Von Marco Soda und dem Salon Barras.

Von Marco Soda und dem Salon Barras.

Io odio Soda. [Ich hasse Soda.]“ hört man den Römer immer wieder durch die Wohnung murmeln, die er im mit langen, nachdenklichen Schritten durchquert als würde er sie vermessen wollen. „Odio, odio, odio veramente Soda. [Ich hasse, hasse, hasse wirklich Soda.]“

Nun krabbelt ihm Signorino, der sich unbemerkt aus dem Bad in den Gang geschlichen hat, vor die Füße. Er bremst ab, hebt ihn hoch und bringt ihn zurück zu mir. Ich hingegen bin in einer wichtigen Mission unterwegs: Die Befreiung unseres Abflusses von Haaren. „Amore!!“ ruft der Römer viel zu laut. Er steht in der Badtür, Signorino zappelt und will auf dem Boden abgesetzt werden. „Ja.“ antworte ich knapp und in meine Aufgabe vertieft, die quietschgelben Gummihandschuhe bis zum Ellbogen, einen fachmännisch von mir angeritzten Kabelbinder in der Hand, in dem sich möglichst viele Haare verfangen sollen.

„Io odio Soda! [Ich hasse Soda!]“ wiederholt er nun sein Mantra noch etwas lauter für den Fall, dass ich es nicht schon in den letzten Minuten mitbekommen habe. „Sodawasser?“ frage ich, denn ich weiß beim besten Willen nicht, welches Problem er mit Back- oder Waschsoda haben könnte. „No! Soda! Der bayerische Ministerpräsident!“ klärt er mich flapsig auf. „Aaaaaah! SÖDER! Markus Söder!“ wiederhole ich, denn darauf wäre ich nun wirklich nicht gekommen. Der Vorzeigefranke und er stehen im Klintsch. Zu lange kenne ich den Römer, als dass mich diese Information noch wundern würde. „Si, Marco Soda. È veramente un barbaro. [Ja, Marco Soda. Er ist wirklich ein Barbar.]“, wiederholt er bestätigend. Seine Zornesfalte unterstreicht die eben ausgespuckten Sätze grimmig. Es muss folglich ernst sein!

Nach diesem politischen Geständnis, widme ich mich wieder dem Abfluss. Woher genau diese Abneigung kommt, erfahre ich sicher gleich. Denn der Römer erzählt gerne ausschweifend von seinen Problemen in jeglicher Colour. Da lassen wichtige Details wie das „Warum“ nicht lange auf sich warten.

„Allora, il mio problema è questo: [Also, mein Problem ist dieses:]“ , setzt er an, „Marco Soda hat den Lockdown verlängert. Bei seiner Frisur absolut nachvollziehbar, schließlich drückt die aufgestellte Haartolle aus, dass er sich sehr oft mit der flachen Hand gegen die Stirn schlägt. Seinen doch recht einfachen Haarschnitt kriegt auch seine Gattin in wenigen Minuten mit der Haarschneidemaschine hin….“ Er atmet tief durch.

Indessen versuche ich zu erraten wie diese beiden Informationen miteinander zusammen hängen könnten. „Warum spielt die Frisur des bayerischen Ministerpräsidenten eine Rolle bei der Lockdown Verlängerung?“ frage ich rätselnd, denn ich finde partout keine Antwort darauf.

„Das liegt doch auf der Hand!“, blafft der Römer, „Alle Friseure sind zu – bis mindestens Ende Januar. Und das wiederum hat Soda schon eine Wochen vor dem Ende des aktuellen Lockdowns angedeutet. Er ist der einzige Politiker, der die Hiobsbotschaften schon weit vor dem eigentlichen Entschluss herausposaunt, deswegen trifft ihn die alleinige Schuld.“ Er seufzt und holt wieder Luft: „Wenn ich keine Naturlocken hätte, sondern dieses dünne, deutsche Haar, das schlaff vom Haupt herunterhängt, wäre das für mich auch kein großes Drama. Aber ich bin Südländer! Meine Haare wachsen wie verrückt, sie wellen sich, müssen ausgedünnt werden, teilweise gekürzt, aber nicht zu viel. Die Seiten müssen angestutzt werden, Übergänge müssen sich sanft an meinen Kopf anschmiegen. Und die Wirbel erst! Zwei Stück habe ich, die an herausfordernden Stellen liegen. Da muss ein Spezialist wie Jimmy [sein Friseur] ran!“ erklärt er mir in aufgebrachten Ton.

Mittlerweile habe ich meine Abflussreinigungsaktion beendet, ziehe die Handschuhe aus und streichle Signorino, der gerade alle Handtücher ausräumt, über das wenige, dünne, deutsche Haar.

„Also, mir ist bewusst, dass ich ganz sicher nicht Jimmy bin, aber ich kann mir Anleitungen im Internet anschauen und es gerne versuchen…“ fange ich hilfsbereit an und kenne doch bereits seine Antwort: „Ma sei scema? [Bist du verrückt?] Als ob man mal eben in einem Video lernen kann, wie man meine Haare fachmännisch schneidet? Friseur ist ein Beruf, der erlernt werden muss. Und selbst dann trennt sich die Spreu sehr stark vom Weizen. Es hat mich zwei Jahre gekostet, einen Profi-Friseur wie Jimmy überhaupt in Frankfurt zu finden.“ rattert er mir seine Sichtweise herunter. Ich nicke nur und gehe davon aus, dass das Thema nun für uns beendet ist.

Doch weit gefehlt.

Die Tage verstreichen, die Haare des Römers werden immer länger. Die Ohren sind zwar gerade noch so unbedeckt von seiner welligen Haarpracht, aber auch dieser Zustand wird sich bald ändern. Der Römer wird sichtlich verzweifelter.

An diesem Abend, Signorino ist schon längst im Bett, stützt er sich nach dem Abendessen mit beiden Händen auf dem Tisch ab: „Okay, ci provo. Non ho un’altra scelta. [Okay! Ich versuch’s. Ich habe keine andere Wahl.]“ erklärt er mir mit ernster Miene und stolziert ins Bad. Wenig später kann man das Summen des Haartrimmers hören. Nach 25 Minuten, oberkörperfrei, seine Schultern sind mit unzähligen, kurzen Haaren bedeckt, die es sich nach und nach auf dem Wohnzimmerfußboden gemütlich machen, steht er vor mir. „Ho bisogno del tuo aiuto.“ spricht er so leise, dass ich es beim ersten Mal nicht verstehe (oder verstehen will 😉 ). Er wiederholt seinen Satz – nun etwas lauter. „Ach, meine Hilfe!? Aber natürlich! Wie kann ich dir behilflich sein?“ erwidere ich süffisant grinsend. Er erklärt mir, dass ich seinen adretten Schnitt, Marke Eigenbau, etwas ausbessern solle. Außerdem hat er versucht, sich auch am Hinterkopf die Haare zu stutzen, vermutet aber, dass es etwas „unrund“ geworden ist.

Wir gehen ins Bad. Dort angekommen, schalte ich die „Festbeleuchtung“ an. Alle verfügbaren Lichter brauche ich nun, denn schließlich nehme ich meine Aufgabe als Coiffeuse sehr ernst.

Doch ich merke recht schnell: Die Lage ist ernst und dringlich – und exakt so sollte dieses Problem auch behandelt werden.

Ich gucke mir an, was der Römer sich angetan hat. Definitiv schneidet auch er nicht auf dem Niveau seines Friseurs Jimmy. Doch Glück im Unglück: Er schneidet auch nicht so schlecht, dass nichts mehr zu retten wäre. Zugegeben, die Übergänge sind mitunter etwas hart. Steinhart, wenn man so will. Es sieht auf seinem Kopf aus, als würden sich die Wellen und Locken nicht so recht sicher sein, ob sie nun kurz oder lang gehalten werden wollen.

An seinem Hinterkopf fällt mir besonders die moderne Interpretation eines langen Irokesenschnittes mit leichten Wellen ins Auge. Das habe ich so noch gar nirgends gesehen. Mir imponiert der avantgardistische Stil, den er versucht hat in sein Haupthaar zu integrieren. Wahrscheinlich könnte man ihn auch so auf seine Patienten loslassen, wenn man ihnen erklären würde, was „radical chic“ ist. Aber ich vermute, dass er das nicht möchte.

Er unterbricht meine Gedanken, in dem er auf eine Parfümwerbung auf der Rückseite einer Zeitschrift zeigt. Es ist ein Duft eines italienischen Modedesigner-Duos. Das männliche, braun gebrannte Model sitzt auf einem weißen Boot, nur mit einem knappen, weißen Badehöschen bekleidet. Im Hintergrund glitzert das tiefblaue Meer rund um die Faraglioni-Felsen vor Capri. Das schwarze, lockige Haar sitzt perfekt. Die blauen Augen strahlen herausfordernd.

Ja, klar!“, lache ich laut, „Gib mir viereinhalb Jahre Zeit, die ich zwischen Friseurumschulung und Meisterausbildung verbringe und ich schneide dir genau das.“ Er guckt mich eingeschnappt an. „Du kannst es doch wenigstens mal versuchen!“ motzt er und hält sich provokativ die Zeitschrift mit dem Bild zu mir vor die nackte Brust.

In diesem Moment lasse ich unerwähnt, dass er mich Tage zuvor für absolut unfähig hielt auch nur eine Schere richtig zu halten und nun soll ich ihn in das männliche Model aus der Werbung verwandeln. Der Mann hat Humor – das muss man ihm lassen.

Ich nehme den Trimmer und trimme mal hier, mal da, bis zumindest der modern interpretierte Irokosenschnitt weicht. Dann mache ich mich an die Übergänge, merke aber schnell, dass ich mit dem Haartrimmer an meine Grenzen komme. Mangels professioneller Haarschere, gleiche ich etwas mit der Nagelschere aus. Es ist nun deutlich besser, aber noch Galaxien von Jimmys Künsten entfernt. Ich seufze resigniert und lasse die Schere sinken.

Der Römer weist mich an, den Schminkspiegel, der nun zum Friseurspiegel umfunktioniert wurde, mal links, mal rechts zu halten, damit er jede Ecke begutachten kann. Er schüttelt den Kopf. „Vabbè [In Ordnung], du hast es versucht. Comunque, grazie. [Trotzdem danke.]“ Den restlichen Abend sieht man ihn nur noch mit Mütze vor dem Fernseher sitzen. Es muss wirklich schlimm für ihn sein, wenn er selbst daheim seine Haarpracht unter einer Kaschmirmütze verstecken muss.

Am nächsten Tag, es ist bereits später Mittag, höre ich Dieter und ihn angeregt im Hausflur quatschen. Beschwingt schwebt der Römer wenige Minuten später durch die Haustür. „Ho trovato il mio parucchiere: [Ich habe meinen Friseur gefunden:] Dieter! „ berichtet er mir aufgeregt und lächelt zufrieden. Ich gucke etwas überrascht, nicke dazu aber langsam (und ungläubig). „Dieter hat im Salon <<Barras>> gearbeitet als er jung war. Er meint, er hat dort nur Herrenhaarschnitte gemacht.“ ergänzt er freudig. Ich grinse, doch der Römer scheint es gar nicht zu bemerken. Heiter setzt er fort: „Er holt nur eben seine Friseurschere und einen alten Kittel von oben. Und ich muss schon einmal den Stuhl in den Innenhof raustragen. Er schneidet mir draußen die Haare – mit Maske und Daunenjacke. Sicherheit geht vor. Du weißt schon… Aerosole und so.

Noch ehe ich aufklären kann, das Dieter in keinem feinen Salon (ganz im Gegenteil!) gearbeitet hat, zischt der Römer mit einem Küchenstuhl an mir vorbei.

Nur 15 Minuten später kommt er durchgefroren, aber glückselig, mit neuer Frisur und seinem Stuhl zurück. „È fantastico. [Das ist fantastisch] Etwas kurz, aber Dieter weiß wirklich, was er da tut.“ berichtet mir der Römer euphorisch. Zufrieden streicht er sich über die raspelkurzen Haare.

Ich muss zugeben, der Römer hat Recht. Ein wirklich sehr schöner Schnitt für einen Oberleutnant. Zwar äußerst kurz, aber bei jeder Musterung würde der Römer mit Pauken und Trompeten genommen werden.

Dass Dieter in keinem Friseursalon mit dem Namen „Barras“ gearbeitet hat, sondern für die Bundeswehr (= umgangssprachlich Barras), löse ich nicht auf. Denn wer weiß, wie lange dieser Lockdown noch dauert und wie oft er Dieters Friseur-Expertise noch in Anspruch nehmen muss.

Wenigstens habe ich dank Dieters „Salon Barras“ in unserem Innenhof ein relativ dramafreies Leben.

Der Römer beim Nachjustieren… was wie Rückenhaare anmutet, sind seine Friseurkünste des Oberkopfes. 😄

Heute beginnt die Zukunft

„Die spinnen, die Römer.“ müssen die TIRs von oben gestern gedacht haben.

Der Römer und ich schrien so laut und euphorisch, dass man sich im Kalender vergewissern musste, ob heute auch wirklich kein WM-Endrundenspiel stattfand. Dieses Jahr barg schon so viele Überraschungen – unmöglich wäre es nicht gewesen.

Signorino derweilen war so geschockt von unserem Aufschrei, dass er bitterlich anfing zu weinen. Der Römer durfte ihn fortan für den Rest des Abends nicht mehr berühren. Das mag daran liegen, dass er noch lauter und exzessiver schrie als ich. Zwanzig Minuten lang versicherte ich dem verängstigten Signorino schuckelnd, dass das ein Ruf der puren Freude war und er keine Angst haben müsse. Er traute dem Frieden nicht so ganz und ging vorsichtshalber erst nach Mitternacht zu Bett.

Sie werden sich fragen, was denn im Hause Farniente passiert ist, dass man es mit einem Urschrei derartigen Ausmaßes quittieren muss. Ich erzähle es Ihnen gerne.

Dazu muss ich etwas ausholen: Der Römer studierte in Italien, wie sie sicherlich wissen. Zwei Studiengänge schloss er dort mit Bravour ab. Nun dachten wir, als er hierher zog, dass alle Studiengänge im europäischen Wirtschaftsraum ohne Probleme anerkannt werden.

Leider sollten wir uns täuschen. Recht schnell lernten wir, dass er ein gewisses Sprachniveau vorweisen muss um eine Zulassung in Deutschland zu bekommen. Des weiteren muss die zuständige, deutsche Behörde seinen Studiengang auf Herz und Nieren prüfen, obgleich die italienischen Studiengänge fachlich und didaktisch deutlich höherwertiger sind als das deutsche Pendant.

Recht schnell besorgten wir alle notwendigen Unterlagen von der römischen Universität, die beweisen sollten, dass seine Studiengänge mindestens gleichwertig zu den deutschen Äquivalenten waren. Es klappte und sie wurden in Deutschland anerkannt. Nun fehlte lediglich das Sprachzertifikat. Und das erwies sich als Ritt durch die Hölle.

Er, der bestens ausgebildete Römer, musste plötzlich in einer Pizzeria bis weit nach Mitternacht schuften, nur um dann morgens um 6:00 Uhr aufzustehen um zum Sprachunterricht zu gehen. Aber er bewies sich in der Pizzeria: Er war erst Pizzabäcker, dann Kellner, am Schluss war er der engste Freund des Besitzers, der ihm immer wieder die Stelle als Manager seines neuen Restaurants im Zentrum schmackhaft machen wollte. Doch der Römer lehnte dankend ab, denn zu sehr liebt er seinen eigentlichen Beruf.

Die Bezahlung in der Pizzeria war nicht besonders linear. Es gab keine monatliche Zahlung auf das Gehaltskonto. Stattdessen wurde er bar bezahlt. Tröpfchenweise trudelte sein Lohn bei uns ein. Zur gleichen Zeit wurden unseren Fixkosten leider nicht tröpfchenweise abgebucht, so dass es mitunter sehr unangenehme Jahre waren, in denen wir oftmals am Ende des Monats die vielversprechende Auswahl zwischen pasta in bianco (Nudeln mit Parmesan und Öl) oder Kartoffeln mit Quark hatten.

Als der Deutschlehrer des Römers ihm im Frühjahr 2019 mitteilte, dass er nun bereit wäre für die Prüfung, freuten wir uns sehr. Zeitgleich wurde ich schwanger. Nun sollten all unsere Probleme überstanden sein – dachten wir. Und wir sollten uns abermals täuschen.

Der Römer machte den ersten Versuch – und scheiterte haushoch. „Kann ja mal passieren. Nächstes Mal klappt es bestimmt.“ beruhigten wir uns. „Einmal ist kein Mal.“ heiterten wir uns auf. Wir wussten nicht, dass es finanziell deutlich härter und emotional noch viel anstrengender werden würde.

Er scheiterte wieder. Und wieder.

Ich erinnere mich an unseren letzten Urlaub zu zweit. Eine charmante Babykugel zierte bereits meinen Bauch. Wir verbrachten unsere komplette Urlaubszeit lernend am Strand, auf dem Balkon und in der Küche. Der Römer kniete sich rein, doch am Ende bestand er wieder nicht.

Nach diesem Urlaub begann er seine neue Stelle. Ein Praktikum in einer beliebten Praxis. Das hatte zumindest einen Vorteil: Am Ende des Monats ging Geld auf unserem Konto ein. Nicht tröpfchenweise, sondern auf einen Schlag. Für ein Praktikum war die Stelle gut bezahlt. Für jemanden, der deutlich mehr Studiengänge abgeschlossen hat, als die festangestellten Arbeitnehmer der Praxis war es ein Witz.

Schnell war er sehr geschätzt bei seinen Chefs und seinen Patienten. Wer einmal bei ihm war, der wechselte nicht mehr zu einem anderen Kollegen. Er konnte seine Arbeitsstunden aufstocken, was mich hinsichtlich der anstehenden Geburt Signorinos und der Gehaltseinbußen aufgrund des Elterngeldes etwas beruhigte. Die wenigen Urlaubstage, die er 2019 hatte, legte er auf die Tage rund um den errechneten Geburtstermin Signorinos. Signorino kam später – und der Römer musste wieder arbeiten als wir vom Krankenhaus heimkamen. Er hatte, dank Probezeit und vorhergehenden Jobs, keine Chance auf Elternzeit. Meine Geburtsverletzungen waren äußerst ausgeprägt, so dass ich nicht länger als 30 Sekunden stehen konnte. Doch ich hatte keine Wahl. Also biss ich mich durch dieses Wochenbett – weitestgehend allein. Der Römer fühlte sich meist schuldig, da er mich seiner Meinung nach im Stich ließ. Auch mein Hinweis, dass er nichts dafür könne und es definitiv nicht seine Schuld sei, beruhigte ihn nicht. Zeitgleich fühlte mich meist überfordert und allein gelassen mit dem neugeborenen Signorino, der stundenlang schrie. Die Hebamme goss Öl ins Feuer, in dem sie jeden einzelnen Tag, an dem sie ihre Visite machte, fragte, ob es nicht doch jemand gäbe, der mich unterstützen könne. Nein, den gab es nicht.

Der Römer versuchte sich nun wieder an einem zertifizierten Sprachtest. Und scheiterte abermals.

Je öfter er es versuchte, desto mehr litt sein Selbstvertrauen. Er traute sich nichts mehr zu. Er, der bei allem mit Disziplin, Verbissenheit und absolutem Willen gewann, verlor nun – Mal um Mal.

Dazu kamen die Kommentare von Bekannten und Verwandten, wann immer sie erfuhren, dass er wieder einen Prüfungstermin hatte. „Ihr müsst halt mal daheim Deutsch reden.“ sagten sie, die rein deutschen Pärchen, die sich nicht vorstellen konnten, dass man Sprachen nicht einfach so austauschen kann. „Er muss sich halt noch mehr reinknien.“ gab uns jemand als Tipp. „Vielleicht sollte er mehr Fernsehen gucken auf Deutsch.“ Ja, wenn er dazu nur die Zeit hätte. Ab dem vierten Versuch diese Prüfung zu bestehen, behielten wir die Termine für uns. Wann immer jemand danach fragte, antworteten wir, dass der Römer momentan pausierte.

Natürlich belastete die Situation wiederum unsere Partnerschaft. Wir waren nun Eltern, waren darauf angewiesen, dass er endlich diese unsinnige Prüfung bestand, da wir finanziell mit dem Rücken zur Wand standen – noch dazu mit einem Säugling.

Noch niederschmetternder war es für den Römer, wenn er Gleichgesinnten begegnete, die angaben, das Sprachzertifikat beim ersten Versuch bestanden zu haben. Meist waren es Italiener. Ihr Akzent, wenn sie Deutsch sprachen, war gleichzeitig so stark, dass ich kein Wort verstand. Auch die grammatikalische Struktur machte wenig bis keinen Sinn. Wir konnten uns nicht erklären wie ausgerechnet sie diese Prüfung bestanden hatten.

Am schlimmsten war es, wenn der Brief des Prüfungsamts ankam: „Nicht bestanden.“ stand da und der Römer las jedes Mal laut „incapace“ [unfähig] vor. Die darauffolgenden Tage waren bestimmt von einer schrecklich gedrückten Stimmung. Ich spendete Trost, aber was soll man noch sagen, wenn jemand das siebte Mal nicht bestanden hat?

Gestern kam wieder ein Brief des Prüfungszentrums an. Diesmal war der Umschlag anders – was mir Grund zur Hoffnung gab. Der Römer kam erst spät von der Arbeit. Die Stunden bis zu seiner Ankunft zu Hause zogen sich wie Kaugummi. Als der Römer heimkam, wollte ich ihn nicht gleich überfallen, sondern ihn erst einmal in Ruhe ankommen lassen. Ich schaffte es genau bis zu dem Moment, wo er die Hände wusch und etwas über seinen Arbeitstag erzählen wollte. „Cornelia sta in malattia. [Cornelia ist krank] Das ist wohl die ganze Woche so. Io spero che [Ich hoffe, dass]….“ Ich unterbrach ihn. „Es ist ein Brief für dich angekommen. Vom Prüfungszentrum. Aber diesmal ist er anders. Ich wollte dich erst daheim ankommen lassen, aber ich halt’s nicht mehr aus.“ sprudelte es stakkatoartig aus mir heraus. Auf der Stirn des Römers zeigte sich seine Sorgenfalte. „Dove?“ [Wo] fragte er nur und ich zeigte wortlos auf den Esstisch.

Er riss den Umschlag auf. Signorino war auf meinem Arm und brabbelte. „Mamamamama….babababababa…wawawawa.“ Der Römer las das Anschreiben, guckte mich an und zeigte auf Seite 2.

„Bestanden.“ stand dort.

Wir schrien so laut, dass die Wände bebten. All die Freude, die Fassungslosigkeit, die Anstrengung der letzten Jahre, die unzähligen Rückschlage, alles, alles, kam auf einmal aus uns heraus.

Für uns ist der gestrige Tag ein Tag voller Freude, voller Hoffnung, voller Zukunft, denn wir wissen, dass das Bangen ein Ende hat. All die Einbußen, die unzähligen Kurs- und Prüfungskosten, der ständige, panische Blick auf’s Konto und die damit verbundene Angst, dass unsere finanziellen Reserven zum Leben nicht mehr ausreichen würden, hören heute auf. Heute feiern wir und schreien vor Freude so laut, dass Signorino weint.

Denn heute beginnt für uns die Zukunft.

Kein Anschluss unter dieser Nummer

Letztens, da ist mir etwas Dummes passiert.

Ich kann Ihnen nicht einmal den genauen Moment nennen, in dem es passiert ist. Aber ich vermute er war irgendwann zwischen dem Entschluss „das Handy ordentlich zu desinfizieren“, dem Mangel an Desinfektionsmittel im Hause Farniente und der Überzeugung, dass Wasser und Seife es wohl auch tun sollten.

So schnappte ich mir mein Mobiltelefon, ein neueres Semester, und schrubbte es ordentlich mit Wasser und Seife ab. Liebevoll legte ich es in ein kuschelweiches Handtuch und tupfte es trocken. Es glänzte wie neu und funktionierte einwandfrei. Nichts anderes hatte ich erwartet, warb der Hersteller doch mit der Eigenschaft „wasserdicht“.

Dann sah ich auf der großen Kommode im Flur des Römers Handy. Und ab da nahm das Unglück seinen Lauf.

Es ist schon wahr, was man über Italiener im Allgemeinen und dem Römer im Speziellen sagt: Das Leben, die Liebe und alle sozialen Kontakte hängen von diesem kleinen, portablen Gerät ab. Ständig klingelt und piepst es, stets blinkt es penetrant und wenn man es am wenigsten gebrauchen kann, leuchtet es wie ein Stadionscheinwerfer taghell im dunklen Schlafzimmer auf. Meist wird es dann vom eben eingeschlafenen Signorino fröhlich quiekend begrüßt.

Jedoch ist der Teufel ein Eichhörnchen. Nennen Sie es Schicksal, ich nenne es Dummheit. In meinem Tunnel aus Wasser, Seife und dem dringenden Bedürfnis, alle Mobiltelefone des Hauses zu desinfizieren, geschah es: Ich vergaß, dass des Römers Modell leider nicht wasserdicht ist. Großzügig seifte ich es ein, schrubbte jeden Knopf, spülte es mit lauwarmen Wasser ab und legte es ebenfalls in ein Handtuch. Als ich es abtupfte, leuchtete das Display noch in grellen Farben auf. Zufrieden legte ich es auf die Kommode im Flur und verschwand in die Küche.

Nach einigen Minuten hörte ich einen kläglichen Klingelton. Es hörte sich fast so an als würde Ligabue in seinem Lied „certe notti“, das gleichzeitig der Klingelton des römischen Telefons war, um Hilfe rufen. „Certe notti sei sveglio, o non sarai sveglio mai. Ci vediamo da Mario prima o poi“ [Bestimmte Nächte bist du wach, oder du wirst nie wach sein. Wir sehen uns bei Mario – früher oder später] krächzte Ligabue und ich glaubte nicht mehr daran, dass man ihn mit diesem scheppernden Sound jemals wieder „bei Mario“ sehen wird. Egal ob prima [früher/vorher] oder poi [später].

Der Römer begab sich just in diesem Augenblick zu seinem Telefon: „Ma che cavolo è?“ [Was zum Teufel ist das?] fragte er mit seinem um Hilfe schreienden Telefon in der rechten Hand. Fassungslos starrte er mich an. „Ma lo schermo…?“ [Aber der Bildschirm…?] wendete er sich überfordert an mich.

Oh.“ war meine dumpfe Antwort, die viel Raum für unbequeme Spekulationen ließ.

Der Römer tippte wie wild auf seinem Bildschirm herum, der nun in sehr schwachen Pastellfarben gehalten war. Schick sah das aus – aber passte so gar nicht zu den hektischen, roten Flecken in seinem Gesicht. „Das ist nicht dein ernst!? Du hast es jetzt aber nicht gewaschen, oder? Es ist hoffentlich nur eine temporäre Störung!“ brachte er unglaublich nervös hervor und sein Auge zuckte. „Ähm…also…“ wollte ich gerade erklären, doch er unterbrach mich mit einem wenig charmanten „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“

Ich schwieg, denn mir war es so unfassbar peinlich, dass ich keine Worte dafür fand.

Der Römer rannte aufgeregt durch die Wohnung. „Ich glaub’s nicht! Ich glaub’s einfach nicht. E‘ morto!!! [Es ist tot] Sie hat es umgebracht!“ schrie er theatralisch und ich hoffte, dass die Nachbarn nicht die Polizei angesichts dieses „Mordes“ rufen würden. Er legte seine Hände ins Gesicht und murmelte Unverständliches. „Meine Mutter wollte heute Abend anrufen! Mirko schickte mir eine Sprachnachricht. 11 Minuten lang!! 11!! Und jetzt ist alles weg. Alles!“ hörte ich seine Klagerufe durch die Wohnung schallen.

„Es gibt Schlimmeres, wirklich!“ sprach ich und merkte erst danach, dass jeder Satz zu viel für den labilen Römer in dieser prekären Situation war. „Schlimmeres?!“ keifte er und seine Stimme schlug Purzelbäume. „Was denn?! Ich bin abgeschnitten von der Welt! Niemand kann mich mehr erreichen. Was gäbe es denn da Schlimmeres, bitte?!“

Ich antwortete nicht, denn was hätte das auch in dieser Situation gebracht? Stattdessen packte ich Signorino in den Kinderwagen und wir machten einen sehr langen Spaziergang um der römischen Tragödie zu entgehen. „Er wird sich schon wieder beruhigen.“ flüsterte ich dem neugierig dreinblickenden Signorino ins Ohr während ich ihm die Mütze aufsetzte.

Etwas später, es war bereits Abend, guckte der Römer immer noch sehr grimmig. „Ich brauche ein neues Telefon!“ fing er ganz direkt an. „Hm….“ antwortete ich, weil ich die Äußerung hm als äußerst konfliktfrei empfand. „La situazione è seria. [Die Situation ist ernst] Non ci riesco a vivere così. [Ich kann so nicht leben] Jedes Mal schaue ich wieder auf den flackernden Bildschirm, nur um festzustellen, dass mich keine Menschenseele mehr erreichen kann. Nessuno. [Niemand]“ erklärte er weiter. „Hm…“ gab ich wieder von mir.

„Okay, so kann es nicht weitergehen. Wir brauchen eine Lösung! Bitte such folgendes:“ sagte er und nannte mir seine Vorgaben bestehend aus Marke, Farbe und Speicherplatz des zukünftigen Telefons. „Hm.“ antwortete ich wieder.

Ich recherchierte. „Ist weinrot keine Option? Es wäre 100 Euro günstiger!“ fragte ich ihn und merkte bereits mit dem Ausformulieren meiner Frage, dass in dieser Situation jede Frage einer Provokation für den Römer darstellte. Bevor er losmotzen konnte, rettete ich die Situation mit einem nüchternen: „Kleiner Scherz!“

„Non scherzare su certe cose. [Man scherzt nicht über sowas] Nicht in dieser Situation.“ kommentierte er düster.

Als mir meine Recherche zu langweilig wurde, da der Römer alles mit einem „No!“ [Nein!] oder „Anche no! [Auch nicht!] quittierte, begab ich mich auf einen virtuellen Spaziergang in den sozialen Netzwerk. Ein neues Statusupdate des Römers leuchtete auf: „Cari amici!“ [Liebe Freunde!], stand da, „Ich möchte euch mitteilen, dass mein Telefon heute leider von mir gegangen ist. Deswegen bin ich bis auf weiteres nur noch per Messenger oder über das Handy meiner Frau: 0******* erreichbar. Ciao.“ stand da – übersetzt in drei Sprachen, so dass es auch wirklich jeder verstehen konnte.

56 Freunde kommentierten es mit einem tränenden Smiley. 32 Likes gab es dafür und 40 Umarmungen mit Herz. Die einzige „Live-Reaktion“ kam von mir: ein hysterisches „BITTE WAS?!“ gefolgt von einem „Sag mal, hast du noch alle Latten am Zaun?! Du hast meine Handynummer ins Internet geschrieben?!“

Der Römer wollte gerade antworten, doch wurde von meinem klingelnden Handy unterbrochen. Eine mir unbekannte, italienische Nummer leuchtete auf. Ein Anruf über Whatsapp.

„Ich glaub es nicht!“ erhob ich entsetzt das Wort. Doch der Römer schnappte sich schon mein Telefon und antwortete! „Ah, ciao Nicolà! Sei tu! [Du bist es!] Scusa, [Entschuldige,] ich hab deine Nummer noch nicht im Handy meiner Gattin abgespeichert. Si, si, sto bene. [Ja, ja, mir geht’s gut] Non molto bene, ma bene. [Nicht super gut, aber gut.]“ flötete er ins Telefon und verschwand angeregt plaudernd im Schlafzimmer.

„Der benutzt jetzt nicht ernsthaft mein Handy für seine Angelegenheiten?“ fragte ich mich. Signorino guckte mich mit großen Augen an und lachte bejahend. Ich hob ihn hoch. „Meinst du wirklich?“ erkundigte ich mich bei ihm und er berührte meine Nase unter lautem Lachen. „Ich fürchte, du hast Recht. Dann muss deine Mama jetzt mal ganz schnell ein neues Handy für deinen Papa auftreiben, oder?“ Signorino kniff mir mit seiner kleinen Hand fest in die Backe. „Danke, Schatz. Das ist nett! Genau das hab ich jetzt gebraucht!“ antwortete ich ihm. Er lachte wieder.

Zusammen mit Signorino machte ich mich auf die Suche und bestellte ein Telefon. Auch die Expresslieferung klickte ich an, denn ich wollte die nächsten Tage und Wochen mein Telefon gerne für mich haben.

Doch für heute blieb das nur ein frommer Wunsch. Mein Telefon stand nicht mehr still. Auch nachdem ich den Römer angeraunzt hatte, dass er SOFORT meine Handynummer aus dem sozialen Netzwerk löschen sollte (BIST DU WAHNSINNIG?!?! war mein Originalsatz), kamen immer weitere Nachrichten und Anrufe rein. Freunde und Familie gaben sich untereinander meine Telefonnummer weiter.

Zwei Tage dauerte es bis sein neues Handy ankam. Meins hingegen bekam ich in diesen Tagen nur in sehr knapp bemessenen Zeitfenstern zu Gesicht. Der Haussegen hing nicht nur schief, nein, er stand Kopf.

Am dritten Tag, das Telefon war endlich da, installierte der Römer in Windeseile sein neues Gerät und informierte seine Freunde.

Leider waren diese deutlich weniger flexibel als gedacht und so landeten 2/3 der Anrufe weiterhin bei mir. Der Römer hing jetzt nicht nur an einem Telefon, nein, er hing jetzt an zweien. Ich bat ihn mehrmals eindringlich, dass er bitte seinen Anrufern mitteilen sollte, dass er auf meiner Nummer nicht mehr erreichbar ist, doch es stieß auf taube Ohren seitens seiner Freunde und Familienangehörigen.

Eine Lösung musste her. Ich ging in mich und grübelte.

„Aaaaaaaah!“ schoß es mir durch den Kopf und grinste.

Als erstes änderte ich mein Profilbild.

Fotoquelle: unbekannt

Dieses hier aus meinem Fotoarchiv wählte ich aus und den angezeigten Namen änderte ich auf „Rosemarie Bründlhuber-Gonzales“. Sobald ein Freund des Römers sowohl den Namen als auch das Foto ignorierte, antwortete ich per Sprachnachricht in tiefstem Bayerisch, dass die Nummer nun Rosemarie Bründlhuber-Gonzales gehörte und ich keinen Römer kennen würde. „Na, des sagt mir nix! Aber Ihnen noch an schena Tag! Es ist ja so tolles Wetter momentan. Gar nicht so trüb-herbstlich, gell?“ beendete ich meine Sprachnachricht. Darauf kam nichts mehr zurück.

Nach vier Tagen als Rosemarie Bründlhuber-Gonzales gab es keine unerwünschten Anrufe mehr. Auch Sprach- und Textnachrichten blieben aus.

Am fünften Tag fragte der Römer: „Kennst du eine Rosemarie Bründlhuber-Gonzales? Giuseppe meinte, er hätte mit dieser Dame Sprachnachrichten ausgetauscht? Aber das ist doch deine Nummer?“ Er zeigte mir seinen Bildschirm. „Amore ❤️“ war nun eine Frau im Badeanzug mitsamt ihren adretten Freundinnen.

Ich grinste. „Huch! Da kam wohl mein alter Ego zum Vorschein.“ lachte ich und streichelte über mein Handy. „Scheint funktioniert zu haben.“

„Und wie!“ bekräftigte mich der Römer. „Okay, Rosemarie, kannst du mir mein Ladegerät für’s Handy geben? Mein Akku ist schon wieder leer. Aber ich versteh nicht warum… so oft benutze ich es doch gar nicht?“

Hm.“ gab ich belustigt zurück und reichte ihm sein Ladegerät.