Römische Verjüngungskur

Der Römer steht kurz vor dem kompletten Verfall. Zumindest möchte man das meinen, wenn man ihn in letzter Zeit beobachtet.

„Es ist 5 vor 12 Uhr!!“ merkt er nervös an und huscht an mir vorbei ins Badezimmer. Ich gucke auf die Uhr. 19:07 Uhr – die Uhrzeit kann er schon mal nicht meinen. „Wie meinst du das?“ frage ich durch die geschlossene Badezimmer Tür. Er öffnet mit nassem Gesicht. Der milde Reinigungsschaum schmückt seine rechte Hand.

„Ich muss mich um mein Gesicht kümmern. Jahrelang, eigentlich seit jeher, habe ich es vernachlässigt. Ma ultimamente al lavoro [Aber letztens in der Arbeit], hat mich jemand auf 40 Jahre geschätzt. 40 anni!!! [40 Jahre!!!]“ erzählt er mir empört während er den Schaum in kreisenden Bewegungen auf seinem Gesicht verteilt. „Ähm…amore? Du BIST 40.“ gebe ich zögerlich zurück und bereue die Feststellung im selben Augenblick. Er atmet tief aus, was sich ziemlich lustig anhört, weil er gerade den Reinigungsschaum von seinem Gesicht wäscht. Nachdem er mit dem Prozedere fertig ist, holt er tief Luft und sagt: „Laut Geburtsurkunde, ja. Ma devo sembrare come un quarantenne?[Aber muss ich so aussehen wie ein 40jähriger?]“

Er tupft sein Gesicht vorsichtig mit einem kleinen Handtuch trocken. „Amore?“ frage ich wieder. „Dimmi!“ [Sprich!] sagt er nun schon etwas genervter. „Warum tupfst du dein Gesicht ab?“ hake ich sichtlich irritiert nach. „Ma non lo sai?“ [Aber weißt du das nicht?] gibt er erstaunt zurück. Das Gesichtswasser hat er bereits in der rechten Hand. „Wer sein Gesicht abrubbelt, der produziert automatisch noch mehr Falten. Rughe!! Capisci! [Falten! Verstehst du!] Sanft abtupfen ist die einzige Möglichkeit um dich davor zu bewahren.“ erklärt er mir mit ernster Stimme. Ich grinse, nicke und denke mir den Rest.

Als er nach weiteren 25 Minuten fertig ist, spreche ich ihn auf eine seltsame Zahlung an, die ich auf der Kreditkartenabrechnung bemerkt habe. „Amore, hast du etwas für 200 Euro gekauft? Dr.Ti? Was soll das denn sein?“ befrage ich ihn interessiert. „Aaaaach das! Ein Gesichtsserum. Retinol! DAS Zaubermittel. Es lässt dich um Jahre jünger erscheinen. Dazu der Dermaroller – sarà una revoluzione! [Das wird eine Revolution]“ offenbart er mir. „Okay…aber 200 Euro?“ antworte ich nun schon etwas harscher. „Ma cheeee! [Aber was!!] Wie oft gibst du 200 Euro aus? Ich werde doch wohl 200 Euro in mich investieren dürfen. Wo kämen wir denn dahin, wenn ich mich gehen lassen würde? Ti piacerebbe? [Würde dir das gefallen?] Non credo! [Ich glaube nicht!] Allora![Also!]“ redet er sich in Rage. „Aber warum benutzt du denn keine koreanischen Produkte? Die sind viel günstiger und der koreanische Markt ist um Jahrzehnte weiter als der europäische!“ informiere ich ihn. „Davvero?“ [Wirklich?] Der Römer ist ganz Ohr. „Ja, ja… die Koreaner..“ will ich fortfahren – da war er schon abgerauscht.

Den restlichen Abend verbrachte er, recherchierend, am Laptop. Er machte sich Notizen und war ganz in die Materie vertieft. Ich vermutete, dass er sich um ein Projekt für die Universität kümmert – doch weit gefehlt. „Okay! Ich bin nun top informiert. Mehrmals habe ich nun Zollgebühren und Mehrwertsteuer Sätze berechnet. Ich würde auch nur auf 240 Euro kommen, was günstig ist, wenn man bedenkt, dass ich ein 9-in-1 Serum, Gesichtswasser, eine Haferkleie Maske, eine Tonerde Maske, einen Sonnenschutz 50+ fürs Gesicht, eine lebensverändernde Essenz, eine revolutionäre Tagescreme, eine aufpolsternde Augencreme, ein Straffungsfluid und einen Porenverkleinerungsbalsam bekomme. ABER – und hier kommt das große ABER: In diesen schrecklichen Zeiten braucht die Post vier bis 6 Wochen bis sie das Paket aus Korea liefert. Fra quattro e sei settimane!! [Zwischen vier bis 6 Wochen] Weißt du wie alt ich bis dahin ausschauen werde? Die Leute werden von mir denken, dass ich schon 41 Jahre alt bin. Per favore, chiedo il tuo aiuto! E‘ urgente! [Bitte, ich brauche deine Hilfe! Es ist dringend!]“ redet er sehr schnell und sehr aufgeregt auf mich ein. Die Lage scheint ernst zu sein – für ihn – und für unser Sparkonto.

„Mo-mo-mo-mo-ment! 240 Euro?“ gebe ich zurück. „Si, si, ma questo non e‘ il problema. Il problema e‘ il tempo.“ [Ja, ja, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist die Zeit.] führt er schnell aus. „Fliegt einer deiner Kollegen in nächster Zeit nach Korea? Es ist ein Notfall!“

„Ja, der Andere. Aber er hat sicher keine Zeit, für mehrere hundert Euro Anti-Aging Produkte zu kaufen. Ich glaube, dir brennt das Hütchen, amore mio!“ mache ich ihm nun sehr eindeutig klar.

„E‘ tanto?“ fragt er verdutzt und scheint anscheinend langsam zur Besinnung zu kommen. „Das fragst du noch? Aber ja!!! Das ist extrem viel.“ herrsche ich ihn an. Er guckt mich niedergeschlagen an. „So komme ich nicht weiter.“ denke ich und versuche es über einen anderen Weg: „Doch glaub mir, amore mio, allein durch dein Retinol Serum siehst du aus wie Anfang 30. Du hast die koreanischen Produkte doch gar nicht nötig! Und wenn es ganz schlimm werden sollte, dann verspreche ich dir, dass ich jemanden finde, der dir all diese Dinge mitbringt.“ Sein Blick erhellt sich. „Hm… hast du den Eindruck, dass das Serum schon wirkt?“ fragt er aufgeregt nach. „Aber ja!!!! Hundertprozentig. Du siehst sicher fünf Jahre jünger aus.“ lobe ich überschwänglich. „Wenn ich dein Alter nicht kennen würde, ich würde dich auf junge 35 Jahre schätzen.“

„Grazie! Ho pensato oppure io ma non ero sicuro!“ [Danke! Ich habe das auch gedacht, aber ich war mir nicht sicher] bedankt er sich überglücklich. „Und du bist dir sicher, dass ich nicht einmal das 9-in-1 Serum testen sollte?“ hakt er noch einmal nach. „Also, wenn du unbedingt möchtest, frage ich gerne den Anderen, ob er dir das mitbringt. Aber du hast es definitiv nicht nötig!“ erwidere ich. Er denkt kurz nach, scheint mir aber nicht vollkommen zu vertrauen und sagt: „Dennoch…könntest du den Anderen fragen? Außerdem dachte ich noch an die Haferkleie Maske und die Essenz….“ versucht er es weiter. „AMORE!!!“ gebe ich scharf zurück. Er guckt mich kleinlaut an. „Okay….also nur das Serum. Ich hab’s verstanden…“ knickt er ein. „Ich mach mir noch eine schnelle Reiskleie Maske und dann geh ich ins Bett.“ erwähnt er, schon halb aus der Tür. „Na dann…buona notte!“ [Gute Nacht] gebe ich lachend zurück.

Mit dem Römer wird es einem nie langweilig. Ganz sicher nicht.

Was mir fehlt

Mir fehlt etwas. Nicht im gesundheitlichen Sinn – und dafür bin ich sehr dankbar. Mir fehlt auch kein Gegenstand. Mir fehlt ein Gefühl, ein Abenteuer, eine gewisse Freiheit, wenn Sie so wollen.

Mir fehlt der Geruch des Flugzeugs, wenn man morgens um 4 Uhr in den eiskalten Stahlvogel einsteigt. Müde taumelnd erklimmt man die Treppen, wissend, dass man das Flugzeug vorbereiten muss.

Mir fehlt der Flugzeugkaffee, den man noch schnell trinkt, bevor die Gäste kommen.

Mir fehlt das „Excuse me, I have a question! I have a connecting flight…“ das man von jedem zweiten Passagier bei Verspätungen hört.

Mir fehlt die Airline Basis.

Mir fehlen die kurzen Flüge nach Hamburg, bei denen jeder zweite Passagier drei Getränke ordert. Mir fehlt die Bitte des schnöseligen Economy Passagiers auf einer 25-minütigen Kurzstrecke nach grünem Tee.

Mir fehlt das hilflose Umgucken des zuletzt einsteigenden Passagiers, der sich im voll ausgebuchten Flugzeug umsieht, wo denn noch ein Plätzchen für seinen Schrankkoffer sein könnte.

Mir fehlen die russischen Einreisebeamten, die meinen Namen so aussprechen, dass ich ihn beim ersten Mal nicht verstehe. Mir fehlen ihre prüfenden Blicke, ob ich auch wirklich die bin, die ihnen streng im Ausweis entgegen starrt.

Mir fehlen die Flüge nach Italien. Rom, meist voller Amerikaner, Mailand, meist voller Banker. Neapel, meist voller Neapolitaner, die ich nicht verstehe. Venedig, meist voller Kreuzfahrttouristen, bereits in Segelschuhen als würden sie das Schiff allein nach Dubrovnik segeln.

Mir fehlen die Gäste, die einen Rollstuhlservice angemeldet haben und beim Aussteigen auf wundersamer Weise doch wieder mühelos gehen können.

Mir fehlen die Caterer, die einem die abgecaterte Schokolade der anderen Flugzeuge anbieten.

Mir fehlen die New Yorker Flugzeugreiniger, die immer schon ihr Fahrzeug von der hinteren Tür abgezogen haben und nun wollen, dass man die wahnsinnig schwere Boeing Tür in seinen schwindelerregenden High Heels schließt, in dem man sich 25 Meter über dem Abgrund rauslehnt und an der Tür zieht und zerrt bis einem ein zwei Meter großer Techniker zu Hilfe kommt.

Mir fehlt die Morgenroutine mit dem Anderen, die wir an der Westküste hatten. Das Frühstück bei Bacco in Seattle um 8 Uhr morgens. Unsere Idee von einer Kaffeehauskette, die wir „Plörry“ nennen, weil amerikanischer Kaffee genau das für uns ist: Plörre!

Mir fehlt Moskau. So gerne war ich in Moskau, so gerne habe ich die russischen Staatsbürger geflogen. So gerne war ich im Hotel, am Kreml, in der Stadt.

Mir fehlt Paris, Amsterdam, Seattle, Vancouver, Hamburg.

Berlin nicht. Berlin Flüge sind schrecklich. Die können einem nicht fehlen. 😉

Mir fehlen die Fluggäste, die fragen, ob ich Israeli sei. Der Nachname wirke so.

Mir fehlen die vielen Geschichten, die vielen Motive, warum Fluggäste reisen.

Mir fehlt der Abschiedsschmerz, den man oft in den Gesichtern der Fluggäste sehen kann.

Mir fehlt der Moment, in dem man Passagiere besser kennen lernt. Sie erzählen einem, warum sie beim Start weinten. Sie berichten von ihren Ängsten, ihren Sorgen, ihren Hoffnungen. Mir fehlen ihre Umarmungen am Ende des Fluges, weil man sich Zeit genommen hat für sie.

Mir fehlt das frühe Landen um 6 Uhr morgens, nachdem man die ganze Nacht durchgearbeitet hat.

Mir fällt das „Kommste? Gehste? Gut siehste aus!“ von Kollegen, wenn man müde über die Airline Basis schlappt.

Mir fehlt der Moment der Hoffnung (und Verzweiflung zugleich), wenn man viel zu viel im Ausland eingekauft hat und der Zoll – Gott sei’s gedankt – nicht da steht und kontrollieren will.

Mir fehlt das Flüge requesten, dass Freunde besuchen, dass Orte vermissen.

Mir fehlt das quirlige Einsteigen. Mir fehlen Fluggäste, die schon aufstehen, während wir noch zum Gate rollen.

Mir fehlt der Statusgast auf 1C, der im Notfall als Souffleur einspringt und „Hamburg“ flüstert, wenn der Kabinenchef vergessen hat, wo wir gerade sind.

Mir fehlen die vielen interessanten Gespräche unter uns Kollegen. Jeder kommt aus einem anderen Bereich, meist hatte jeder von uns auch einmal einen „richtigen Job“. Von (Tier-)Arzt*in bis Architekt*in, von PR Manager*in bis Yogalehrer*in, von Dr. Dr. bis Ethnolog*in – Sie finden alles bei uns an Bord. Sie wissen es nur nicht, weil Sie nur die Uniform sehen.

Mir fehlen die amerikanischen Kollegen, die im Sommer Europa unsicher machen und uns meist Geschenke mitbringen, wenn Sie mit uns fliegen.

Mir fehlt der Crewbus(fahrer), der uns über das Rollfeld braust.

Mir fehlt unsere Sicherheitskontrolle, bei der ich jedesmal hoffe, nur den Sprengstoff-Abstrich Test machen zu müssen und nicht das komplette Programm. Mir fehlen die Sicherheitsleute dort, die mir bei jedem zweiten Mal „Haaaalt! Dein Koffer!“ nachbrüllen, weil ich nur an mein Handgepäck denke.

Mir fehlt sogar das Briefing, die dumme Kollegin hinten links, die motzigen Gäste, die rutschige (weil vereiste) Fluggasttreppe im Winter. Ach, sogar der Frühstücksservice, den ich völlig übermüdet durchführe.

Mir fehlt das gemeinsame Flugrequesten mit Freunden. Das überhebliche „Ach ne – lass uns lieber nach New York fliegen! Boston hab ich schon Anfang des Monats im Plan.“

Mir fehlt meine billige Polyester Uniform, die vor Neid erblasst, wenn sie die italienischen Kollegen mit ihrem maßgeschneiderten Zwirn sieht, der jedes zweite Jahr (wenn nicht jedes) ausgetauscht wird.

Mir fehlt das völlig erschöpfte Einschlafen und das völlig geräderte Aufwachen. Das „Ankunftstag 😴😏“-Schreiben an Freunde, wenn sie fragen wie’s mir geht.

Mir fehlt alles.

Wissen Sie, so gut wie jeder von uns – in der adretten Uniform – hatte einmal einen „richtigen“ Beruf. Aber keiner war und ist so schön wie dieser. Wir machen es aus purer Leidenschaft. Das frühe Aufstehen, der Verzicht auf Familie und Freunde an besonderen Tagen, das Vermissen, das Alleinsein. Uns hat keiner dazu gezwungen. Denn für die meisten von uns ist es der schönste Beruf auf Erden.

Zu sehen wie sämtliche Fluglinien den Bach runtergehen tut weh.

Kommentare von irgendwelchen missgünstigen, zu Tode gelangweilten Mitmenschen zu lesen, die nichts besseres zu tun haben, als als außenstehender Hans Dampf die Lage zu beurteilen und den Firmen das Ende zu wünschen, sind mir egal. Denn wissen Sie, diese Menschen haben nie gefühlt und erlebt, was wir erlebt haben. Diese Menschen hatten immer nur einen billig austauschbaren Job – und keine Passion. Sie beschweren sich Montagmorgens, dass sie arbeiten müssen und sehnen bereits Montagmittags das Wochenende herbei.

Wir sehnen die Fliegerei herbei, wenn wir am Boden sind und unsere Familie, wenn wir fliegen.

Leonardo Da Vinci sagte es sehr treffend. „Wenn du das Fliegen einmal erlebt hast, wirst du für immer auf Erden wandeln, mit deinen Augen himmelwärts gerichtet. Denn dort bist du gewesen und dort wird es dich immer wieder hinziehen.“

Und so hoffen wir alle, dass wir wieder fliegen dürfen. Denn es fehlt mir, das Fliegen.