Im ICE von Frankfurt nach München. Ich sitze in einem Ruheabteil der 1. Klasse*. Wir steuern auf Aschaffenburg zu. Ein Herr, Mitte 60, graues, schütteres Haar, hellbeige Bundfaltenhose, nussbrauner Ledergürtel, das weiße Hemd ordentlich in die Hose drapiert, marschiert laut telefonierend an meinem Abteil vorbei.
„Luisa?! Wo bist du denn jetzt um Himmels Willen? WAS? Ich versteh‘ dich nicht? Wo du bist!! Aha…Aha…“
Er legt auf. Rennt wieder an meinem Abteil vorbei. 10 Minuten vergehen. Dann geht er abermals laut telefonierend im Stechschritt an meinem Abteil vorbei.
„LUISA?!?! Ja, Schatz!! WO bist du? Ich bin in Wagen 29! NEUN-UND-ZWAN-ZIG! Genau! Ja… Aha…aha. Nu komm doch mit den Kindern in meinen Waggon!! Ach woher… das ist nicht zu weit! „
Nach fünf Minuten, die Verbindung ist schlecht, legt er auf. Wir halten in Aschaffenburg. Ich sehe ihn von meinem Fenster aus auf dem Bahnsteig stehen. Er hält Ausschau. Anhand seiner Telefonate sucht er Luisa. Als der Schaffner zur Abfahrt pfeift, springt er zurück in den Waggon 29.
Nach wenigen Augenblicken läuft er wieder geschäftig telefonierend an meinem Abteil vorbei.
„Ja, Aschaffenburg wäre jetzt deine Chance zum Umsteigen gewesen!! Mensch, LUISA! Schatz! Wo seid ihr denn jetzt? Sag doch mal Kathi sie soll ans Te…. Luisa?! [Kurze Pause… es scheint als wäre die Verbindung abgebrochen] Ah… da bist du wieder! Luisa, wo sitzt ihr jetzt genau? Aha…aha… ja, die nächste Station ist Würzburg. Hm…hm…genau. Wagen 29! NEUNUNDZWANZIG!“

Die Zeit vergeht. Er telefoniert noch zwei weitere Male mit Luisa. Dann halten wir in Würzburg. Wieder steht er auf dem Bahnsteig und schaut, von wo Luisa und die Kinder angelaufen kommen. Wieder pfeift der Schaffner zur Abfahrt. Wieder eilt der Herr in Wagen 29, der mittlerweile nichts mehr mit einem Ruhewagen gemein hat, sondern viel mehr das Flair eines Großraumbüros vermittelt, was durchaus den lauten Telefonaten des Herrn geschuldet ist.
So langsam meldet sich eine leise Ahnung, warum Luisa und die Kinder Schwierigkeiten haben, Wagen 29 zu finden.
Abermals eilt das Perpetuum Mobile von Wagen 29 an meinem Ruhe(!)-Abteil vorbei:
„LUISA! Was war denn jetzt los?! Ihr seid ja wieder nicht… Luisa? [Die Verbindung scheint mal wieder unterbrochen, obwohl ich mittlerweile nicht mehr an Funk-Probleme glaube] Ah! Ja! Ja! Luisa! Wo seid ihr denn jetzt? Hm… Ja, nun kommt doch…. Genau, Nürnberg ist der nächste Halt. Da könntest du mit den Kindern zu mir wechseln. Wagen NEUN-UND-ZWAN-ZIG! 29! Genau! Wie, das lohnt sich nicht mehr?! LUISA? [wieder ein „Verbindungsproblem“, wie es scheint] Ah… ja… nu Stress dich doch nicht!!! Wir sind doch im Urlaub!! Nein, nein, wegen mir müsst ihr nicht den Waggon wechseln. Dann setz ich mich jetzt ganz entspannt hin und wir sehen uns in München. Genau! Bleibt da sitzen, wo ihr seid. Ganz ohne Stress soll unser Städtetrip beginnen. Macht euch eine schöne Fahrt, auch wenn wir nicht zusammen sitzen. Wir sehen uns dann in München! Luisa??“
Nach der ganzen Aufregung bin ich fix und fertig. Ich wünschte, ich wüsste, in welchem Wagen Luisa und die Kinder sitzen, um einfach mal meine Ruhe haben zu können.
*Wahnsinn, oder? Ich fühlte mich wie Gottes Geschenk an die Menschheit!