Ich glaube, der weihnachtlichste Moment in diesen Festtagen war, als das Kind darauf bestand mit einer Rentier-Geschenkpapierrolle einzuschlafen. Es war der 23. Dezember und mein Plan war es, die unverpackten Geschenke abends, wenn das Kind schläft, einzupacken.
Den Plan vereitelte Signorino, in dem er die Geschenkpapierrolle fand und fortan als seinen Intimus betrachtete. Den ganzen Abend verbrachten die beiden miteinander. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass diese Freundschaft nur so lange Bestand hielt, weil die Rolle noch in ihrer dünnen Plastikfolie eingewickelt war. Das Zähneputzen fand selbstverständlich mit der Geschenkpapierrolle in der rechten Hand statt. Ein riesen Gekreische schrillte durchs Wohnzimmer als er die Rolle für den Bruchteil einer Sekunde aus der Hand legen musste, weil wir ihn in den Pyjama steckten. Man hätte meinen können, wir würden das Kind abstechen. „Nimm ihm doch jetzt die blöde Rolle weg! Ich brauche die eh gleich, weil ich die Geschenke noch einpacken muss.“, wies ich den Römer an. „Ma che? Non ci dobbiamo stressare. [Ach was! Wir müssen uns nicht stressen.] Wir nehmen sie ihm gleich weg, wenn er schläft.“, antwortete der römische Gatte. Ein guter Plan, der leider am Faktor Kind scheiterte.
Wir brachten Signorino und seine Geschenkpapierrolle ins Bett. Er lag in der Mitte, flankiert vom Römer und mir. Wenn Sie sich jetzt fragen, warum man zwei Elternteile braucht, um ein Kind ins Bett zu bringen, ist das eine überaus berechtigte Frage. Die Antwort ist eine sehr einfache. Es ist (momentan) der schnellste und effizienteste Weg, das Kind ins Bett zu bringen. Fehlt ein Elternteil, wird dieser solange von Signorino gesucht bis er sich schließlich auch ins Bett begibt. Wenn man Signorino nicht aus dem Bett oder gar aus dem Schlafzimmer entlassen will, damit er den abwesenden Elternteil suchen kann, kreischt er ebenfalls solange bis er suchen gehen darf. Deswegen dauert der Einschlafprozess 15 Minuten, wenn wir beide zusammen anwesend sind – oder 2,5 Stunden, wenn nur ein Elternteil Signorino ins Bett bringen darf. Sie können sich denken, für welchen Weg wir uns regelmäßig entscheiden.
Als Signorino langsam ins Reich der Träume glitt, streckte ich im Halbdunkeln meine Hand nach oben, darauf bedacht, den Abkömmling nicht zu wecken, aber gleichzeitig die Aufmerksamkeit des Römers zu gewinnen. Der Römer reckte seinen Kopf. Ich flüsterte „Geschenkpapierrolle!!“. Er kuschelte sich an das Kind heran, löste den kindlichen Daumen und wollte dann die restlichen Finger von der Rolle lösen, doch das Kind schrie bereits los. Mist! Der kleine Kerl hatte noch nicht richtig geschlafen. Der Römer ließ von seiner Hand und der Geschenkpapierrolle ab, um ihn dann sofort mit beruhigenden „Sssch’s“ zu besänftigen. Ein paar Mal nuckelte Signorino empört am Schnuller, um dann wieder einzuschlafen. „Nochmal?“, flüsterte ich nach 5 Minuten, in denen der Römer und ich unbeweglich wie zwei Eisblöcke neben dem Kind lagen. „Bloß nicht wecken!“ war die Devise. Der Römer schüttelte den Kopf und zeigte Richtung Tür. Wir schlichen uns aus dem Zimmer. Im Flur besprachen wir die Taktik. „Wenn die Entspannungsphase im Schlaf einsetzt, dann wird Signorino ganz von alleine von der Rolle ablassen und wir können sie mühelos und ohne Geschrei entfernen. Notfalls packst du erst morgen die Geschenke ein.“, erklärte mir der Römer seinen Plan. Ich stimmte zu. Als wir gegen Mitternacht ins Bett gingen, lag unser Sprössling mit seiner Geschenkpapierrolle im Klammergriff tief schlafend im Bett. „Und jetzt?“, flüsterte ich. „Ich schlaf doch nicht neben einer Geschenkpapierrolle?!“ Der Römer musste sich bei diesem Gedanken ein Lachen verkneifen und hielt sich den Mund zu, um das Kind nicht zu wecken. „Dai! Non ti preoccupare. [Komm schon! Mach dir keine Sorgen.] Jetzt kann man ihm die Rolle einfach wegnehmen.“ Sie ahnen es: Man konnte nicht. So schliefen wir also zu viert im Bett: Der Römer, Signorino, die Geschenkpapierrolle und ich. Wann immer sich das Kind drehte, und das tat es oft und viel, hatte man entweder einen kleinen Fuß im Bauch, eine Geschenkpapierrolle im Gesicht oder eine Hand auf dem Kopf. Irgendwann wurde es mir zu bunt. Ich quartierte mich aus. „Es wird Zeit, dass das Kind alleine schläft.“, dachte ich noch. Dann schlief ich ein.
Am nächsten Tag verbrachten Signorino und die Geschenkpapierrolle den Tag miteinander. Als die junge Freundschaft zur Mittagsschläfchenzeit immer noch nicht vorbei war, beschloss ich, die Geschenke in Geschenkpapier mit der Aufschrift „Happy Birthday!!“ zu verpacken. Anderes Papier hatte ich nicht zur Verfügung. Das Kind kann nicht lesen und in 30 Jahren werden wir bei der PowerPoint-Präsentation (oder was auch immer es dann geben wird) anlässlich seiner Hochzeit alle etwas zu lachen haben, sofern er denn überhaupt heiraten will. Nachdem alle Geschenke eingepackt waren, das Kind wieder wach und fit für die zweite Tageshälfte, verlor er, wie sollte es anders sein, sein Interesse an der Geschenkpapierrolle.
Der 24. Dezember war ansonsten recht unspektakulär. Es gab in unserer Wohnung keinerlei Weihnachtsdeko, was der mangelnden Zeit im Dezember geschuldet war. Das Kind riss seine Geschenke gegen 19 Uhr auf und wollte ansonsten gerne „Bobo Siebenschläfer*“ gucken. Der zweite Weihnachtsfeiertag plätscherte so vor sich hin. Morgens nieselte es, nachmittags schneite es, aber es war auch vollkommen egal, welches Wetter vor unseren Fenstern tobte. Wir hatten eh nicht vor, heute das Haus zu verlassen. Selbst der Knirps wollte nicht raus, trotz mehrmaligem Anbieten eines Spielplatz-Besuches. „No’malBoboJA?! [Nochmal Bobo Siebenschläfer, ja?]“, war seine Antwort. Dabei muss ich hervorheben, dass seine Satzstruktur mich stark an unseren neuen, überaus freundlichen Kebab-Dealer Cetin erinnert. „ZweiMalDönerMitAllesScharf,JA?!“, sagt Cetin, wenn die Schlange vor seinem Laden sich mal wieder um die nächste Straßenecke schlängelt. Da Cetin nicht nur überaus freundlich und schnell ist, sondern, hier lege ich mich fest, einen der besten Döner Frankfurts anbietet, ist seine Satzstruktur aufgrund des hohen Aufkommens an hungrigen Gästen oft auf das Nötigste reduziert. Er kann aber auch ganz normal sprechen, wenn nicht Horden von hungrigen Frankfurtern vor seinem Laden warten. Dennoch weiß ich nicht, ob es für uns als Eltern spricht, dass das Kind nun diese Satzstruktur aufweist. Zu unserer Verteidigung möchte ich trotzdem erwähnen: Wir hatten im Dezember echt viel zu tun und haben nur deswegen so oft bei Cetin bestellt. Immerhin sagt das Kind noch nicht „NächsteBitteHalloMeinFreundWasDarfsSein?“.
Am Abend des 25. Dezembers machten wir etwas total verrücktes: Wir buchten unseren Sommerurlaub. Das taten wir noch nie so früh, was einerseits daran lag, dass wir ein sehr unstetes Leben hatten und nicht länger als zwei Wochen im Voraus planen konnten. Andererseits lag es an der ständigen Ungewissheit, wann wir überhaupt Urlaub nehmen können, ob und wann wir einen Kitaplatz finden, ob und wann wir umziehen, usw.. Doch dieses Jahr haben wir bereits alle Unwägbarkeiten, von denen wir zum heutigen Zeitpunkt wissen können, abgeklärt. Dazu sind wir dieses Jahr umgezogen, haben eine Kita gefunden und werden unseren Urlaub rechtzeitig beantragen.
Dazu wussten wir: Die Kita schließt in den letzten zwei Augustwochen. Irgendjemand muss das Kind betreuen. Wir arbeiten beide und somit ist es klar, dass wir uns in dieser Zeit frei nehmen werden. Zuerst buchten wir fünf Nächte in Rom in dem Reihenhäuschen, dass wir 2020 kennen und lieben gelernt hatten. Dann dachten wir daran, dass wir danach den Zug nach Bari nehmen könnten und in Polignano a Mare eine Woche bei einem römischen Freund verbringen könnten. Die Züge waren noch nicht buchbar, was wenig verwunderte, denn DB Tickets* kann man auch erst drei Monate vorher buchen. Der Römer und ich redeten etwas über Albanien und über Gjiri i Lalzit, die Lalzit Bucht. etwas oberhalb von Durrës. Hier waren wir das erste und letzte Mal am Meer als ich mit Signorino schwanger war. Furchtbar langweilig, wenn man als Paar dort ist. Mit Kind sieht das aber ganz anders aus: Es gibt einen langen Strand, zwei Restaurants, drei Spielplätze, viele Kinder, ein Café, fertig. Dazu ist die Wohnanlage von langen Wohngebietsstraßen durchzogen, die zu allen heiligen Zeiten von einem Auto befahren werden. Davor und danach gehört die Straße den Kindern mit Laufrädern, Bobby Cars und Fahrrädern. „Ach, ich weiß nicht.“, stöhnte der Römer bei der Vorstellung. „Warum in den Norden schweifen, wenn wir im Süden die besten Strände des Landes haben?“ Ich bat ihn, mir noch ein Mal die Bilder von Orten wie Dhermi, Ksamil, Palasë und Himar zu zeigen. Hübsch sah es dort aus. Wir suchten nach Unterkünften. Der Haupttenor des Römers war bei jeder Unterkunft “Ma che cos’è? [Aber was ist das denn?] Das würde ich nicht mal an den Mann** meiner Schwester vermieten.“ Irgendwann, durch eine göttliche Fügung, fanden wir eine Unterkunft die dem Römer genehm war. Der Preis im August sprach aber auch für sich. Gleichzeitig glänzten die römischen Augen. „Okay, können wir machen. Dann wird aber Rom storniert. Wir sind doch nicht Graf Koks!“, erklärte ich dem Römer. „Okay, kein Problem.“, sprach der Gatte und stornierte in zwei Klicks den Besuch in Rom. „Dann nehmen wir am besten ein Taxi bis dorthin.“, schlug er vor. „Ne, ne, ne, ne, ne! Sicher nicht. Das kenne ich schon. Vergiss es!“, insistierte ich blitzschnell. „Ma perché no? [Aber warum nicht?]“, wollte der Römer wissen. Ich hatte meine innere Kontra-Liste schon seit 2019 fertig in meiner virtuellen Albanien-Schublade und feuerte ein Argument nach dem anderen ab: „1. Mir ist bis jetzt kein albanischer Taxifahrer begegnet, der nicht die ganze Zeit durchgeredet hat. Natürlich in einem undefinierbaren, albanischen Dialekt. Mit dir. Die Fahrt dauert mindestens vier Stunden. Ne, danke. 2. Entweder Taxis haben keine Klimaanlage und ich fühle mich wie ein Grillhähnchen. Oder aber es gibt eine Klimaanlage. Dann ist die Einstellung immer auf „Winter in Jakutsk“. 3. Die Blicke! Jedes Mal, wenn ich den Kindersitz für Signorino installiere, werde ich angeguckt als hätte ich sie nicht alle. Das reicht mir schon, wenn dein Bruder mich so anguckt. 4. Gespräche über Deutschland. J-E-D-E-S einzelne Mal. Es scheint, als wärst du ein Gesandter der albanischen Botschaft in Berlin. Der Fahrer feuert also ein unbestätigtes Gerücht über Deutschland ab und du übertreibst es entweder mit deinen Lobeshymnen oder du machst Deutschland so schlecht, dass man denkt, man wohnt in einem seelenlosen Land voller dysfunktionaler Menschen. 5….“ Der Römer unterbrach mich: „Ist ja schon gut. Was willst du stattdessen machen?“ Ich grinste. Auch hier hatte ich bereits meine Lösung feinsäuberlich vorbereitet: „Ich buche einen Mietwagen. Bei Firma X – am Flughafen. Nicht wieder bei einer Mietwagenplattform, wo ich irgendeine Schrottbrasse in der Stadt abholen darf und wenn ich ankomme, sagt man mir: ‚Oh, da haben Sie aber Glück, dass sie fünf Minuten zu früh dran sind. Denn das ist unser letzter Mietwagen. Na ja, dann hat das Paar nach Ihnen eben Pech.‘ Wenn ich einen Mietwagen vier Monate vorher gebucht und bezahlt habe, brauche ich kein „Glück“. Der Mietwagen steht dort, wie vertraglich vereinbart, und wartet darauf von mir übernommen zu werden. Außerdem will ich die Mietwagenkategorie „Panzer“. Nie wieder fahre ich mit einer halbkaputten Coladose auf den Straßen Albaniens. Ich bin doch nicht lebensmüde. Wir haben teure Fracht an Bord, unseren Signorino.“ Ich drehte den Bildschirm zum Römer, um ihm zu zeigen, was ich mir genau vorstellte. „So viel Geld? Bist du irre! Sollen wir nicht lieber meinen Schwager Besim fragen, ob wir seinen Hyundai*** in der Zeit haben dürfen?“, wollte der Römer wissen. „Ne, danke. Auch das kenne ich schon. Natürlich sagt er sofort Ja, weil er zum heutigen Zeitpunkt denkt, dass er es schon irgendwie hinbekommt seinen Hyundai*** zu verleihen. Wenn wir dann Mitte August mit Kind und Koffer vor seiner Tür stehen, ist er so überrascht, dass er uns den Kleinstwagen seines Sohnes anbietet, denn der Hyundai*** sei angeblich in der Werkstatt. Zu dritt quetschen wir uns dann in den alten Opel Corsa*** und tuckern nach Dhermi. Ne, ne, mein Lieber! Entweder das – zu meinen Konditionen oder wir fahren an die Nordsee.“, machte ich dem Römer klar. „Gut, dann fahren wir an die Nordsee.“, trotzte er und verschränkte die Arme. Ich zeigte ihm wortlos die Wassertemperaturkurve der Insel Amrum. „Okay, und du meinst, dass ein Taxi vom Flughafen Tirana nach Dhermi wirklich keine Option darstellt?“, wollte der Gatte noch einmal wissen. „NEIN!“, sprach ich. „MamaPapaBoboJa? [Mama, Papa, darf ich Bobo Siebenschläfer gucken?]“, sagte eine leise Stimme. Signorino hatte sich unbemerkt aus dem Bett ins Wohnzimmer geschlichen. „Nein, Schatz. Du gehst jetzt wieder ins Bett.“, erklärte ich unserem Ableger. „TschuTschuWaJa? [Das Lied TschuTschuWa wäre auch in Ordnung für mich, Mutter.]“, versuchte es der Nachwuchs weiter. „Nein, auch das nicht. Komm, wir gehen zusammen ins Bett.“, schlug ich ihm vor. Seine kleine, warme Hand nahm meine und ich brachte ihn wieder ins Bett. Diesmal klappte es auch ohne römische Verstärkung. Als ich nochmals aufstand, buchte ich die Mietwagenkategorie „Panzer“ zum Preis einer halben Niere. „Freiheit kostet Geld.“, pflegt mein Vater immer zu sagen. Recht hat er.

*Eine Fernsehsendung der Öffentlich-Rechtlichen. Werbung, unbezahlt und unbeauftragt
**Man akzeptiert ihn, mag ihn aber nicht besonders, weil er so dickköpfig ist
***Werbung, unbezahlt und unbeauftragt