Das Tor zur Unterwelt und der sprechende, weiße Stein – Das Rom-Tagebuch [Tag 6]

Sonntag, 28.08.2022

Heute gehen wir es beinahe schon unverschämt langsam an. Wie immer lässt uns „Il Siciliano“ mit seinen gefüllten Croissants satt und zufrieden in den Tag starten. Danach vertrödeln wir den Vormittag ohne schlechtes Gewissen. Als alle ausgiebig getrödelt haben und endlich vollständig angezogen sind, verlassen wir unsere Ferienwohnung. Signorino lässt verlauten, dass er unverzüglich ein Eis benötigt. Wir sind im Urlaub und die letzten, richtig heißen Eistage sind für dieses Jahr bereits gezählt, so soll er sein Eis bekommen. Wir Großen trinken lieber einen Espresso. Nach einer halben Kugel Eiscreme mag Signorino nicht mehr, was durchaus ungewöhnlich für ihn ist. Der Römer versucht das Eis aufzuessen und stellt schnell fest: Es ist voller gefrorener Wasserklumpen, die das ganze Eis durchsetzen. Jetzt wissen wir, warum das Kind sein geliebtes Schokoladeneis so schrecklich fand.

Zwei Tassen Espresso und ein Eis mit ❄️-Klümpchen.

Wir verlassen das Café und schlendern durch Trastevere. Der Römer zeigt mir, wo er vor 15 Jahren gewohnt hat. Nachdem er mir alles beschrieben hat und mir an der Fassade „sein“ Fenster gezeigt hat, sehe ich mich etwas in der Straße um und entdecke Erstaunliches: Der Eingang zur Unterwelt liegt genau vor mir, ordentlich beschriftet mit der Hausnummer 21a. Unter dem Schild steht „Unterwelt“. Das war’s. Ein vollkommen unscheinbarer Eingang zur Unterwelt gähnt mich gelangweilt an. Er ist verschlossen und mit Vorhängen abgedeckt. Ob der dreiköpfige Höllenhund Zerberus hinter der Tür schlummert? Oder doch für eine kurze Pipi-Pause in einen der Vicoli [Gassen] Trasteveres unterwegs ist?

Via Agostino Bertani 21a, falls Sie irgendwann auf der Suche nach der Unterwelt sind.

Mit dieser Erkenntnis streifen wir weiter durch Trastevere und holen Pizza bei La Renella (wo sonst?). Auf dem Rückweg gehen wir bei der Fontana di Santa Maria in Trastevere vorbei und natürlich muss Signorino, wie jedes Mal, pritsch-pratach (=plitsch-platsch) beim Brunnen machen. Er erklimmt die Stufen, quetscht sich an den rastenden Touristen vorbei und will hochgehoben werden. Mit einer solch großen Freude streicht er mit den Händen durchs Wasser, dass wir lachen müssen. Manchmal sind es eben die kleinen Dinge, die am glücklichsten machen.

Signorinos Hände am Brunnen. Bereit für Pritsch-Pratsch.

Auf dem Rückweg zur Wohnung treffen wir, rein zufällig, einen muskulösen, sehr breiten und ehemaligen Rugby-Bekannten des Römers. „Ah, sei tornato? [Ah, bist du zurückgekehrt?]“, fragt der bullige Bekannte und der Römer gibt an, dass er nur diese Woche in Rom sei – „in vacanza“, im Urlaub. Fünf Minuten Smalltalk später verabschieden wir uns. Außer Hörweite ruft Signorino „Tschüss, weißer Stein!“. Dazu winkt er. Offensichtlich meint er den Rugby-Bekannten des Römers mit dem weißen Polo-Shirt, der für Signorino nichts anderes als ein sprechender, weißer Stein war.

Wir essen unsere Pizza und der Römer geht danach alleine einen Kaffee trinken. Ich möchte keinen und bleibe deswegen mit Signorino in der Wohnung. Dabei stelle ich fest, dass Signorinos Windeln rasant zur Neige gehen. Ich überlege, ob wir den heutigen Tag mit vier Windeln überstehen. Nein, lieber nicht zu knapp planen. Haben ist nunmal besser als Brauchen – auch am heutigen Sonntag. Zum Glück macht der Supermarkt auch an diesem christlichen Ruhetag um 16 Uhr auf und rettet uns hoffentlich aus der Misere.

Der Römer kehrt beschwingt zurück. Das Kind ist derweil aufgedreht und müde. Dazu kommt, dass er eine ungeheure Angst vor jedem, neuen Geräusch entwickelt. Der Mixer im Café? Er springt panisch vom Stuhl und krabbelt auf meinen Schoß. Der Fön? Er wirft sich in meine Arme. Der Rasierapparat vom Römer? Er hat eine heftige Heulattacke. Ich tröste viel und versuche ruhig zu erklären, dass die Dinge zwar laut, aber ungefährlich sind. Einzig die Angst vor Krankenwagen kann ich umwandeln. Ich erzähle Signorino, dass das Dinosaurier-Autos sind, die Verletzte Dinosaurier zum Arzt fahren. Diese schnell zusammengestöpselte Erklärung meinerseits klingt für ihn absolut plausibel. Seitdem sagt er bei jedem Krankenwagen „Sausia-Auto“. Sie verletzen sich eben ständig mit ihren langen Beinen, so dass man nur ganz selten Dinosaurier auf der Straße sieht. Ist doch logisch!

Irgendwann schläft das müde Kind ein und wir Großen duschen nacheinander. Während ich unter der Dusche stehe,geht der Römer Windeln holen. Und Obst. Und Mozzarella. Und Brot. Und was nicht alles. Und das alles in seiner Geschwindigkeit, ohne dass Frau oder Kind zur Eile treiben. Ja, es sind tatsächlich die einfachen Dinge im Leben, die glücklich machen.

Gegen 18 Uhr wecken wir das Kind. Kurze Kleidungswunsch-Diskussion mit langem, kindlichen Trotzanfall. Am Ende besteht Signorino darauf eine lange Hose anzuziehen. Der Römer findet‘s blöd und zu warm. Mir ist’s egal, denn ich habe auch eine lange Hose an. Jeder hat eben ein eigenes Temperaturempfindnis. Immerhin haben wir alle eine Hose an. Man kann es auch mal positiv sehen.

Abmarsch zum Restaurant des römischen Freundes A.. Küsschen, Küsschen für alle, von allen. Signorino ist natürlich der offizielle Star-Gast. Wir setzen uns und der Römer erkundigt sich interessiert bei seinen Kellner-Freunden, ob die amerikanischen Touristen zurückgekehrt sind und mit ihnen die so dringend benötigten Einnahmen in der Gastronomie. „Ja… es sind einige Amerikaner:innen zurückgekommen.“, lautet die Antwort von Kellner Angelo, in der seltsamerweise dennoch ein sorgenerfüllter Ton mitschwingt. „Aber die Russ:innen fehlen uns als zahlende Gäste.“ Aha. Da ist die Erklärung für seine Sorge. „Es geht schon, irgendwie.“, gibt er an. „Immerhin läuft es besser als letztes Jahr und das Jahr davor.“ Es fallen aufmunternde Sprüche, aber wie aufmunternd kann ein Spruch sein, wenn Existenzen daran hängen? Dann entschwindet Angelo eilig zu einem Tisch amerikanischer Damen, die ein Dessert wünschen.

Wir warten auf den römischen Freund C. und sind gewappnet mit allem, was unser Reise-Unterhaltungsprogramm für einen aufgeweckten 2jährigen in Restaurant-Situationen hergibt. Und tatsächlich, Signorino hält bis 21:50 Uhr durch. Dann nimmt ihn der römische Freund C. auf den Schoß und wiederholt fünf Mal „Nooo, niente mammà. Ti tengo io! [Nein, nichts Mama. Ich behalte dich!]“ Das Kind heult und brüllt. Signorino kann sich kaum beruhigen, so dass uns der Römer heimbringt und wieder zu seinen Freunden A. und C. düst. Daheim kuschelt sich Signorino an mich, nicht, dass ihn doch noch Freund C. abholt und behalten will.