Warum unterschätzen wir uns ständig?

Gestern las ich von einer talentierten, jungen Frau, die für ihre Familie und ihre Verwandten Karten entwirft und malt. Wunderschöne, individuelle Geburtstagskarten, die man auf einem angefügtem Bild bewundern konnte. Oft werde sie angesprochen, warum sie diese denn nicht verkauft und sie schrieb dazu: „Wer soll für sowas denn Geld ausgeben? Mein Selbstbewusstsein ist dabei so gering, dass ich bei jedem Kauf das Gefühl hätte, ich würde jemanden betrügen.“

Darunter einige Kommentare anderer Plattform Nutzer. Unter anderem schrieb eine Dame: „Ich nähe gerne und bekomme viele Komplimente dafür. Aber meine Sachen zu verkaufen? So ganz ohne Ausbildung? Wer zahlt denn dafür?“

Puh. Ich musste erst einmal durchatmen.

Der Handel besteht aus Angebot und Nachfrage. Es besteht keine Nachfrage für Produkte, die vom Publikum nicht gewollt sind. Wenn ich aber nichts anbiete, kann auch niemand mein Produkt nachfragen. Ich gebe folglich dem nachfragendem Publikum gar keine Chance. So einfach ist das!

Warum es nicht einfach versuchen? Was soll schon schief gehen? Es erfordert keine immense Investition, keine Lagerhallen, keine Horde an Angestellten, sondern lediglich Talent, Willenskraft, ein paar Karten und Farbe. Mehr nicht.

Aber die Frage, die sich mir eigentlich stellt, ist: Warum glauben wir so wenig an uns?

Wenn wir von unterschiedlichen Personen gelobt werden, dann bedeutet das doch, dass wir etwas machen, was gefällt? Etwas, wofür man im besten Fall Geld verlangen kann. „Mach dein Hobby zum Beruf und du musst nie wieder einen Tag arbeiten.“ erscheint so oft in Sprüche-Kalendern. Warum es nicht einfach wagen? Was soll schon schief gehen?

Aber muss ich mir da nicht an die eigene Nase fassen? Wenn man mir die Frage stellen würde, was ich beruflich machen würde, wäre ich finanziell unabhängig, was wäre meine Antwort? Schreiben! Ich würde schreiben. Ich hätte eine kleine Wohnung in Gallipoli mit Blick auf’s Meer, hoch oben würde ich trohnen in meinem weiß getünchten Domizil. Ein paar Blumenampeln würden bei leicht geöffnetem Fenster sanft schaukeln. Sukkulenten würden sich darin heimisch fühlen. Und ich würde schreiben.

„Du hast doch gar kein Talent! Wer soll das denn lesen?“ fängt mein Negativ-Ich an. „Hey, ich hatte mal ’ne 1 in Deutsch.“ sagt mein Positives-Ich zurückhaltend beschämt. „Tjahaaa, wenn jeder, der „mal eine 1 in Deutsch hatte“, Schriftsteller werden würde, na, dann gut Nacht!“ entgegnet mein Negativ-Ich laut und bestimmt. „Und überhaupt“, setzt es fort, „wie willst du denn anfangen? Und über was schreibst du dann? Hast du ein Konzept? Hast du eine Idee? Man schreibt nicht einfach los! Das geht doch nicht!“

Spätestens ab dem Punkt verblasst meine Idee und ich widme mich anderen Dingen. Immer, wenn die Idee dann doch wieder aufkommt, wische ich sie weg wie eine lästige Wespe, die versucht den klebrigen Erdbeerkuchen zu kapern.

So wird es bei der Dame mit dem Kartendesign auch sein. „Ein nettes Hobby.“ wird sie sich denken und jedesmal, wenn jemand sagt: „Hey, das sieht toll aus. Das gefällt mir.“ wird sie höflich lächeln und nach einem kurzen Hoffnungsschimmer wird die Idee wieder zu Grabe getragen.

Aber warum? Warum nicht einfach mal wagen? Und wenn der erste Versuch nicht klappt, na dann vielleicht der zweite? Der dritte? Oder man bekommt eine neue Idee?

Lehrt uns nicht die Geschichte Christoph Kolumbus‘, dass man mit genug Willenskraft Amerika entdecken kann, auch wenn für einen die Karriere eines einfachen Wollwebers vorgesehen ist? Dass Rückschläge dazugehören, aber dass sich der eigene Einsatz früher oder später auszahlt? Vielleicht wird nicht alles wie geplant, vielleicht ist es nicht Indien, dass man schlussendlich entdeckt, sondern eine Bahamas Insel. Vielleicht ist es nicht der portugiesische Hof, der einem drei Schiffe leiht um ein neues Land zu entdecken, sondern der spanische. Aber vielleicht ist es genau so richtig wie es kommen wird.

Wir sind nicht alle Christoph Kolumbus, aber wir haben alle unsere Träume, die wir uns selbst madig machen. Wenn nicht wir selbst an uns glauben, warum sollten dann andere an uns glauben?

Man darf doch wohl noch träumen dürfen

Irgendwann.

Irgendwann sitze ich in unserem Haus mit Garten. Die großen Rosmarin Büsche verströmen einen betörenden Duft. Wann immer eine frische Meeresbrise vom wenigen Kilometer entfernten Meer landeinwärts weht, trägt es den salzigen Duft des Mittelmeeres und der prall-roten Tomaten aus dem kleinen Eck im Garten bis zu mir auf die Veranda. Die Mittagssonne brennt herunter. Ich lasse meinen Blick schweifen. Alte, knorrige Olivenbäume stehen auf der kargen, staubigen Erde. Hinter unserem alten, verblichenen Holzzaun stehen sie gelassen in der Mittagssonne. Hier und da bewegen sie sanft ihre Zweige im Wind hin und her. Es scheint als würden sie die Luft streicheln.

Ein paar wenige Zweige liegen auf dem Boden. Manche von ihnen fielen dem gestrigen, erfrischenden Sommergewitter zum Opfer. Zu Boden getragen warten sie nun darauf zu verdorren. Genau wie die anderen, die dort schon länger liegen. Die Blätter zu dürrem Laub geworden, werden sie in wenigen Tagen und Wochen zu Staub zerfallen.

Am Horizont kann man das tiefblaue Meer erahnen. Die Mittagssonne lässt es wie einen edlen Kronleuchter eines alten Königshauses schimmern und funkeln. Ein, zwei Schiffe kann ich erahnen. Die ewige Freiheit auf hoher See. Woher kommen sie? Wohin fahren sie?

Am anderen Ende des großen Gartens steht ein Feigenbaum. Die ersten Feigen des Jahres sind fast reif und leuchten in kräftigen Lila- und Grüntönen. Der Basilikum wiegt sich leise im Wind und scheint fast zu einer nicht hörbaren Musik zu tanzen. Der Thymian wird von vielen, kleinen Bienen bevölkert, die fleißig und gewissenhaft die Pollen einsammeln. Danach schweben sie ab, lautlos. Ihr Weg führt sie hinters Haus. Dort wohnen sie in ihrem großen Bienenstock und arbeiten tagein tagaus. Unerlässlich.

Auf dem alten, groben Holztisch steht mein soeben frisch gebrühter Espresso. Der Duft des schwarzen Goldes steigt mir in die Nase. Herb, wohlig, einladend und zugleich temperamentvoll. Ich rühre besonnen etwas braunen Zucker in die Tasse. Die Crema bleibt. Auch das Rühren kann ihr nichts anhaben.

Signor Muller, unser Hund, liegt gemütlich dösend unter der Holzbank zu meinen Füßen. Sein leises Schnarchen und sein beherztes Atmen unterhalten mich.

Die Wäsche wippt fröhlich im Wind auf und ab. Meine Kleider, seine Kleider und die Kleider der Kinder leuchten. Die helle Kleidung strahlt mit der Sonne um die Wetter. Der Duft von frisch gewaschener Wäsche vermischt sich mit dem Duft der Kräuter aus unserem Steingarten. Der Kaktus trägt stolz seine Feigen auf seinem langen, schmalen Körper und prahlt mit den übrigen Gemüsesorten und Früchten um die Wette. Die Zucchini-Pflanze steht in voller Blüte.

Es wird mir zu heiß. Selbst in meinem leichten Leinenkleid. Ich gehe ins Haus, das durch die dicken Mauern und die mediterrane Bauweise angenehm kühl ist. Herr Muller läuft mir schlaftrunken tappsend hinterher. Neben dem Herd steht noch das Mittagessen von vorhin: eine große Schüssel Pasta Fredda. Mehr als die Hälfte fehlt bereits. Vier hungrige Mäuler haben den Großteil davon mittags vertilgt.

Ich räume Geschirr in die Spülmaschine und entdecke einen kleinen Menschen am Tisch sitzen. Tagträumend. Wer kann es ihm verdenken? Wer kümmert sich schon um Mathe, wenn man sich ein paar freie Minuten ungestört in seinen Gedanken bewegen kann?

Herr Muller legt sich neben seinen Stuhl und rollt sich träge auf die Seite.

Ich wasche ein paar Aprikosen, die ich heute früh auf dem Markt gekauft habe, nachdem ich die Kinder zur Schule gefahren habe. Das Messer gleitet durch das pralle, saftige Fruchtfleisch. Der dunkle Kern löst sich von alleine. Auf dem weißen Teller mit dem filigranen Blumenmuster kommt das satte Gelb-Orange der Früchte noch mehr zur Geltung.

Ich streichle meinem kleinen Tagträumer über’s Haar und stelle den Teller mit den Aprikosen zwischen uns. Langsam erwacht er aus seinem Traum und greift beherzt zu. „Mmmmh!!“ stellt er fest. „Sono buone!“ [Die sind gut] sagt er. Er könnte auch Deutsch sprechen, aber die Muttersprache seines Vaters fällt ihm leichter. Stillschweigend genießen wir die übrigen Aprikosenhälften. Andächtig kauen wir sie und grinsen uns an.

Irgendwann. Irgendwann wird es so oder so ähnlich sein. Bis dahin träume ich einfach noch ein bisschen weiter von dem Haus in der Nähe des Meeres, vom großen Garten und den alten Olivenbäumen, den kleinen Menschen, die tagträumend im Wohnzimmer sitzen und von Herrn Muller, der friedlich schnarchend unter dem Tisch liegt.

Man wird ja nochmal träumen dürfen