Glück für 45 Cent

Glück für 45 Cent

Bei der gestrigen Geschichte aus der S-Bahn habe ich Ihnen Teil 2 unterschlagen. Deswegen folgt hier die Fortsetzung:

„Sie haben gar keine Maske auf! Das macht dann 50 Euro, bitte.”, spricht der Kontrolleur hinter mir. Er ist einer von zwei VGF-Mitarbeitern, die im Gang der S-Bahn stehen, mit der Signorino und ich in die Kita/Arbeit fahren. Sie reden mit einem aufstrebenden jungen Mann, Ende zwanzig, den das Duo ohne Maske erwischt. Ich recke meinen Kopf, um den jungen Maskenverweigerer noch besser sehen zu können, was gar nicht so einfach ist, wenn man ein recht großes Kleinkind auf dem Schoß hat. Wie sagt man in Italien so schön: „La curiosità è femmina. [Die Neugier ist weiblich.]“ Auch mich trifft das definitiv zu.

“Oh, aber … hm… heute musste es schnell gehen.”, antwortet der junge Mann, den ich mittlerweile eingehend gemustert habe. Dunkelblauer Anzug, dunkelbraune Haare, eine Werbeagentur würde ihn wohl als sportlich-maskulin betiteln. Jede seiner dunklen Strähne ist einzeln und mühsam mit Gel definiert worden. Vermutlich sind deswegen die Seiten so kurz geschoren, weil ihm schlichtweg die Zeit fehlen würde, den ganzen Kopf morgens Strähne für Strähne einzeln zu hegen und legen. “Helmut, die Ausrede habe ich ja noch nie gehört.”, witzelt der eine Kontrolleur mit seinem Kollegen Helmut. Das Kontrolleur-Team ist ungefähr im gleichen Alter. Gestandene Männer, graue Haare, die Uniform spannt etwas im Bauchbereich, weswegen beide die Uniformweste offengelassen haben. Kontrolleur Helmut grinst und spricht zum jungen Anzugträger: “50,- € kost‘ Sie die Maskenfreiheit im Zug.” Der andere Kontrolleur, der nicht Helmut heißt, hat ein Einsehen und sagt: „Jetzt mach ma da net lang rum! Ziehen’s schnell die Maske auf und wir gehen einfach weiter als wär nix g’wese.“ Der geschleckte, aber maskenlose Anzugträger druckst herum. „Ja, nun…“, stammelt er. Heute früh musste es schnell gehen und da habe er in der Eile überhaupt nicht an eine Maske gedacht und deswegen kann er auch keine aufsetzen. „Nach ‚Schnell-aus-dem-Haus‘ sieht seine perfekt definierte Frisur aber nicht aus.“, denke ich zynisch. Und in meiner Mutti-Blase füge ich meinen Gedanken noch hinzu: „Also ich bin in der Lage an Kind, Laptop, Firmenhandy, mein Handy, unterschriebenen Zettel für die Kita samt fünf Euro Ausflugsgeld, Schnuller, Trinkflasche, Sonnenhut, Nerven-Riegel und Sonnencreme zu denken und bin zehn Minuten später als gewöhnlich aufgestanden. Aber Mr. Finance-Frankfurt schafft es nicht an seine Maske zu denken?! Kommt ja auch überraschend nach 2,5 Jahren, dass er in den Öffis eine Maske tragen muss.“ Dann verbiete ich mir meine Gedanken. Was weiß ich schon vom Leben des Jungspundes? Das Äußere täuscht doch allzu gerne über die wahren Probleme eines jeden hinweg.

Unweit entfernt vom Jungspund sitzt ein junggebliebener Mitsechziger. Hochgewachsen, kurzärmliges Karohemd, weiße, etwas längere Haare, Schnauzer. Einer, dem ich den Namen Wolfgang geben würde und vermutlich damit recht hätte. Er reicht dem Jungspund eine OP-Maske. „Unbenutzt natürlich.“, sagt er und zwinkert, was ich ganz genau sehen kann, denn ich recke und strecke angestrengt meinen Kopf, um von diesem morgendlichen Schauspiel ja nichts zu verpassen. Der Jungspund strahlt Wolfgang an. „Vielen, vielen Dank! Das ist aber nett. Das zahle ich Ihnen aber. Wie viel macht das?“, näselt der Jungspund. „45 Cent.“, antwortet Wolfgang trocken. Der Jungspund holt seinen Geldbeutel aus seiner Ledertasche, kramt, findet nicht die passenden Münzen, kramt weiter und versucht mühsam ein paar Münzen zusammenzusammeln, die im besten Fall 45 Cent ergeben. Ich denke noch: „Mein Gott, gib Wolfgang doch jetzt einfach 2 Euro. Alleine schon deswegen, dass er dich gerettet hat vor deiner 50 Euro Strafe.“ Doch Wolfgang steht bereits an der S-Bahn-Tür und wartet darauf, dass die Bahn an der Haltestelle Ostendstraße zum Stehen kommt. Grinsend beobachtet er das Schauspiel des Münzen suchenden Jünglings, bis er ihn mit dem Satz ‚Lass‘ gut sein, Bub! Ich war a amal jung. Da hat man ganz andere Sachen im Kopf.‘ erlöst. Spricht’s, die Türen gehen schrill piepend auf und er verschwindet Richtung Rolltreppen. „Da haben Sie jetzt aber Glück!“, kommentiert der Kontrolleur Helmut. „Was ich Ihnen nämlich noch verschwiegen hab: Eine Anzeige hätt’s auch noch für sie gehagelt. Vielleicht nehmen Sie sich nächstes Mal morgens mehr Zeit. Nur so als Tipp.“ Diesmal lacht der andere Kontrolleur. „Du Helmut, wollten wir nicht auch an der Ostendstraße raus?“, fragt der namenslose Kontrolleur seinen Kollegen Helmut. „Au ja! Jetzt aber schnell.“ Beide wackeln aus dem Zug. Der Jungspund greift zum Telefon. „Jan, du glaubst nicht, was mir gerade passiert ist!“

Verdammt! Ostendstraße! Hier müssen wir auch raus. Ich renne mit Kind und Rucksack aus der S-Bahn, gerade als die Türen anfangen sich piepsend zu schließen. Geschafft! Wir sind an der richtigen Station gerade noch so herausgesprungen.

Glück muss man haben.