Die Albanienchroniken – Teil 3: Grenz-Axel, ein Kitaplatz an Gate Z22 und aufgebrachte, albanische Notare

[Sie wissen gar nicht, was die Albanienchroniken sind? Dann fangen Sie doch bei Teil 1 an.]

[An Teil 1 können Sie sich noch erinnern, aber bei Teil 2 klingelt nichts? Dann bitte hier entlang.]

Noch fünf Minuten bis die Flughafen S-Bahn in unseren Heimatbahnhof einfahren würde. Und wir waren natürlich noch zu Hause! „Die Sonnenbrille ist hier, in meinem Rucksack!“ rief der Römer von unten durchs Treppenhaus. Er stand bereits an der Schwelle der Haustür, während ich noch einmal zurück in die Wohnung geflitzt bin. Eine Albanienreise ohne Sonnenbrille? Nein, danke. Selbst bei 15 Regentagen im April war mir das Risiko immer noch zu groß mit zusammengekniffenen Augen durch die Hauptstadt Albaniens zu irren. „Okay! Ich kooooomme!“ schrie ich nach unten und nahm zwei Treppenstufen auf einmal. An der Haustür angekommen, übernahm der Römer. Er schob mich vor sich her durch den Innenhof und auf die Straße. „Mancano quattro minuti che arriva il treno. [Es fehlen noch vier Minuten bis der Zug ankommt.]“ Mit großen Augen blickte ich ihn an und wollte ein „Das schaffen wir nie!“ hinterherschieben, doch der Römer, der nun vor mir ging, zog mich eilig hinter sich her. Im Stechschritt eilten wir zum Bahnhof. Angekommen an den Treppenstufen zur S-Bahn Station, kugelten wir diese beinahe nach unten, weil wir Signorino, den Buggy, den Kindersitz und die Gepäckstücke auf einen Rutsch hinunter jonglieren wollten. Schweiß gebadet, aber ohne größere Blessuren, liefen wir auf den Bahnsteig, während die just in diesem Moment einfahrende Flughafen-S-Bahn an uns vorbeirauschte und in etwa vierzig Metern Entfernung hielt. Wir liefen wie die Irren, um den Zug doch noch zu erreichen. Unter lautem Widerstand verlor Signorino seinen Schnuller bei diesem Sprint. Blitzschnell verwandelte sich der kleine Farniente in ein heulendes, sich windendes Bündel Mensch. Doch es half nichts. Wir mussten weiter. Die S-Bahn Tür fing bereits an, schnelle Piepgeräusche von sich zu geben, als der Römer in letzter Sekunde seinen Fuß in die Lichtschranke schob. Schnell huschten wir in den Zug.

Puh! Geschafft! Erleichtert nahmen wir Platz. Der Römer lehnte seinen Kopf gegen die Sitzlehne und strich sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht.

Irgendwann sollten wir unser katastrophales Abreise-Ritual ändern.“ bemerkte ich und streichelte Signorino, der beleidigt auf meinem Schoß saß, über den Kopf. „Es ist jedes Mal der gleiche, unkoordinierte Ablauf: Zweieinhalb Stunden bevor wir zur Flughafen-S-Bahn müssen, verplempern wir die Zeit mit Essen, Trinken, je nach Uhrzeit auch mit Anziehen, Duschen, Mußestunden und was nicht alles. Dieser Prozess dauert ganze zwei Stunden und zehn Minuten. Nur um dann in den letzten zwanzig Minuten all das zu erledigen, was wir in den vorherigen zwei Stunden ignoriert haben. Dann kommen wir keuchend und schnaufend an der S-Bahn an und erwischen diese gerade noch mit Müh und Not.“ fasste ich unseren Aufbruch von daheim zusammen. „Però siamo sempre riusciti a prenderlo! [Aber wir haben es immer geschafft!]“ stellte der Römer fest und reichte Signorino einen Ersatzschnuller. „Ja….schon. Aber die Art und Weise, WIE wir das schaffen, halte ich für wenig erstrebenswert.“ antwortete ich und band meinen zerzausten Pferdeschwanz noch einmal neu. „La prossima volta andrà meglio. [Nächstes Mal wird es besser klappen.]“ vertagte der Römer das Problem und wir wussten beide, dass es beim nächsten Mal mindestens genau so chaotisch werden wird wie all die Male zuvor.

Nach 25 Minuten erreichten wir den Flughafen Frankfurt am Main. Vollbepackt stiegen wir aus. Vor mir stöckelte eine Flugbegleiter-Kollegin zur Rolltreppe. Ich fühlte mich zurückversetzt in eine längst vergangene Zeit und lächelte selig. Hach! Flughafenluft. Das Tor zu Welt. Gespannt und neugierig wartete ich darauf, dass uns die Rolltreppe in die große Abflughalle des Terminals 1 brachte. Vor meinem inneren Auge sah ich bereits den quirligen, unkoordinierten Tanz aus gehetzten Geschäftsleute, bummelnden Familien und trödelnden Touristen. Endlich oben angekommen erblickte ich… nichts! Die Halle war, bis auf ein paar, wenige Mitarbeiter und Fluggäste, komplett leer. Corona! Klar, da war ja was. Meinen Kloß im Hals schluckte ich hinunter, während wir auf die leere Gepäckabgabe zusteuerten.

Die nächsten dreißig Minuten bestanden aus dem üblichen Prozedere, das das Herumklicken auf Gepäckautomaten, den Besuch beim Sperrgepäckschalter und meine einstudierte Choreografie bei der Sicherheitskontrolle beinhaltete. Als wir all diese Stationen durchlaufen hatten, landeten wir schließlich bei der letzten Etappe dieses Staffellaufs: der Passkontrolle!

Vor uns saßen zwei Grenzpolizisten in ihrer silbergrauen, über den Köpfen der Reisenden thronenden Kanzel. Der etwas stämmigere Polizist von beiden winkte uns herrisch zu sich. Erst als wir wenige Zentimeter vor seiner Bundesgrenzschutzkanzel standen, bemerkte ich seine frappierende Ähnlichkeit mit Axel Stein. Wohlgemerkt war er eine sehr übellaunige Version dieses Schauspielers. „Hallo, guten Morg….“ begrüßte ich den Polizisten gewohnt freundlich. Bis zum Ende des zweiten Wortes kam ich gar nicht, denn sogleich wurde ich rüde unterbrochen von einem gemaulten „Pässe!!“. Ich drehte mich um, weil ich vermutete, dass sich wie aus dem Nichts eine kilometerlange Menschenschlange gebildet haben muss, denn das wäre eine schlüssige Erklärung für den knappen Ton des Bundespolizisten. Doch da war niemand! Keine Menschenseele stand hinter uns. Der Römer kramte in seinem Rucksack und reichte ihm die Pässe unter einem höflichen „Hier, bitteschön.“. Grenzpolizist Axel blätterte lustlos in unseren Pässen, als wären sie ein langweiliges Boulevardmagazin beim Friseur seines Vertrauens. Dann scannte er alle ein und unterbrach die Stille wieder mit einem einzigen Wort. „Grund?!“ fragte er. Da der Satz weder über ein Verb, noch über ein weiteres Nomen verfügte, das mir geholfen hätte, dieses einzelne, vor mir ausgespuckte Wort zu deuten, sah ich mich gezwungen eine Rückfrage zu stellen. „Für die Reise, meinen Sie jetzt?“ wollte ich wissen und legte meinen Kopf schief. Er nickte. Nur keine Worte verschwenden. Grenzpolizist Axel hatte scheinbar ein sehr limitiertes Kontingent an abgezählten Wörtern, die er in einer acht Stunden Schicht benutzen durfte. Deswegen bediente er sich vermutlich vielen, nonverbalen Signalen, die er immer wieder genervt abfeuerte. „Familienbesuch.“ antwortete ich wahrheitsgemäß, mich an Axels Kommunikationsmodus orientierend. Diesmal nickte er nicht einmal. Um genau zu sein, verzog er keine Miene. Keine Ahnung, ob das Wort „Familienbesuch“ bis zu seinem Thron durchgedrungen war, aber er hakte auch nicht weiter nach. „Mi sembra un po‘ incazzato. [Er scheint mir etwas angefressen.]“ raunte mir der Römer leise ins Ohr und ich musste bei der herrlichen Betonung des römischen Satzes kichern. Grenzpolizist Axel musterte mich streng. Auch das war mir neu, dass Lachen nicht erlaubt war. Aber vermutlich gab es dafür eine Dienstanweisung, die Grenz-Axel ganz genau studiert hatte. Nach einem quälend langen Moment erhob Grenzpolizist Axel abermals die tiefe, schneidende Stimme. „Aufenthaltstitel?“ murrte er. Ich war etwas verwirrt, denn nach einem Aufenthaltstitel für Albanien wurde ich in all den Jahren noch nie gefragt. Sogleich äußerte ich meine Zweifel in einem Halbsatz, Axel-Style: „Für Albanien?“ Grenz-Axel guckte mich durchdringend an. Man konnte seitenlange Monologe aus seinem starren Blick lesen. Er war anscheinend ein Mann, der viel mit den Augen ausdrücken konnte, aber wenig mit seinem Mund. Jetzt gerade dachte er zum Beispiel: „Du dummes, dummes Weib. Natürlich NICHT für Albanien. Vor mir liegt ein albanischer Pass. Der Mann braucht doch irgendeine Berechtigung, hier in Deutschland zu sein!“ Doch Axel sagte indessen: „Nein, vom albanischen Pass!“ Meine Klappe war mal wieder schneller als mein Anstand und quiekte munter heraus: „Sie meinen von meinem Mann?!“ Grenz-Axel nickte unmerklich. Der Römer flüsterte leise: „Che vuole il tizio? [Was will der Typ?]“ Ich flüsterte zurück, dass er den römischen Aufenthaltstitel vermissen würde. Unter einem lauten „Ah!“ suchte der Römer wieder in seinem Rucksack und legte erst ein Handyladegerät, ein Buch über Orthopädie und Traumatologie, sowie einen Beutel mit Flüssigkeiten auf den Tresen der Kanzel, bis er schlussendlich seine scheckkartengroße Niederlassungserlaubnis fand. Erleichtert überreichte der Römer den Aufenthaltstitel, der sich im Design kaum von einem deutschen Personalausweis unterschied, an den ungeduldig dreinblickenden Grenz-Polizisten. Penibel studierte Grenz-Axel die römische Niederlassungserlaubnis. Nach einer weiteren Minute legte er alle Pässe und den Aufenthaltstitel auf den Tresen seiner Zelle und starrte stumm geradeaus an uns vorbei. Verwirrt fragte ich: „Sind wir jetzt fertig?!“ und Axel seufzte genervt. Schließlich fand er noch ein „Ja“ in seinem Restkontingent der verbleibenden Wörter für heute und antwortet mit diesem. „Okay, danke. Tschüss.“ schmetterte ich ihm entgegen. Dann schnappte ich mir die Pässe und stiefelte davon. „Secondo me, era veramente incazzato.“ [Ich glaube, dass er wirklich angepisst war.] äußerte der Römer seinen Eindruck. Ich musste lachen und gab ihm Recht.

Die übrige Zeit bis zum Boardingbeginn vertrieben wir uns mit einem zweiten Frühstück. Dabei frühstückten wir nicht zeitgleich, was dank des aktiven Kleinkindes auch nicht möglich gewesen wäre. Vielmehr trank erst der Römer in Ruhe seinen Cappuccino und genoss mit allergrößter Muße sein Brioche, während ich mit dem neugierigen Signorino im Kamikaze-Modus spazieren rannte. Natürlich hätte ich das Kind auch herumtragen können, aber unser ausgeklügelter Plan sah vor, dem Kind so viel Auslauf wie möglich zu gönnen, so dass es im Flugzeug nur noch müde in sich zusammensacken und bis Tirana durchschlafen würde. Als der Römer fertig gefrühstückt hatte, tauschten wir. Nach einigen Minuten war weit und breit keine Spur mehr von dem römischen Vater-Sohn-Duo zu sehen, so dass ich beiläufig auf mein Handy blickte. Eine Frankfurter Nummer hatte mich diverse Mal versucht zu erreichen. Ich vermutete dahinter meinen Zahnarzt, der mich sicherlich an meine halbjährlich wiederkehrende Zahnprophylaxe erinnern wollte. Doch irgendetwas sagte mir in diesem Moment, dass ich die Telefonnummer lieber noch einmal in einer Suchmaschine eingeben sollte. „Kita Frankfurt“ war der erste Treffer, der mir angezeigt wurde. Huch! Wie ist das denn passiert? Erst jetzt bemerkte ich, dass sich eine neue Nachricht auf meiner Mailbox befand. Ich hörte sie ab, grinste, rief die Nummer zurück und vereinbarte einen Kita-Besichtigungstermin* . Währenddessen wurde im Hintergrund Herr Ramirez lautstark und in drei Sprachen gebeten, zu Flugsteig Z24 zu kommen. Sie würden den Boardingvorgang gleich beenden. Aus voller Kehle brüllte ich dagegen an: „Donnerstag? Klasse, Frau Det. Ich freue mich. Bis dann!“

In etwa so sah unser Frühstück aus. Im Hintergrund müssen sie sich ein, wie irre durch das Terminal laufendes Kind vorstellen.

Verwirrt und mein Glück kaum fassend, berichtete ich dem Römer, der gerade an mir vorbeijoggte, was soeben passiert war. Es schien, als würde er sich ebenso freuen. Doch dann verschwand er schon wieder außer Hörweite, da er Signorino davon abhalten musste, sich bäuchlings auf den Fahrsteig zu werfen.

Nach weiteren fünf Minuten begann der Boardingvorgang unseres Fluges. Gäste, mit eingeschränkter Mobilität und Familien mit kleinen Kindern wurden gebeten, zuerst einzusteigen. Wir ließen unsere Bordkarten scannen, ich wünschte den Kollegen vom Boden noch einen schönen, verbleibenden Arbeitstag und wollte gerade zum Aufzug gehen, zu dem bereits zwei Gäste mit Rollator und Betreuungsdienst rollten, da wurde ich von der blonden, älteren Bodenmitarbeiterin zurückgepfiffen. „Die Aufzüge sind nur für Gäste mit eingeschränkter Mobilität.“ flötete sie. Ich insistierte nicht, da man mit Bodenkollegen lieber keinen Streit anfängt. Stattdessen ärgerte ich mich im Stillen, nahm Signorino auf den Arm und der Römer faltete den Kinderwagen zusammen. Beladen wie die Packesel, wankten wir fluchend 50 Treppenstufen nach unten. Dort wartete bereits der Passagierbus auf uns. Seltsamerweise war von den gehbehinderten Gästen weit und breit keine Spur mehr. Vermutlich hatten sie einen extra Transport bekommen.

Zügig fuhren wir zum Flugzeug, das auf einer Außenposition geparkt war. An Bord angekommen, stellte ich mich bei Kabinenchef Detlef und seiner Kollegin Julia als ebenso flugbegleitende Kollegin vor. Wir merkten recht schnell, dass wir auf einer Wellenlänge waren. Die Stimmung war ab der ersten Sekunde ausgelassen. Da wir in der zweiten Reihe saßen, gesellte sich Detlef immer mal wieder zu uns für ein Schwätzchen über Albanien. Nach fünf Minuten, der letzte Passagierbus ließ auf sich warten, kam der Kapitän zu uns. „Entschuldigt! Eine Frage:“ fing er an und ich wartete gespannt auf den weiteren Verlauf seines Satzes. „Ihr wolltet wirklich nach Tirana, oder?“ wollte er von uns wissen und musterte uns neugierig. Entsetzt und unisono antworteten wir mit einem lauten „JA!“. Daraufhin erläuterte er uns den Grund seiner Frage: Wegen eines Computerproblems seien die polnischen und albanischen Gäste nun vermischt, meldete ihm der Kapitän der Warschau-Maschine. Das hieße, Gäste, die nach Tirana gebucht seien, sitzen nun im Flugzeug, das nach Warschau fliegen sollte. Man müsste nun alle Gäste wieder auf die richtigen Maschinen sortieren. Laut lachte ich bei der Vorstellung, wie wir nach Tirana wollten und fassungslos in Warschau landen würden. Der Kapitän beendete seine Erklärung mit: „Ne, ist doch gut. Ihr seid auf alle Fälle richtig hier. Entspannt euch.“ Und das taten wir dann auch.

Fünf Minuten später schritt der Kapitän, mit seinem Diensthandy am Ohr, an uns vorbei. „Alsoooo ne!“ rief er in die vordere Bordküche, als er aufgelegt hatte. „Heute ist wirklich der Wurm drin!“ Belustigt informierte er Kabinenchef Detlef, dass die gehbehinderten Gäste im Aufzug stecken geblieben seien und man jetzt einen Techniker kommen lassen müsse, der den Aufzug wieder in Gang bekäme. Ich drehte mich zum Römer und murmelte erleichtert: „Glück im Unglück! Das wäre unser Lift gewesen. Und ich habe mich noch über die 50 Treppenstufen beschwert. Stell dir mal vor, wir würden mit Signorino im Aufzug feststecken...“

Nach weiteren 20 Minuten an der Parkposition tauchte erneut ein Passagierbus auf. „Tirana – letzter Bus“ stand darauf. Halleluja! Es ging voran. Alle verbleibenden Gäste stiegen ein und wir rollten mit leichter Verspätung Richtung Startbahn, um zügig abzuheben.

An Bord kam tatsächlich ein bisschen Urlaubsstimmung beim Römer und mir auf. Kollegin Julia bot an, uns Signorino abzunehmen, damit wir in Ruhe essen könnten. Und das taten wir auch. Das erste Mal seit Signorinos Geburt speisten der Römer und ich gemeinsam in vollkommener Ruhe, ohne, dass wir jemand zeitgleich füttern mussten. Weder waren wir gezwungen dazu, das Glas Cola in einem Zug zu leeren, noch das Brötchen mit Butter herunterzuschlingen. Es war herrlich! Signorino fand Julia toll und genoss ihr Unterhaltungsprogramm sehr. Ich hätte sie knutschen können!

Angekommen in Tirana lief alles ganz unspektakulär ab. Mit Bussen wurden wir ins Terminal gebracht, durchliefen zwei Desinfektionsmittel sprühende Maschinen, die aussahen wie Durchgangs-Metalldetektoren. Daraufhin stellten wir uns brav in eine der Schlangen zur Passkontrolle, doch schon nach 30 Sekunden winkte uns eine nette Mitarbeiterin zum leeren Schalter, der sich um die Passkontrolle der Diplomaten kümmerm sollte. Da weit und breit kein Diplomat in Sicht war, kamen wir sofort dran und reisten ein. Nach weiteren 10 Minuten hatten wir unser Gepäck in der Hand und rollten damit in die Vorhalle. Aufgrund der Ansteckungsgefahr war es jeglichen, abholenden Personen untersagt, in der Ankunftshalle zu warten. Stattdessen stand eine große Menschentraube, bestehend aus Taxi- und Shuttlebusfahrern, so wie wartenden Familienangehörigen unter freiem Himmel, natürlich ohne Maske und eng zusammen. Gespannt, ob Ibrahim oder Schwester F. uns abholen würde, marschierten wir aus dem Flughafengebäude.

Zu unserer großen Überraschung wartete weder Ibrahim, noch Schwester F. auf uns. Stattdessen winkte uns von weitem ein gut gelaunter und sichtlich moppelig gewordener Neffe Toni (Schwester F.’s Sohn) zu. Mit lässiger Sonnenbrille auf der Nase, schlenderte er auf uns zu. Er trug eine OP-Maske, natürlich unter der Nase, wie es augenscheinlich Usus in Albanien ist. Freudig begrüßte er uns mit einem Fauststoß. Dem kleinen Signorino kniff Neffe Toni in die Wange. Auf dem Weg zum koreanischen SUV erklärte er, dass seine Mutter (Schwester F.) gestern Abend ein längeres, lautstarkes und energiegeladenes Gespräch mit ihrem Bruder Ibrahim hatte. Sie gewann, doch stellte heute morgen fest, dass sie einen nicht aufschiebbaren Arzttermin hatte. Die Scham, Ibrahim zu bitten, uns doch abzuholen, ersparte sie sich. Deswegen schickte sie ihren Sohn, Neffe Toni. Angekommen bei der Geländelimousine, bemerkten wir schnell, dass Schwester F. im gestrigen Gespräch definitiv nicht zu viel versprochen hatte. Das Auto war äußerst komfortabel und nicht mit dem klapprigen Vorgänger zu vergleichen. Schnell installierten wir den Kindersitz. Signorino schlief bereits am Denkmal von Mutter Teresa ein, das im Ausfahrtsbereich des gleichnamigen Flughafens stand. Ich lehnte mich zurück und rechnete mit 25 Minuten Fahrtzeit in die Innenstadt. Toni redete von einer „kleinen Baustelle“ und das es etwas länger dauern könnte. Die „kleine Baustelle“ entpuppte sich als ein katastrophales Großprojekt, das sich vom Vorort bis in die Innenstadt zog. Dazwischen fuhren wir durch einen scheinbar neuen Tunnel. Der Römer vermutete, dass der aktuelle Premierminister Edi Rama bis zu den Wahlen Ende April alles in Ordnung bringen würde. Toni schüttelte vehement den Kopf. Nein, das wird er ganz sicher nicht schaffen. Aber ein bisschen herrichten und hübsch machen wird er die Baustelle. Soviel sei sicher. Mein übermüdeter Kopf stellte sich vor, wie Edi Rama ein paar Tulpen am Baustellenrand pflanzte und „So! Fertig! Alles wieder hübsch!“ schrie, was mich wiederum sehr schmunzeln ließ. Nach zweieinhalb Stunden Fahrt (also 6x so lange wie sonst) erreichten wir Taivani, das Taiwan Center, in dessen Nähe wir unsere Unterkunft gebucht hatten. Recht viel länger hätte es wahrscheinlich in die taiwanische Hauptstadt Taipeh auch nicht gedauert. 😉

Neffe Toni lud unser Gepäck aus und gab uns noch einen wichtigen Hinweis mit auf den Weg: Ab 20 Uhr herrscht ein striktes und scharf kontrolliertes Ausgangsverbot, das selbst die Albaner beachten würden, da hohe Strafen drohen, wenn man sich nicht daran halten würde. Immerhin eine Maßnahme, die fruchtete, wenn sich hier schon keiner an die gesetzliche Maskenpflicht hielt. Ich guckte auf die Uhr, die mir 17:30 Uhr anzeigte. „Das wird aber ein knappes Höschen!“ stöhnte ich, als wir uns mit unzähligen Gepäckstücken und Signorino auf dem Arm die Treppenstufen bis zum Aufzug hochquälten. Der Römer warf mir einen verwirrten Blick zu. Diese Redensart kannte er wohl noch nicht. Angekommen in der Unterkunft machte sich bei uns ein riesengroßer Hunger bemerkbar. Unterstrichen wurde dieser von einer quälenden Müdigkeit, die alle betraf, außer Signorino. Da der Römer in Albanien unser Mann für alles ist (und ich mich gerne hinter meinen miserablen Albanischkenntnissen verstecke), lief er sogleich los und organisierte uns eine bunte und überaus reichliche Auswahl an Börek. Er hatte sämtliche Sorten gekauft, die es in dem kleinen Straßenverkauf in der Rruga (=Straße) Myslym Shyri gab. Aus der leicht fettigen Papiertüte lugten Börekstücke mit Lauch, mit Ricotta, mit Kartoffeln, mit Spinat und Feta und mit Fleisch hervor und dufteten verführerisch. Der erste Bissen glich einer Erlösung! Wie das schmeckte. Herrlich! Signorino musterte alle Börekstücke, roch an ihnen und schlug nur bei Börek mit Ricotta zu, was er mit einem freudig überraschten „Mmmh!“ quittierte.

Wir waren zwar immer noch müde, dafür aber nicht mehr hungrig. Ich fragte den Römer, wann er zum Notar gehen wolle. Schließlich müsse Signorinos Geburtsurkunde noch übersetzt und notariell beglaubigt werden, bevor wir ihn morgen im Bürgerbüro von Kamez, einem Vorort von Tirana, zum Albaner machen würden. Heute war bereits Donnerstag. Das wiederum hieße, dass wir nur den morgigen Freitag haben würden, um die albanische Staatsbürgerschaft für Signorino zu erwerben. Denn am Montag in aller Herrgottsfrühe würden wir bereits abreisen. Inshallah! Der Römer guckte auf die Uhr. Mittlerweile war es 18:50 Uhr. In einer guten Stunde begann die Ausgangssperre. Wir hatten weder fürs Abendessen eingekauft, noch waren wir beim Notar. Sogleich streifte sich der Römer seine Lederjacke über und trabte los.

Um zwei Minuten vor 20 Uhr schneite er, mit zwei großen Einkaufstüten bepackt, zur Haustür hinein. „Mica era facile là fuori. È una giugnla senza regole. [Das war wirklich nicht einfach da draußen. Es ist ein Dschungel ohne Regeln.]“ keuchte er und ließ sich geschafft aufs Sofa plumpsen. Ich guckte ihn fragend an. „Allora, riguardo al notaio… [Also, hinsichtlich des Notars…]“, fing er an. Gebannt lauschte ich. „Ich war bei drei verschiedenen Notariaten und alle lachten mich aus mit meiner Bitte, das Dokument bis morgen Mittag übersetzt und notariell beglaubigt zu haben. Dann nahm ich ein Taxi und versuchte es beim vierten Büro. Dort, wo wir damals unsere Heiratsurkunde übersetzen haben lassen.“ erzählte er mir. Sofort protestierte ich. „Och ne! Bitte nicht da! Wir mussten zwei Mal dorthin, weil der Übersetzer dem Skenderbeu Konjak [ein albanischer Cognac] so zu getan war, dass er nicht einmal meinen Namen richtig schreiben konnte. Ich hieß „Elvira Angelina“, statt „Eva Angelika“. Und DU wolltest mich noch davon überzeugen, dass es in Albanien normal sei, ausländische Namen zu übersetzen. Erst als ich insistierte, dass das in keinem, mir bekannten Land der Fall sei, und dass wir nicht in Freiburg am Main, sondern in Frankfurt am Main geheiratet haben, bist du noch einmal hingegangen und hast es korrigieren lassen. Der Notar hatte derweil schon munter seinen Stempel darauf gesetzt.“ Der Römer rollte mit den Augen. „Ma sempre questa storia del secolo scorso [Aber immer diese Geschichte aus dem letzten Jahrhundert].“ Dann fuhr er mit seiner Geschichte fort: „Auf alle Fälle bin ich da reinmarschiert und habe mich vorgestellt. Dann fragte mich die nette Notarfachangestellte bis wann ich das Dokument brauche. Wahrheitsgemäß sagte ich, bis morgen. Sie guckte überrascht, lachte schrill auf und bat mich einen Augenblick zu warten. Sie müsse kurz mit dem Notar Rücksprache halten. Als sie aus dem Zimmer des Notars kam, hatte sie selbigen gleich mit im Schlepptau.“ Der Römer machte eine Pause und hob den quengelnden Signorino auf seinen Schoß. Dann knüpfte er an seine Erzählung an: „Der Notar, ein Stier von einem Mann mit hochrotem Gesicht und Balkenaugenbrauen zur 80er Jahre Brille, herrschte mich an: <<Wer ist der Witzbold, der mich zwingt aus meinem Büro zu kommen? Sie?>> Ich bejahte die Frage und schilderte ihm, dass es um einen neuen Staatsbürger Albaniens ginge. Zweifelnd, aber interessiert guckte er mich an und erklärte mir, dass der Auftrag mindestens vier Tage dauern würde, da auch noch ein vereidigter Übersetzer involviert wäre. Seinen Satz beendete er mit: <<Aber lassen Sie ihre Nummer da. Vielleicht geschehen noch Zeichen und Wunder.>> Ich gab zurück: <<Ich habe nichts anderes als ein Wunder erwartet! 😉 Eine albanische Telefonnummer habe ich nicht, deswegen rufe ich Sie morgen Vormittag an.>> Der Notar nickte, wir schüttelten uns die Hände und morgen werden wir sehen, ob er es geschafft hat oder nicht.“ Ich schluckte. „Das Händeschütteln war aber nicht besonders Corona-konform. Ich hoffe, du hast deine Hände danach gleich desinfiziert.“ kommentierte ich seine Geschichte. „Das ist alles, was dir zu dieser Geschichte einfällt?“ wollte der Römer entgeistert von mir wissen. „Ja, irgendwie schon. Was soll ich auch sagen? Morgen Vormittag wissen wir sicher mehr.“ rechtfertigte ich meinen Kommentar. Der Römer schwieg eine Weile. Dann beendete er seine Geschichte mit: „Na, und dann nahm ich wieder ein Taxi und bin schnell wie der Wind einkaufen gegangen. Non era facile. Ma ce l’ho fatto. [Das war nicht einfach. Aber ich habe es geschafft.]“ Er sah wirklich müde aus. Noch müder als vorhin. „Ich bin sehr stolz auf dich.“ entgegnete ich ihm und strich über seinen Oberarm. Wie ein Honigkuchenpferd grinste er und gab zwinkernd zurück: „Sarebbe il minimo. [Das ist ja wohl das Mindeste.]“

Ob der Notar schließlich doch noch Mitleid mit uns hatte und das Unmögliche möglich machte? Und ob er einen (nüchternen) Übersetzer fand, der bis zum nächsten Vormittag die Geburtsurkunde übersetzen würde, damit das arme Kind (O-Ton Schwester F.) doch noch Albaner werden könne? Das alles verrate ich Ihnen in der nächsten Folge, wo ich Ihnen auch erzähle, mit welchem waghalsigen Test man in Tirana feststellt, ob jemand sich wirklich Atheist schimpfen darf.

[Fortsetzung folgt]

*Wie es dazu kam, werde ich gesondert berichten. Das glauben Sie mir nie!

Die Albanienchroniken – Teil 1: Packen Sie langsam, ich habe es furchtbar eilig!*

Die Albanienchroniken – Teil 1: Packen Sie langsam, ich habe es furchtbar eilig!*

„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.“ behauptete einst der Dichter Matthias Claudius. Ob er dabei speziell mich meinte, halte ich zwar für ganz ausgeschlossen, denn der gute Mann starb bereits im Jahre 1815, aber genug zu erzählen habe ich trotzdem. Erst wollte ich einen mittellangen Beitrag über unsere Reise nach Albanien inmitten einer Pandemie schreiben. Was sollte auch Spannendes passieren? Wir würden schließlich nur die römische Familie dort besuchen, Signorino vorstellen und wieder heimdüsen. Doch als ich nach dem mehrtägigen Ausflug durch meine Reiseaufzeichnungen blätterte, merkte ich schnell, dass ein einziger Beitrag dieser Reise definitiv nicht gerecht werden würde.

So handelt der heutige Artikel von den Vorbereitungen dieser abenteuerlichen Reise, die definitiv nicht unter die Kategorie „Urlaub“ fällt. Wer selbst eine nicht gerade unanstrengende Familie hat, der weiß nur zu gut, wie viel Erholung ein solcher Besuch bereithält. Doch ich war optimal dafür gerüstet, dachte ich. Wer die Rechnung jedoch ohne den Wirt macht, der zahlt nicht selten einen hohen Preis für seine eigene Torheit. Und wer nicht nur einen einzigen Wirt hat, sondern gleich eine ganze, albanische Wirtsfamilie, der sollte zusätzlich noch seine Nervengarderode aufstocken und einpacken. Denn das leichte Nervenkostüm wird für diesen Ausflug garantiert nicht reichen.

Wir befinden uns am Vortag der geplanten Abreise nach Tirana, der Hauptstadt Albaniens. Seit Tagen schrieb ich detailreiche Packlisten, malte mir diverse (Horror-)Szenarien und ihre notwendigen Lösungen aus und plünderte nicht nur das Versandhaus meines Vertrauens, sondern auch unser gemeinsames Konto. Ich setzte mir in den Kopf für jede, noch so unwahrscheinliche Imponderabilie bereits im Voraus gewappnet zu sein. Stundenlang suchte ich im Internet nach garantiert funktionierenden Unterhaltungsmöglichkeiten für das gelangweilte Kleinkind. Denn ganz sicher würde der erhöhte Bewegungsdrang Signorinos genau während der Start- und Landephase des Flugzeuges zum Vorschein kommen. Ich recherchierte nach geeigneten, farblosen und kleckerfreien Snacks und diversen, anderen Reiseschnickschnack, der uns das Reisen vereinfachen sollte. Strategisch war ich aufgestellt wie Friedrich der Große. Psychisch eher nicht.

Der Römer, wie sollte es anders sein, war die Ruhe selbst. Seine einzige Reisevorbereitung bestand darin, einen kurzfristigen Friseurbesuch bei seinem Stammfriseur Jimmy zu organisieren. Durch seinen unbändigen, römischen Charme, der überzeugenden Dramaturgie seines haarigen Problems und seiner penetranten Hartnäckigkeit, erkannte Jimmy schlussendlich die absolute Notwendigkeit dieses Haarschnittes. Er knickte ein und versprach, ihn am Vormittag einzuschieben. Als ich ihn um 9 Uhr morgens darauf hinwies, dass ich jetzt gerne anfangen würde zu packen, guckte mich der Römer entgeistert an:

„Adesso? Ma adesso devo andare dal parrucchiere! [Jetzt? Aber jetzt muss ich zum Friseur!]

Dann setzte er seinen Satz fort, indem er mir sein Leid und die damit verbundene Schmach schilderte: „Die Seiten müssen wieder einmal angeglichen werden. So kann ich unmöglich in ein Flugzeug steigen, geschweige denn, meiner Familie unter die Augen treten. Ich sehe schon ganz verlottert aus. Wie ein Barbar!“ Selbst bei näherer Betrachtung schien er immer noch der gleiche, gepflegte Mann zu sein, den ich vor Jahren heiratete. Und genau diese Beobachtung teilte ich mit ihm. „No, no, non lo vedi tu! [Nein, nein, das siehst du nicht!]“ argumentierte er etwas eingeschnappt. „Das ist die Gewohnheit der Ehepaare. Kleine Veränderungen fallen dir gar nicht mehr auf, weil ich zu einer Selbstverständlichkeit in deinem Leben geworden bin. Für dich habe ich den selben Stellenwert wie etwa das Sofa… oder der Kleiderschrank.“ Ich nickte schweigend. Nicht etwa, weil ich seinen Ausführungen zustimmte. Vielmehr, weil ich meine prallgefüllte To-Do-Liste vor meinem inneren Augen sah. Jeder weitere Einwand kostete uns unnötig Zeit. Jedes zustimmende Nicken hingegen ersparte uns unfassbar viele, unnötige Minuten einer sinnfreien Diskussion. Zufrieden lächelnd verabschiedete sich der Römer um 10 Uhr und machte sich auf den Weg zu Jimmy.

Um 11:20 Uhr kehrte er vom Coiffeur zurück. Die Seiten seines welligen Haares waren etwas kürzer, sonst sah er komplett unverändert aus. In der Hand hielt er eine große Tüte mit Croissants. „Für ein zweites Frühstück.“ teilte er mir zwinkernd mit. Wir hatten absolut keine Zeit dafür, denn allein dieser Friseurbesuch kostete uns mehr als eine Stunde, die in meinem durchgetakteten Zeitbudget nicht vorgesehen war. Die einzige Lösung schien mir, meine Grundsatzfrage anzuwenden: „Ist es schneller einzuwilligen und mitzumachen oder ist eine ellenlange Diskussion doch der effizientere Weg?“ Sie ahnen es: Ich entschied mich fürs Mitmachen. Blitzschnell flitzte ich in die Küche, machte zwei caffè und knallte sie in der Eile so heftig auf den Esstisch, dass sich zwei winzige, braune Espressopfützen auf dem weißen Möbelstück abzeichneten. Ich wischte sie hastig weg, setzte mich schwungvoll an den Tisch und stopfte mir ein Croissant in den Mund. Währenddessen bespaßte ich Signorino, der vehement meine Aufmerksamkeit einforderte. Zeitgleich stand der Römer vor unserem Kühlschrank und sinnierte über die geeignetste Marmelade für sein Croissant. „Oggi prendo la marmellata di… arance! [Heute nehme ich…. Orangenmarmelade!]“ einigte er sich schließlich mit sich selbst und schob ein „Mmhhh…che scelta deliziosa! [Mmhhh…was für eine köstliche Wahl!]“ hinterher. Als er wenige Augenblicke später an den Esstisch trat, befand ich mich bereits in den letzten Zügen des Croissants. Mit vollgestopften Backen nickte ich ihm zu. „Perché non mangi con calma? [Warum isst du nicht in Ruhe?] “ fragte er etwas pikiert und betrachtete abschätzig meine bis oben hin gefüllten Hamsterbacken, in denen es sich ein Croissant gemütlich machte. Mit vollem Mund antwortete ich, dass wir keine Zeit hätten. Doch er verstand nicht. Stattdessen zelebrierte er sein zweites Frühstück mit größtmöglicher Muße, strich sich mit ruhigem Messerschwung immer wieder Marmelade auf das buttrige Croissant und schloss bei jedem Bissen genussvoll die Augen. Ich holte indessen den Lappen und fing an um ihn herum zu wischen. Er ignorierte mich gekonnt, was wahrlich nicht einfach war.

Nach weiteren 20 Minuten beschloss ich, dass auch das schönste Frühstück einmal zu Ende sein müsse. „Schatz, hör mal: Wir müssen jetzt echt packen. Sonst schaffen wir das alles nicht. Die Zeiten, in denen wir nur mit Handgepäck verreisen konnten, sind seit Signorinos Geburt vorbei.“ Er nickte zustimmend, stand auf und räumte seinen Teller in die Spülmaschine. Ich begann inzwischen routiniert die Gültigkeit unserer Pässe zu kontrollieren. Diese Tätigkeit ist vermutlich meinem Beruf geschuldet. Schließlich bin ich seit Jahren darauf konditioniert, dass die Laufzeit meines Reisedokuments nicht weniger als sechs Monate betragen darf. Signorino hing mir währenddessen am Bein wie eine Fußfessel und summte Teile des Lummerlandliedes.

2027. Passt!“ Ich legte mein Ausweisdokument zur Seite. Der Römer betrat nun das Schlafzimmer, in dem Signorino und ich standen. Lachend schnappte er sich den kichernden Signorino und wirbelte ihn nach oben. „2025. Super!“ sprach ich und stapelte Signorinos Pass auf meinem. „2021?! Moment mal!!“ stotterte ich mit Blick auf das römische Ausweisdokument. „Monat? August!“ Im Kopf zählte ich bereits nach, wie viele Monate noch bis zum Ablauf des Passes fehlen würden. „Vier!!! Quattro!“ rief ich panisch aus, während all meine Alarmglocken laut schrillten. Ich hatte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass der römische Pass nur noch wenige Monate gültig sein würde. „Amore! Rilassati! [Liebling! Entspann dich!]“ versuchte mich der Römer emotional einzufangen. Mittlerweile stand er mit Signorino im Arm direkt hinter mir und guckte sich sein Reisedokument über meine Schulter an. „Das sind doch noch ganze vier Monate. Bis dahin kann ich verreisen, wann und wohin ich will.“ klärte er mich auf. „Eben nicht!“ trat ich ihm entschieden entgegen. Ich machte ihm verständlich, dass viele Länder die Einreise verweigerten, wenn der Pass nicht noch mindestens sechs Monate gültig sei. Der Römer guckte mich an wie ein Rehbock, der fasziniert und panisch zugleich in die Scheinwerfer eines heranrasenden Autos blickte. Sofort machte ich mich daran, im Internet nach Ein- und Ausreisebestimmungen von Deutschland und Albanien zu suchen, während sich ein rastloser Redeschwall voller möglicher Horrorszenarien über den kurzzeitig völlig überforderten Römer ergoss. Auf der Richterskala meines aktuellen Stresslevels befand ich mich bereits auf einer 4 bis 5. Nach meinem Redeschwall schaltete der Römer wieder auf Autopilot und versuchte mich mit seinem Mantra „Amore, andrà tutto bene. [Schatz, es wird alles gut.]“ zu beruhigen.

Und tatsächlich! Die erlösenden Antworten standen auf den Internetauftritten der deutschen und albanischen Behörden. „…und so muss ein Ausweisdokument noch mindestens drei Monate gültig sein…“ las ich laut vor und atmete erleichtert aus. „Tel’ho detto: Andrà tutto bene. [Ich sagte doch: Alles wird gut.}“ beschwichtigte mich der Römer. Mit meinem Ärmel wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Puh! Ein abgelaufener Pass hätte mir gerade noch gefehlt.

Nachdem wir die Passgültigkeit geklärt hatten, wollte ich erneut den Römer zum Packen antreiben, da hing er auch schon am Telefon: „Erisa?! Pronti!!! Sono io. [Erisa?! Hallo!!! Ich bin’s.]“ hörte ich den Römer ins Telefon brüllen. Dann legte er sich mit dem Handy am linken Ohr und dem Pass in der rechten Hand auf die Couch. Ausschweifend erklärter er seiner albanisch-italienischen Freundin Erisa, die ebenfalls in Frankfurt wohnt, dass sie unbedingt auf ihre Passgültigkeit achten solle. Noch am Telefon suchte diese nach ihrem Ausweisdokument, überprüfte es in Echtzeit und gab dem Römer eine genaue Rückmeldung zur Gültigkeit. Als beide festgestellt hatten, dass Erisas Pass bereits im Juni dieses Jahres ablaufen würde, suchten sie sich gemeinsam durch das albanische Onlinesystem, in dem man Termine bei Konsulaten buchen konnte. Unter lauten Ausführungen, die teils in Albanisch, teils in Italienisch stattfanden, reservierten sie in minuziöser Kleinstarbeit nicht nur einen Konsulatstermin in München für sie, sondern auch gleich noch eine Hin- und Rückfahrkarte in selbige Stadt. Ich hingegen dachte, ich bin im falschen Film. Es war bereits 13:00 Uhr und der Römer telefonierte in aller Ruhe, als würden wir morgen einen Ausflug in den Taunus machen und keine Flugreise mit Kleinkind in einen Drittstaat. Nach weiteren 15 Minuten, in denen ich mindestens sieben Minuten lang vor ihm stand und wild mit den Armen fuchtelte, legte er auf. „Era importante. [Das war wichtig.]“ versuchte er mir verständlich zu machen. „Auch Erisas Pass läuft bald ab.“ Ich nickte, seufzte und erwähnte abermals, dass wir jetzt bitte packen müssen.

Adesso? Ma adesso abbiamo fame, amore mio. [Jetzt? Aber jetzt haben wir doch Hunger, mein Schatz.]“ entgegnete er mir sehr überzeugend.

Mein Magen knurrte zustimmend. Na gut, ein schneller Teller Pasta würde sicher nicht schaden. Der Römer kochte eine Pasta mit getrockneten Tomaten und Garnelen, die ganze Familie aß brav auf und Signorino fing sogleich nach dem Mittagessen an zu quengeln, da er müde war. Vorbildlich brachte ihn der Römer ins Bett. Während das Kind schlief, packte ich das Handgepäck mit den bereits vorbereiteten Gegenständen. Ich sortierte in die überdimensionierte Wickeltasche einen wilden Mix aus Wechselklamotten, Feuchttüchern, Windeln, Spielzeug, Wasser, Babyflaschen, Quetschies, Fruchtriegeln und Keksen ein. Als Fachkraft des Fluges verstaute ich bereits alle Flüssigkeiten so, dass ich sie an der Sicherheitskontrolle schnell zur Hand haben würde. Die restlichen Sachen verstaute ich nach ihrer jeweiligen Nützlichkeit. Unnötige Sachen nach unten, wichtige Sachen nach oben. Schließlich ist mein zweiter Vorname „Effizienz“, was in unserer Familie nicht alle von sich behaupten können. Als Signorino aufwachte und zufrieden seine Nachmittagsbrotzeit verspeiste, erwähnte ich zum wiederholten Male, dass ich jetzt gerne packen würde, was wiederum bedeutete, dass der Römer Signorino davon abhalten müsse, heulend und schreiend vor der geschlossenen Schlafzimmertür zu stehen und gegen die Tür zu hämmern. Bestenfalls hielt er ihn so in Schach, dass ich weder die Schlafzimmertür schließen müsse, noch Signorino auf die Idee käme, alle gepackten Gegenstände wieder aus dem Koffer zu zerren und in der Wohnung zu verteilen.

Adesso? [Jetzt?]“ fragte der Römer diesmal sehr überrascht. Aber die Sonne würde doch so einladend scheinen.

Ein Unding, wenn nicht sogar eine Verschwendung wäre das, genau jetzt zu packen! Wir würden ganz sicher später packen, das verspreche er mir. Doch jetzt würde er auf einen Spaziergang in der warmen Frühlingssonne bestehen müssen. Sein Vitamin D Status sei ohnehin nach all diesen trüben Monaten in einem besorgniserregenden Zustand. Zähneknirschend willigte ich ein, bestand jedoch darauf, ebenfalls meine Einkaufsliste des hiesigen Drogeriemarktes zu erledigen. „Ma certo, amore mio! Non c’è problema. [Aber sicher doch, mein Schatz! Kein Problem.]“ versicherte er mir. Wir packten Signorino in den Buggy und gingen los. Doch statt beim Drogeriemarkt die reisenotwendigen Besorgungen zu erledigen, lief der Römer schnurstracks daran vorbei. Ich rief ihn wild gestikulierend zurück. „Ma non adesso, mia principessa. [Aber doch nicht jetzt, meine Prinzessin.] Wir können doch nicht den ganzen Spaziergang lang schwere Tüten schleppen. Nach dem Spaziergang aber gerne.“ klärte er mich über seinen Plan auf. Ich schob meine Sonnenbrille, die in meinem Haar steckte, demonstrativ über die Augen. Wenn ich schon in spätestens fünf Jahren ausgeprägte Zornesfalten haben würde, dann wollte ich wenigstens auf Blinzelfalten – solange es geht -verzichten .

Wir machten einen langen Spaziergang. Der Römer konnte seinen Vitamin D Bedarf auffüllen, Signorino und ich vermutlich auch und mein Zorn verpuffte aufgrund der frischen Luft und des strahlend blauen Himmels. Auf dem Rückweg kauften wir alle fehlenden Reiseutensilien im Drogeriemarkt ein und statteten der örtlichen Apotheke einen Besuch ab, damit ich meine Reiseapotheke auffüllen konnte. Der Römer war sich zwar sicher, dass das nicht nötig sei, aber ich legte dennoch großen Wert darauf, im Notfall nicht mühsam eine Apotheke in Albanien suchen zu müssen. Als wir nach zwei Stunden Auslauf endlich daheim waren, forderte ich den Römer abermals dazu auf, auf Signorino aufzupassen während ich packen würde. Da ich die vorherigen Male gekonnt ignoriert wurde, sprach ich ihn nun deutlich direkter an. Es war bereits 18:45 Uhr. Das Kind musste noch gebadet werden und würde in circa zwei Stunden ins Bett gehen und dann, Sie wissen es von den vorherigen Erzählungen, sind jegliche Geräusche zu vermeiden. Das hieß wiederum: In jedem Fall müssen wir packen, bevor das Kind schläft.

Okay, va bene. Però…. [Okay, in Ordnung. Aber…]“, fing er an und strich sich über seinen Bauch.

„…ein kleiner spuntino [Snack] würde uns sicher helfen, konzentrierter und besser zu packen.“ Ich hatte keine Lust mehr auf seine Ausreden und antwortete ihm äußerst genervt: „Aber nur Brot!! Mehr nicht!“ Der Römer schwebte zufrieden in die Küche. Was genau er an „Nur Brot!!“ nicht verstanden hatte, weiß ich bis heute nicht. Was ich aber weiß, ist, dass er sogleich ein selbstgemachtes Oliven-Paté zubereitete, diverse Käsesorten kleinschnitt und anrichtete, die scharfe Tomatenmarmelade in kleine Schälchen füllte, Brot aufschnitt und kurz im Ofen erwärmte und Teller mit Balsamicocreme verzierte. Als er seine Interpretation von „Nur Brot!!“ servierte, konnte ich ihm nicht einmal böse sein, da er sich so viel Mühe bei der Darbietung gegeben hatte. Mittlerweile war es 19:45 Uhr. Nervös guckte ich auf die Uhr. Ich konnte förmlich spüren wie uns die Zeit durch die Finger glitt. Ungeduldig, aber gleichzeitig höflich lächelnd, stopfte ich alles in mich hinein. Insgeheim hatte ich die stille Hoffnung, dass der Römer sich ein Beispiel an mir nehmen würde, aber wie immer zelebrierte er sein Abendmahl, als wäre es sein letztes. Nach weiteren zehn Anstandsminuten bat ich ihn, mich erheben zu dürfen. Natürlich wüsste ich, dass er noch isst und natürlich sei das eine grobe Unhöflichkeit meinerseits, jedoch hätte ich dringende Angelegenheiten zu erledigen, erklärte ich ihm ernst. Er nickte leise kauend. Sogleich hastete ich ins Schlafzimmer. Doch wann immer ich auch nur den Versuch machte, den Koffer zu öffnen, kam der neugierige Signorino angerannt und wollte gucken, was ich da machte. Jegliche Packversuche vereitelte er. Ohne tatkräftige Unterstützung seitens des Römers würde ich definitiv nicht packen können. Ich ging zurück ins Wohnzimmer, natürlich mit dem aufgeweckten Kleinkind im Arm. „Okay, jetzt ist es 20:15 Uhr. Ich MUSS jetzt packen. Wirklich! Außerdem muss der Zwerg noch gebadet werden. Vielleicht fangen wir so an, dass du zuerst deine Sachen packst und ich packe hinterher ganz schnell die Sachen von Signorino und mir? Du brauchst sicher nicht länger als 15 Minuten für deine Reiseutensilien, oder?!“ schlug ich sichtlich gestresst vor. Mittlerweile tummelte sich mein Gemütszustand auf der Farniente’schen Richterskala auf einer wackligen 6,5 mit Tendenz nach oben.

15 minuti? [15 Minuten?]“ erschrak der Römer merklich. Nein, das würde nie reichen. Er brauche mindestens eine Stunde um seine Sachen römerkonform zu packen.

Nun schnellte mein Puls hoch. Auf meiner Stressskala war ich blitzschnell auf einer soliden 8,5 bis 9 angekommen. Den ganzen Tag verzögerte er den von mir geplanten Ablauf und jetzt würde er eine Stunde brauchen um vier Unterhosen und zwei Pullis einzupacken? Ich sah rot! Nach röter sah ich, als mein Blick auf das einzige, fertig gepackte Handgepäcksstück fiel. Provozierend lag die dunkelblaue Wickeltasche, aus der drei gültige (!) Pässe ragten, auf der Couch. Ich steigerte mich so hinein, dass ich ganz am Ende der Stress-Richterskala ankam. Lautstark explodierte ich und beendete meinen Tobsuchtsanfall mit dem Satz: „….gerne kannst du nur mit einer Wickeltasche bepackt fahren, aber ICH bleibe unter diesen Umständen zu Hause. Den ganzen Tag hältst du mich hin, nur um mir dann zu sagen, dass du eine Stunde brauchst um deine vier Sachen einzupacken.“ Ich ließ mich geschafft auf die Couch fallen und beschäftigte mich demonstrativ mit meinem Handy. Der Römer hingegen war nicht sauer, er war vollkommen verwirrt. Warum ist seine Ehefrau denn jetzt so ausgerastet? Er hilft doch wo er kann.

Wortlos ging er mit dem bereits auffallend häufig gähnenden Kleinkind ins Badezimmer und ließ Wasser in die Badewanne ein. Schnell badete er ihn, steckte ihn in den Schlafanzug und Signorino lehnt seinen schwer gewordenen Kopf müde an die Schulter seines Papas. Seine Augen konnte der arme Kerl kaum noch offen halten. Ich begab mich währenddessen wieder ins Schlafzimmer und saß vor einem geöffneten Koffer mit ziemlich vielen Checklisten, die um mich herum verteilt auf dem Fußboden lagen. Gestresst, genervt und nichts findend, murmelte ich: „Soll er doch alleine fahren! Ich werde mich doch jetzt nicht im letzten Moment stressen. Schließlich habe ich bereits alles vor Tagen haarklein geplant. Und wer meint, meinen Plan so vereiteln zu müssen, der soll ruhig auf die Schnauze fallen.“ Der Römer betrat mit unserem Ableger das Schlafzimmer. Leise gab er mir zu verstehen, dass ich aus dem Zimmer gehen solle. Am besten mit dem Koffer. Ich klappte das Gepäckstück leise zu und rollte es hinaus. Im Koffer befanden sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt fünf Kleidungsstücke Signorinos, ein Nachtlicht, ein paar Hausschuhe und zwei Packungen Feuchttücher. Alles andere fehlte. Toilettenartikel konnten nun ebenfalls nicht mehr gepackt werden, weil das Bad neben dem Schlafzimmer liegt. Normale Waschgeräusche wecken das Kind nicht auf. Wilde Suchaktionen in unzähligen, formschönen, aber unpraktischen Boxen, können den leichten Schlaf des Kinder aber durchaus unterbrechen. Und das galt es um jeden Preis zu vermeiden.

Trotzig ließ ich mich auf die Couch plumpsen. Nein, morgen würde ich garantiert nicht reisen. Als der Römer ins Wohnzimmer kam, stritten wir uns flüsternd und leise zischend. Sämtliches Türenknallen und wütend-aus-der-Wohnung-laufen fiel Signorinos Schlaf zum Opfer. Am Ende schien der Römer eine Lösung für unser Debakel gefunden zu haben. „Na, dann stehen wir eben morgen um 5:30 Uhr auf und packen. Wenn das Kind zu dieser Zeit aufwacht, dann ist das eben so.“ Ich schüttelte meinen Kopf. Nicht nur, weil die Aufstehzeit „5:30 Uhr“ für mich nur im aller größten Notfall existierte, sondern auch, weil ich meinem mühevoll ausgearbeiteten Schlachtplan hinterhertrauerte, der heute konstant vom römischen Ehemann vereitelt wurde.

„Okay, in Ordnung, aber ohne…“ fing ich an.

[Hier geht es weiter mit Teil 2]

So hätte es aussehen sollen, sah es aber nicht.

*Der Satz in der Überschrift lehnt sich an Winston Churchills berühmten Kommentar „Fahren Sie langsam, ich habe es eilig.“ an.