Vielleicht

Vielleicht.

Vielleicht wäre es ein guter Tag geworden, wäre ich heute nicht um 6:30 Uhr aufgestanden um einen Zahnarzttermin wahrzunehmen.

[ Vielleicht hätte ich dann aber auch 20 Minuten später nicht den ersten Morgenkaffee ganz in Ruhe trinken können, zufrieden auf unserem Balkon, dem Berufsverkehr lauschend. ]

Vielleicht wäre es ein exzellenter Tag geworden, wäre ich nicht um 6:35 Uhr mit dem großen Zeh gegen das Bernhardiner-Große Paket unseres Nachbarn gestoßen, der es seit 4 Tagen nicht abholt.

[ Vielleicht hätte dann mein Nachbar nachmittags aber auch keine riesen Tafel Schokolade aus der Schweiz für uns mitgebracht, weil wir immer seine Pakete annehmen und aufbewahren. ]

Vielleicht wäre es ein wunderbarer Tag geworden, wäre der Zahnarzttermin später gewesen und ich hätte mir die Fahrt im Beurfsverkehr sparen können.

[Vielleicht hätte ich dann aber auch kein Lächeln von dem 3-jährigen, dunkeln Lockenkopf in seinem Kinderwagen bekommen, der zufrieden seine Brezel mampfte und den die volle S-Bahn nicht im geringsten störte. ]

Vielleicht wäre es ein fantastischer Tag geworden, hätte ich nicht 40 Minuten beim Zahnarzt warten müssen.

[Vielleicht hätte ich dann aber auch nicht das Rezept abfotografieren können in der Zeitschrift, die ich genau deswegen seit Wochen suche]

Vielleicht wäre es ein gigantischer Tag geworden, hätte man nicht nach weiteren 10 Minuten festgestellt, dass ich zwar den Termin vor drei Monaten ausgemacht habe, aber genau heute die zusätzlichen Räume meines Zahnarztes bezogen worden sind, so dass an Behandlungen nicht zu denken ist.

[Vielleicht hätte ich dann aber auch nicht mit der netten Zahnarzthelferin geplaudert, die ich schon seit Jahren kenne und die mir wieder einige Neuigkeiten erzählt hat]

Vielleicht wäre es ein prima Tag geworden, hätte ich nicht mit dem Römer über ein Thema diskutiert, bei dem wir uns nie einig sind.

[Vielleicht hätte er mir dann aber auch keine pasta fredda als Friedensangebot gekocht]

Vielleicht wäre es ein spitzen Tag geworden, wäre mir nicht 10 Meter nach der Eisdiele mein Schoko-Eis runtergefallen. Auf meine weißen Stoffturnschuhe.

[Vielleicht hätte ich dann aber auch keinen Grund gehabt in das Schuhgeschäft nebenan zu gehen und ein super Paar reduzierte Schuhe zu kaufen]

Vielleicht wäre es ein famoser Tag gewesen, hätte der Postbote das schwere Paket nicht im Nachbarviertel abgegeben, sondern bei unserer Postfiliale, die wenige Meter entfernt ist.

[Vielleicht wäre dann aber Turtle nicht mit dem Auto vorbeigekommen um mich zu fahren und mir zu helfen, das Paket abzuholen. Vielleicht hätten wir dann auch nicht für einen kühlen Eistee gestoppt.]

Vielleicht.

Manchmal kann man nur die Augen schließen und tief durchatmen während man von anderen am Kinn gekratzt wird. Ooooooooom!

Der Eine und der Andere

Ich habe zwei beste Freunde. Den Einen und den Anderen.

Den Einen kenn ich noch aus der Schule. Ich war blitzverliebt als er als „der Neue“ meiner Klasse vorgestellt wurde. Er musste sich in die erste Reihe Mitte setzen, denn nur dort war ein Platz frei.

Jeden morgen in der ersten Stunde packte er etwas zu essen aus: Nicht etwa ein Croissant, eine Brezen oder eine Käsesemmel wie es damals in München üblich war, nein, er packte eine Tafel Schokolade aus. Und die nächsten zwei Stunden befasste er sich, der er doch so im Blickfeld der Lehrer saß, damit, dass er seine Schokolade genüsslich teilte und dann verspeiste. Erst einmal brach er die Schokolade in Spalten, die wiederum aus vier Stücken bestanden. Die Stücke brach er einzeln ab, kaute aber nicht, sondern ließ sie auf seiner Zunge schmelzen. Nach zwei Schulstunden faltete er das Schokoladenpapier einmal in der Mitte und verstaute es unter seinem Ordner. Das wiederholte er fünf Tage die Woche.

Ich, die zwei Reihen hinter ihm, aber etwas weiter rechts saß, beobachtete dieses einzigartige Schauspiel jeden morgen mit immer neuer Faszination. Ich kannte niemand, dem die Lehrer so gleichgültig waren und der gleichzeitig so tiefenentspannt seine Schokolade frühstückte. (Hier sei angemerkt: Wer frühstückt eigentlich morgens eine Tafel Schokolade?) Ab da tat ich alles dafür, dass wir Freunde wurden. Und so kam es auch.

Den Anderen lernte ich in einem Lehrgang kennen. Schon als er zur Tür hineinkam, fand ich ihn genial. Seine Art war unheimlich unterhaltsam, gleichzeitig argumentierte er mit fundiertem Wissen und war informiert. Er war wie eine witzige Wissenssendung und jedes Mal, wenn er sich zu Wort meldete, musste ich grinsen, denn ich wartete auf scharfe Pointen und seinem omnipräsenten Zynismus. Während diesen drei Monaten Lehrgangszeit wurde ich kein einziges Mal enttäuscht. Später wohnte er dann bei mir, denn er brauchte aus beruflichen Gründen immer mal wieder eine Schlafgelegenheit und in unserer WG war noch ein Zimmerchen frei. Das bezog er und war letztendlich öfter bei uns als in seiner „richtigen“ Wohnung, denn die Abende verflogen nahezu, wenn wir beide zusammen quatschten.

Der Eine ist mehr Typ Faultier, bedachter, ruhiger, entspannter und lässt erst einmal alles auf sich zukommen, während der Andere energetischer, dramatischer, konfliktbereiter und informierter ist, was in der Welt so vor sich geht.

Ich möchte weder den Einen noch den Anderen in meinem Leben missen, denn so unterschiedlich sie auch sind, so unterschiedliche Tipps ich von ihnen bekomme, sie halten mich doch in der Mitte. Und sollte ich doch einmal in meinem Leben entgleist sein, so haben sie mich jedes Mal wieder auf die Schienen zurückgesetzt und sichergestellt, dass ich wieder normal laufe.