Samstag – Umzug ans Meer

Was bisher geschah:

Fortsetzung:

Um 2 Uhr nachts sind wir endlich im Bett. Dennoch wache ich immer wieder auf: Vom Hundegebell unten im Hof, vom Mond, der durch die Schlitze der Jalousien linst, vom Imam, der bei Sonnenaufgang über blecherne Lautsprecher zum Gebet ruft. Dazwischen denke ich immer wieder an den römischen Vater, den das Leben noch nicht gehen lassen will.

Um 9 Uhr stehe ich schließlich müde von der Nacht auf. Auch das Kind und der Mann erwachen langsam. Wir ziehen uns an, waschen uns und gehen die paar Stufen ins Obergeschoss des Hauses, wo sich der Wohnbereich und die großzügige Dachterrasse befinden. Wie immer durften wir uns im Gästezimmer der römischen Schwester einquartieren.

Das Kind freut sich, seinen Großcousin Kang zu sehen und die beiden werden sogleich ein Duo aus der Hölle. Gemeinsam haben sie die pfiffigsten Ideen und hören auf gar niemanden mehr, was mich sehr belustigt. Der wohlerzogene Kang dreht richtig auf (oder durch?) und wird zum Streiche spielenden Bengel. Nichts und niemand bringt ihn mehr unter Kontrolle. Signorino hingegen freut sich über jeden Schabernack, den Kang sich ausdenkt und sogleich umsetzt. Als sie beginnen, alle Schuhe aus dem Schuhregal zu räumen und die Treppe hinunter purzeln zu lassen, greift mein Schwager Besim, der Gatte der römischen Schwester ein: Er nimmt das höllische Duo mit zum Pool und das Wasser scheint Wunder zu wirken. Gemeinsam kühlen ihre Gemüter etwas ab und sie spielen vergnügt, aber deutlich ruhiger, am Schwimmbeckenrand. Wir frühstücken auf der Terrasse und ich lasse meinen Blick in Richtung Gebirge schweifen. Majestätisch thront es am Ende der Straße. Wie schön und einzigartig es doch auf der Welt ist.

Nach einem Espresso und ein paar Keksen packen wir unsere Koffer und stellen sie an die Türe. Dann ziehen wir das nasse Kind um, packen es unter Geschrei (ICH WILL BEI KANG BLEIBEN!! WASSER SPIELEN!) ein und fahren zum römischen Vater.

Die Sonne strahlt kräftig vom wolkenlosen Himmel. Es ist ein herrlicher Tag. Dennoch, die selben fahlen Gesichter von letzter Nacht begrüßen uns am Eingang. Die Herren, die ihre Traurigkeit in der Dunkelheit der Nacht verbargen, tragen nun extrem dunkle Sonnenbrillen. Die Leinenhemden sind halb aufgeknöpft. Abermals sitzen sie auf dem Balkon, rauchen und pusten ihre Gefühle schweigend in die Luft. Dabei beobachten sie, welche Besucherautos sich mit knirschenden Reifen auf der schmalen Schotterstraße dem Wohnhaus nähern. Als sie Signorino bemerken, wird er überschwänglich und unter vielen „Mashallas“ begrüßt. Das Kind lächelt verlegen und geniert sich merklich. Der älteste Bruder Ibrahim, bringt uns schließlich und sehr zur Freude Signorinos in den Raum, wo Osman schwer atmend liegt. Ibrahim streicht über den Oberarm seines Vaters und spricht: „Papa? Dein jüngster Enkel ist angekommen.“ Osman dreht seinen Kopf langsam und unter vollster Kraftanstrengung zur Seite, um sein zwanzigstes Enkelkind aufmerksam zu betrachten: Er schaut sich den blonden, verschämt wirkenden Signorino in seiner kurzen Hose und dem weißen T-Shirt ganz genau an und mit leiser, schwacher Stimme spricht er: „Was für ein schöner Junge du geworden bist.“

Signorino grinst und freut sich. Der Römer wischt sich eine Träne aus dem Gesicht und legt seine Hand auf die Brust des Vaters.

Es sollte der Tag gewesen sein, an dem wir den römischen Vater das letzte Mal lebend gesehen haben.

Nach einiger Zeit gehen wir wieder ins Erdgeschoss. Immer wieder tauchen neue Gesichter an der Haustüre auf. Meist ältere Herren in kurzen, ordentlich gebügelten Hemden und Stoffhosen. Die Damen sind, wie hier üblich, immer schwarz gekleidet und unter strahlendweißen, lose gebundenen Kopftüchern tragen sie ihr graues oder weißes Haar. Ich kann nicht zuordnen, ob es Verwandte oder Freunde sind und so frage ich ab und an, um wen es sich handelt. Schöne Geschichten werden mir von der Familie über Osmans Weggefährten zugetragen. Die schönste an diesem Vormittag ist die der vier Schwestern, die unmittelbar neben Osmans Geburtshaus aufwuchsen. Dadurch, das sie keinen Bruder hatten, beschlossen sie kurzerhand, dass der Nachbarsjunge, Osman, nun ihr Bruder sein würde. Und genau so geschah es: Neben seinen vier leiblichen Schwestern hatte Osman noch vier „Nachbarsschwestern“.

Es ist ein Kommen und Gehen in diesen Tagen. Jeder möchte sich noch einmal verabschieden, denn die Zeit drängt. Schnell, nur schnell, wer weiß, wann der Tod mit seinen schweren Stiefeln kommt?

Schließlich werden wir wieder zurück zum Haus der Schwester und des Schwagers kutschiert, wo unsere Koffer noch immer stehen. Nach einem mehrgängigen Mittagessen fahren wir gegen 14 Uhr los zu unserer Strandunterkunft. Im Nachhinein empfinde ich es als durchaus naiv, dass ich tatsächlich dachte, wir würden jetzt Urlaub machen als wäre nichts gewesen. Aber das sollte ich früh genug herausfinden.

Gefahren werden wir von einem Bekannten Besims. Den groben Weg kenne er. Um den Feinschliff würde sich der Römer kümmern.

Sie und ich müssen an dieser Stelle schmunzeln, denn der Römer ist durchaus zu vielem in der Lage, aber Navigation stellt hier eine absolute Ausnahme dar. Das sollte auch der arme Fahrer bemerken als er sich mit seinem Auto mitten auf der Strandpromenade wieder fand, umringt von Fußgängern. Erst dort, auf der Flaniermeile des Strandes bemerkt der Römer, dass seine Navigation wohl nicht ganz richtig war. Den Hinweis gab ich schon einige Minuten vorher als der Fahrer sich durch die enge Gasse zum Strand kämpfte. Obendrein war dieses schmale Sträßchen noch mit allerhand käuflich erwerbbaren und aufblasbaren Gummitieren an den Wänden behangen, welche die eh schon schmale Straße zu einem Nadelöhr machten. Nicht nur einmal presste ein aufblasbarer Flamingo oder ein Krokodil sein Gesicht an die Scheibe und starrte mich an.

Doch von vorne… (Fortsetzung folgt)

9 Kommentare

  1. Sehr berührend geschrieben. 😔Ich war länger nicht hier und hab “in der Mitte” der Erzählung angefangen zu lesen. Das hole ich jetzt nach. Es scheint ja viel passiert zu sein und leider auch sehr trauriges. Liebe Grüße

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