
Die unangenehmsten zwei Minuten des Jahres habe ich seit Jahren Mitte März. Denn dann kommt der Schornsteinfeger.
Was aber nun ein Schornsteinfeger mit meinem Schamgefühl zu tun hat, werden Sie sich berechtigterweise fragen. Das möchte ich Ihnen gerne erklären.
Der Schornsteinfeger, von dem ich nicht mehr als eine Stimme und eine Silhouette im Halbdunkeln kenne, kündigt sich meist fünf Tage vor seinem Besuch an. Ein kleiner Zettel im Format A5 wird an die Haustür gepinnt. Dort gibt er bekannt, dass die Mieter gebeten werden, sich am kommenden Montag daheim aufzuhalten, um ihm die Tür zu öffnen. Anscheinend schreibt es das Schornsteinfegergesetz meines Stadtteils vor, dass er immer an einem Montag kommt und stets damit droht, jederzeit zwischen 8:00 Uhr und 15:00 Uhr klingeln zu können. Sollte aus irgendwelchen, unerfindlichen Gründen (wie z.B. eine regelmäßig ausgeführte Erwerbstätigkeit) der Mieter an diesem zweiten Montag im März nicht daheim anzutreffen sein, so wird der Mieter gebeten, seinen Wohnungstürschlüssel a) dem Hausmeister Herrn Balkanovic zu hinterlassen oder b) einem von ihm vorher bestimmten Nachbarn. Wenn auch das nicht klappen sollte, so solle man den Schornsteinfeger über die eigene Abwesenheit telefonisch (und rechtzeitig – dieser Punkt ist händisch gelb markiert) unterrichten. Der Kaminkehrer würde dann an einem anderen Tag, unter Zahlung einer Anfahrtspauschale, seinen Termin nachholen.
Aber was ist der Grund für den Besuch des Schornsteinfegers, werden Sie in meiner detaillierten, aber wenig aufschlussreichen Ausführung monieren. Die Antwort möchte ich Ihnen gerne geben.
Er prüft schlichtweg die Rauchmelder, die im Flur und Schlafzimmer verbaut sind, auf ihre Funktionalität. Das macht er mit einem piepsenden Schornsteinfeger-Rauchmelder-Prüfstab, der aussieht wie ein sehr großes Wattestäbchen. Da ich aber nur von meiner Warte im Halbdunkeln berichten kann, müsste ich den Römer noch einmal fragen, ob dieser Stab tatsächlich wie ein zu groß geratenes Wattestäbchen aussieht.
Nun werden Sie sich wundern, warum ich immerzu im Halbdunkeln zu sitzen scheine, während der Schornsteinfeger den Rauchmelder prüft. Auch das werde ich Ihnen gerne erläutern.
Es hängt allem voran damit zusammen, dass der Schornsteinfeger zwar grundsätzlich die Option in den Raum stellt, zwischen 8:00 Uhr und 15:00 Uhr erscheinen zu können, aber letztendlich seit jeher um 8:05 Uhr bei uns klingelt. Mir scheint, der Schornsteinfeger ist recht traditionsbewusst, was mich jedes Jahr aufs Neue, wie ein unerwarteter Regenschauer während einer sommerlichen Bergwanderung, überrascht.
So trägt es sich also zu, dass ich (wohl auch recht traditionsbewusst) um 08:05 Uhr am zweiten Märzmontag stets im Bett anzutreffen bin. Das liegt einerseits daran, dass mein Biorhythmus der New Yorker Zeit folgt. Diese schlechte Eigenschaft hoffte ich mit Signorinos Geburt verlieren zu können, was auch teilweise gelang. Ich lebe jetzt nicht mehr nach der New Yorker Zeit, was bedeuten würde nicht vor 13 Uhr aufzustehen. Aber nach der deutschen Zeit lebe ich wiederum auch nicht. Das Kind lebt nach der Zeitzone auf den Azoren und ich fand diesen Kompromiss sehr kulant von ihm.
Wie dem auch sei, der Schornsteinfeger stand auch heute um 08:05 Uhr vor der Tür, was wiederum bedeutete, dass es 6:05 Uhr auf den Azoren und 4:05 Uhr in New York war. In jedem Fall war ich nicht wach, obgleich ich mir gestern einen Wecker gestellt habe. Der Römer sprang auf, zog sich einen Kapuzenpullover und eine Trainingshose über und ließ den guten Mann zur Tür hinein. Der piepste mit seinem zu groß geratenen Wattestäbchen erst im Flur. Danach fragte er nach dem Verbleib des zweiten Rauchmelders. Der Römer antwortete ihm, dass sich dieser im Schlafzimmer zu seiner Linken befinde, aber das Kind schlafe. „Kein Problem. Wir machen kein Licht an.“ antwortete der empathische Kaminkehrer. Die Tür wurde geöffnet, ich versteckte mich schamerfüllt unter der Decke (wer meine Schlafanzug Auswahl kennt, weiß auch warum) vor der Kaminkehrer Silhouette und versuchte den arg überraschten Signorino unter der Decke mit „sssshhh“-Lauten zu beruhigen.
Aber wie das so ist: Die Gewohnheit schleift das eigene Schamgefühl langsam, aber beständig ab. Heute habe ich mich nur bis 12 Uhr geschämt, dass mich der Kaminkehrer jedes Jahr aufs Neue im Schlafgewand erwischt. In früheren Jahren schämte ich mich durchaus zwei volle Tage. Vielleicht mag das verkürzte Schamgefühl auch an der Ausrede des Römers liegen. Ein schlafendes Kind kann ich besser mit meinem Gewissen vereinbaren als mein Dasein als schichtarbeitende Flugbegleiterin, die laut dem Römer gerade eben von ihrem Nachtflug heimgekommen sei. Das „gerade eben“ war dabei meist schon zwei Tagen her.
Nun denn, die unangenehmsten zwei Minuten des Jahres sind wieder überstanden und ich muss mich nur noch vor den zweifelnden Kommentaren meiner Mitmenschen rechtfertigen, die es gar nicht fassen können, dass der Römer und ich meist nicht vor zwei Uhr ins Bett gehen und, wenn möglich, nicht vor zehn Uhr aufstehen. In Deutschland ist der Schlafrhythmus von 22-7 Uhr oder von 23-8 Uhr in Stein gemeißelt, weswegen wir wahrscheinlich schnell in der Kategorie „asozial“ landen würden. Allein die Tatsache, dass wir beide in Schichten arbeiten, rettet uns unseren Allerwertesten. Beim Römer kommt noch hinzu, dass man bei seinem Anblick sofort an die noch gut gefüllten Gassen Roms denkt, die bis weit nach Mitternacht von lebenshungrigen Menschen jeden Alters bevölkert werden. „Ach, ihr im Süden seid meist noch weit nach Mitternacht in den Gassen italienischer Städte anzutreffen! Ich kann mich gut an meinen letzten Urlaub in Süditalien erinnern. Ihr sitzt dann immer auf weißen Plastikstühlchen in engen Gassen und formt mit euren Großeltern Öhrchennudeln (=orecchiette), richtig?“, stellte letztens eine entfernte Bekannte fest. Der Römer fand diese klischeebehaftete Idee ganz bezaubernd und nickte eifrig.
Wenn Sie mich heute Abend suchen: Wir sitzen selbstverständlich in unserer kleinstädtischen Gasse und formen orecchiette. Auf dem Titelbild sehen Sie den Römer, der sich schon einmal ein Plätzchen für das abendliche Nudelformen in den Gassen Roms sichern will. Nicht im Bild: Sein weißer Plastikstuhl.
P.S.: Wie jedes Jahr gilt mein besonderer Dank dem Römer, der dem Schornsteinfeger jedes Jahr aufs Neue aufmacht und auch jedes Paket vor zehn Uhr annimmt.