrufen, Emails mit Ostergrüßen schicken, Kitas besichtigen! So findet ihr nie einen Platz.“ erklärte uns die überragende Mehrheit der Eltern. Nur ein einziger Vater, ein tiefenentspannter Mann um die 40, erklärte uns, dass er sich ebenfalls nur online registriert hatte, ruhig abwartete und kurz vor seinem Wunschtermin von einer Kita kontaktiert wurde. Ohne Ostergrüße, Besichtigungen und einer Zeremonie zu Ehren des Gottes der Kindertagesstätte. Unsere anderen Bekannten zweifelten diese Version stark an. Eine Mutter tat es unter einem lauten Wortschwall als „unwahrscheinlichen Einzelfall“ ab. Somit stand es bei den Elternaussagen 5 zu 1.
Die ersten, zarten Januartage dieses Jahres verbrachte ich damit, zu recherchieren wie man jetzt noch an einen Kita-Platz in Frankfurt kommen könnte. Auf der offiziellen Internetseite stand, dass man „Tage der offenen Tür“ wahrnehmen solle. Ich musste bei diesem Punkt erst einmal laut loslachen. Wir befanden uns mitten in einer Pandemie ungeahnten Ausmaßes. Wenn es momentan etwas in Kitas geben würde, dann waren das „Tage und Wochen der geschlossenen Tür“. Denn schließlich waren die meisten Eltern dazu angehalten, ihr Kind daheim zu betreuen und das bereits seit Monaten.
Ich klickte weiter durch die Internetseite und stolperte über einen anderen Punkt. Er hieß „Vergabe der Kita-Plätze“. Dort las ich, dass es nicht nach Anmeldezeitpunkt, sondern nach Sozialplan ginge. Mist! Meine erste Amtshandlung, nachdem Signorino wenige Stunden alt war, war also für die Katz. Aber natürlich ist diese Regel absolut richtig. Selbstredend sollte ein alleinerziehender Elternteil an erster Stelle bei der Vergabe der Kita-Plätze stehen.
Ich schloss die Seite und gab etwas in eine Suchmaschine ein. Daraufhin fand ich den sehr ambitionierten Blog einer Frankfurter Mutter von drei Kindern. Sie lobpreiste ihre große Erfahrung mit Kitas und der dazugehörigen Anmeldung bereits im Einleitungstext. Weiter im Artikel berichtete sie über einen genauen Schlachtplan und schilderte wie man sich einen Betreuungsplatz in Frankfurt verschaffen könne. Dazu gehörten Kitabesichtigungen im Säuglingsalter, regelmäßige Anrufe bei der Kita-Leitung und Emails mit Fotos des Kindes, um stets präsent zu sein. Damit habe sie bei allen drei Kindern einen herausragenden Erfolg verzeichnen können. Mir drehte sich der Magen um! Nein, das kann ich nicht. Nein, das bin ich nicht. Ich will keine Ostergrüße an Kitas mit Fotos meines Sohnes schicken. Ich klickte auf das kleine X im rechten, oberen Bildschirmrand und klappte den Laptop zu. Aus den Augen, aus dem Sinn.
So verstrichen die Monate bis mich irgendwann erneut die Panik packte. Zugegeben, sie packte mich, weil mich eine automatische Email der Kitaplattform zwölf Wochen vor dem gewünschten Starttermin erreichte. Dort standen erneut Tipps wie „Nutzen Sie unbedingt die Tage der offenen Tür“ oder „Nehmen Sie gerne bereits vorab Kontakt zu den Kitas auf“. Außerdem riet mir diese Email dazu, den Suchradius zu erhöhen und regelmäßig in der Restplatzbörse zu gucken. Als ersten Schritt informierte ich mich in der Restplatzbörse. Puh, alle freien Plätze lagen in den Vororten. Jeden Tag im Auto dreißig Minuten hin- und zurückzufahren im Berufsverkehr? Nein, danke! Dann meldete ich das Kind in anderen Stadtteilen an und schrieb in der Kommentarfunktion einer jeden Kita: „Gerne auch Halbtagesplatz, Mutter arbeitet ab Dezember wieder als Flugbegleiterin“. Am darauffolgenden Tag erzählte ich dem Römer äußerst aufgeregt vom Kita Dilemma. Die irrationale Panik hatte mittlerweile Regie in meinem Kopf übernommen. Mein Gatte war, wie es nicht anders zu erwarten war, sehr gelassen. „Si, si, non ti preoccupare. [Ja, ja, keine Sorge.]“ winkte er ab und lehnte sich mit dem Rücken gemütlich gegen die Stuhllehne, während er interessiert in einem sozialen Netzwerk surfte.
Klasse Tipp, danke auch. Ich war aber besorgt! Sehr sogar. Deswegen bat ich ihn inständig, mir das Kind an zumindest einem Vormittag abzunehmen, damit ich mich durch die Kitas telefonieren konnte. Er willigte ein und es passierte von beiden Seiten – nichts. Die Vormittage verstrichen meist viel zu schnell und mein Telefonvorhaben verschwand irgendwo zwischen der Wäsche, Aufräumen, Putzen, den Keller ausräumen und das Auto zum TÜV bringen. Unter matschigen Marmeladenbrotstückchen, die ich nach unserem sehr späten Frühstück gegen 11 Uhr vom Boden kratzte, geriet meine Telefonaktion vollends in Vergessenheit.
Ein paar Wochen später bäumte sich noch einmal meine Kita-Panik auf. Doch der Römer erstickte sie im Keim: „Amore, versuch‘ doch einfach den Sachen mit Gelassenheit zu begegnen. Es wird sich schon alles finden.“
Was hatte ich schon zu verlieren? Wenn ich keinen Kitaplatz zum Juni finden würde, dann vielleicht im Herbst und wenn es im Herbst nicht klappen sollte, dann vielleicht im Winter. Bis Februar 2022 hatte ich immerhin noch Resturlaub.
Nachdem ich nicht konsequent genug für meine eigene „Stress-Methode“ war und alles, was blieb, nur die ständige Anspannung war, entschied ich mich dazu, die römische Methode auszuprobieren. „Tranquilla. [in etwa: Nur mit der Ruhe.] säuselte der Römer, während wir meist schon im Auge des Stress-Sturms standen. „Andrà tutto bene.“ [Es wird alles gut.] schob er dann noch nach, lächelte und widmete sich wieder einer anderen Aufgabe. Gut, ganz so einfach machte ich es mir nicht. Ich wollte zwar gerne Gebrauch von der römischen Methode machen, brauchte aber, um mich vollends zu entspannen, einen Plan B. So bin ich gestrickt. Das kriege ich nicht aus meiner DNA. Zumindest eine grobe Aussicht wollte ich haben, falls alles in die Binsen ging. Denn „Abwarten und Tee trinken“ ist eine Sache, aber es wirklich so auszuleben wie vom Römer angedacht, ist eine komplett andere. Am zweiten Schritt der römischen Variante, „In letzter Sekunde improvisieren – und das mit größter Gelassenheit zelebrieren“, scheitere ich meistens kolossal. Bei mir brennen alle Sicherungen durch, wenn ich nicht in Ruhe Zeit habe, über die bestmöglichste Variante nachzudenken, so dass ich dann tatsächlich zu dem kopflosen Huhn werde, für das mich der Römer ab und an hält.
So dauerte es ein paar Tage bis ich die Zeit fand, mir einen Plan B zu überlegen: Sollte die römische Methode nicht klappen, werde ich 1.) ab November die deutsche Methode versuchen und alle Kitas abklappern/anrufen, 2.) notfalls meine Elternzeit verlängern müssen, um das Kind dann eventuell mit drei Jahren direkt in den Kindergarten zu schicken. Hier rechnete ich mir größere Chancen aus, da man Kinder erst ab 1,5 Jahren für den Kindergarten in Frankfurt registrieren kann. Das wäre immerhin noch nicht zu spät.
Als mein grober Schlachtplan stand, stieg ich in die römische Methode ein, was mir, als rastloser Mensch, recht schwer fiel. Ich wartete ab. Wann immer sich meine gestresste Agathe, die ökologisch-korrekte Nordendmutter mit dem Lastenfahrrad, meldete und mir eindringlich ins Gewissen redete, dass das doch irre sei, sich um überhaupt nichts zu kümmern, beschwichtigte ich sie mit den Worten, dass man das wie eine Meditation behandeln müsse. Dann zitierte ich noch eine Kalenderblattseite „Alles kommt zur Rechten Zeit in dein Leben. Du musst nur Geduld haben!“ Meine innere Agathe tobte. Passiv-aggressiv, versteht sich. Sonst sehr auf die angemessene, friedvolle Kommunikation vertrauend, rastete sie jetzt komplett aus: „Wir sind in FRANKFURT!! Du findest mit dieser Einstellung nie einen Kita-Platz. Bist du von allen guten Geistern verlassen? Als ob, ohne Vorstellung, ohne vorheriges Telefonat, ohne Email-Grüße von Signorino, dich IRGENDWER anrufen wird – außer vielleicht der psychosoziale Notdienst!“ Ich ignorierte sie, schließlich war ich jetzt zu einer fleischgewordenen, weiblichen Version des Römers geworden. Gelassen schlappte ich in die Küche und machte mir einen Espresso. Signorino nahm derweil das Wohnzimmer auseinander. Ich lächelte entspannt und legte mir noch einen Cantuccio auf den Espressountertassenrand. In aller Ruhe setzte ich mich an den Tisch, beobachtete Signorino wie er dreihundert verschiedene Bauklötzchen durch die Gegend warf, und rührte einen halben Löffel voll Zucker in die fast schwarze Flüssigkeit. Es fehlte nur noch, dass ich auf die Erdumdrehung vertraute, die den Zucker schon verrühren würde. Aber das fand selbst ich, die lockere Römerin, affig.
So verstrichen die Tage und Wochen. An einem Donnerstag Ende März waren wir am Flughafen, um nach Albanien zu fliegen. Genau an diesem Donnerstag rief Frau Det an. Das hörte ich allerdings nicht, was daran liegen mag, dass ich mit Signorino unzählige Runden am Flughafen drehte. Das stets laufende Kleinkind betrieb Gatehopping und wir sorgten für sehr gute Unterhaltung zwischen den wartenden Passagieren.
Als ich kurz vor Boarding auf mein Telefon blickte, erspähte ich zwei entgangene Anrufe. Frankfurter Nummern. Ich vermutete, es wäre mein Zahnarzt, der mir mitteilen wolle, dass die nächste, ungeliebte Prophylaxe anstünde. Vorsichtshalber googelte ich die Nummer. Die Suchmaschine teilte mir mit, dass die Telefonnummer einer Frankfurter Kita gehöre. Alles fiel mir aus dem Gesicht: Klappte die römische Variante etwa doch? Ich klickte auf die Kategorie „Anrufbeantworter“ und hörte ihn ab. Die Computerstimme schaltete sich ein: Heute, 9:37 Uhr, dann ging die Ansage über zu einer sympathischen Stimme: „Hallo Frau Farniente, hier ist Frau Det von der Kita. Wir hätten einen Platz für Signorino. Bitte rufen Sie bis 12:00 Uhr zurück, sonst muss ich den Platz anderweitig vergeben.“ Geschockt guckte ich auf die Uhr. Es war bereits 11:30 Uhr. Die Bodenmitarbeiter befanden sich in den letzten Zügen, um zeitig mit dem Boarding zu beginnen. Ich gab dem Römer, der mittlerweile mit dem rennenden Kleinkind beschäftigt war, zu verstehen, dass ich ein dringendes Telefonat führen müsse. Zwei Gates weiter fand ich eine ruhige Ecke. Irgendwo zwischen Herren- und Damentoilette, rief ich Frau Det zurück. Es tutete zweimal, dann hob sie ab. Eindeutig übernahm jetzt die ambitionierte, innere Agathe. Mein Redeschwall ergoss sich über Frau Det. Nachdem ich fertig geredet hatte, fragte sie höflich: „Sind Sie denn interessiert an dem Platz?“ In diesem Moment fragte ich mich, ob irgendein Elternteil jemals nein sagen würde. Überschwänglich bejahte ich und fügte hinzu, dass das einem 6er im Lotto nahekäme. Zumal ich mir weder die große Hafenrundfahrt gegönnt hatte, um Kitas zu besichtigen, noch jemals irgendwo angerufen hatte. Ich hab mich einfach im Online-System eingetragen und gewartet. Aber das wissen Sie ja bereits. Frau Det erklärt mir den Ablauf und sagte, dass ich mir am kommenden Donnerstag die Räumlichkeiten angucken könne. (Ich dachte für mich: Solange auf dem Kita-Hof keine Drogen verkauft oder gedealt würden, wäre jede Kita für mich Recht. Obwohl, wir befanden uns in Frankfurt. Selbst das könnte man in späteren Lebensläufen noch als Berufserfahrung im „Sales Department“ deklarieren. )
Ich bestätige den Termin. Donnerstag! Wunderbar. Im Hintergrund wurde Herr Ramirez lautstark in Deutsch, Englisch und Spanisch zu Gate Z22 gebeten, denn der Flug nach Cancun würde gleich den Boardingprozess beenden. Ich brüllte dagegen an und hoffte, dass mich Frau Det verstünde. Und das tat sie, denn sie fügte noch hinzu: „Kommen Sie mit Kind und medizinischer Maske!“ Klaro, das sollte ich hinkriegen. Notfalls würde ich auch im pinken Einhornkostüm mit Holzclogs kommen, wenn mir das einen Kita-Platz verschaffen würde.
Am darauffolgenden Donnerstag war es dann soweit. Wir besichtigten die Kita. Frau Det, eine überaus freundliche, herzliche Person, zeigte mir die Räumlichkeiten. Die zwei Erzieherinnen seiner zukünftigen Gruppe, waren ebenso anzutreffen. Zwei resolute, aber äußerst angenehme Damen, die aussahen, als würden sie bei keinem Trotzanfall der Welt mehr mit der Wimper zucken. Man zeigte mir außerdem den Balkon, die Außenanlage und die Wickelmöglichkeiten. Dann gingen wir ins Elterngesprächszimmer. Frau Det erklärte mir alles mit sanfter, ruhiger Stimme. Viele Ausflüge würde man in dieser Kita machen. Aber das fiel Corona leider zum Opfer. Man arrangiere sich, so gut es ginge, erklärte sie. Man sah Frau Det an, dass auch sie und ihr Team an dieser Situation deutlich zu knabbern hatten. Am Ende des Gesprächs, sagte Frau Det: „Überlegen Sie es sich gerne in Ruhe. Besprechen Sie es mit Ihrem Partner, ob Sie Ihren Sohn hier in die Kita geben wollen und melden Sie sich gerne morgen.“ Ich nickte und antwortete: „Frau Det? Darf ich auch gleich „Ja“ sagen? Ich habe so einen guten Eindruck, ich bin mir sicher, dass mein Mann damit einverstanden ist.“ Warum sollte er auch nicht einverstanden sein? Er hätte die Kita eh nicht besichtigen können aufgrund der Pandemie und musste auf mein Urteil vertrauen. Frau Det lachte bei meiner prompten Zusage. „Aber natürlich! Wunderbar. Wir freuen uns!“ Ich guckte auf Signorino. „Wir auch!“. Das Händeschütteln ließen wir aus. Corona.
Als Frau Det uns zehn Minuten später verabschiedete, ich Signorino anzog und wir aus dieser Hinterhofoase an die große Straße gespült wurden, musste ich grinsen. Verrückt! Die römische Methode funktionierte – und das ganz ohne Stress und Anstrengung.
Nun stand es bei den Elternaussagen immerhin 5 zu 2.