[Hinweis: Der Text entstand Mitte November 2023, zur Hochsaison der Laternenumzüge]
An einem Dienstag kam die Feuerwehr mit Blaulicht und Sirene. Nur wenige Augenblicke später erreichte der Krankenwagen die Hausnummer 142. Beide Fahrzeuge parkten auf der Straße der einspurigen Allee. Es gab kein Durchkommen mehr für den Verkehr.
Eine ältere Nachbarin zeigte den Einsatzkräften das richtige Stockwerk und die verschlossene Tür, hinter der man nicht mehr reagierte.
Als alle Helfer wussten, was zu tun war, stand die ältere Dame im kühlen Treppenhaus: Die Arme verschränkt, die Augen verschreckt und wusste nicht wohin mit sich. Die Lippen wurden Striche, fest aufeinander gepresst und das vorherige Bangen wich Sekunde um Sekunde einer traurigen Gewissheit.
Als erstes verließen die Feuerwehrmänner die Wohnung, die nun offen stand. Mit gesenktem Kopf und starren Mienen drückten sie sich an der Nachbarin vorbei. Ihr Einsatz war beendet.
Die Feuerwehrleute fuhren davon und stattdessen traf die Polizei ein. Sie kam ohne Blaulicht, ohne Sirene und ohne Hektik.
Die ältere Nachbarin stand noch immer im Treppenhaus wie eine schlecht platzierte Requisite. Alleine und verloren, in dieser traurigen Episode eines erloschenen Lebens. In diesem Moment lugte die junge Nachbarin mit dem Kind aus der Wohnungstür, irritiert von so vielen Menschen im Treppenhaus. Sie verstand sehr schnell, ging das halbe Stockwerk nach unten und umarmte die Ältere, die Verlorene. Sie wich nicht mehr von ihrer Seite. In regelmäßigen Abständen strich sie der Älteren über den Arm oder Rücken und drückte sie, wenn es sich gar nicht mehr aushielten ließ.
Der Notarzt packte seine Utensilien zusammen, streifte die blauen Handschuhe ab und trug Taschen und Hilfsmittel nach unten. Einer der Sanitäter legte tröstend seine Hand auf den Rücken der älteren Dame. Dann verschwanden sie, irgendwo zwischen den grauen Häuserschluchten in der rasch hereinbrechenden Nacht Frankfurts.
Nur die Polizei blieb und zwar eine ganze Weile.
Irgendwann muss der Leichenwagen gekommen sein. Da waren wir schon beim Laternenumzug: Turtle, Signorino und ich, die zuvor das traurige Schauspiel im Haus gegenüber beobachtete.
Die Bewohner aus der 142 kenne ich gut. Nicht vom Reden, sondern vom Beobachten. Wenn ich koche, Fenster putze oder schlichtweg aus Langeweile auf die Allee starre, taucht immer wieder eine:r von ihnen unten an der Straße auf.
Als wir vom Laternenumzug wieder kamen, waren alle Einsatzkräfte bereits verschwunden. Ich erzählte dem Römer von meinen Beobachtungen und schielte dabei noch einmal durch unser Küchenfenster zum Haus gegenüber. Zwei Kerzen standen vor der verschlossenen Wohnungstür im 2. OG. Sie flackerten in der Dunkelheit des vollverglasten Treppenhauses. Die ältere Nachbarin musste sie dort aufgestellt haben.
Die Verstorbene war die ältere Dame mit den Haaren, die von Form und Farbe an Holunderblüten erinnerten. Auch sie kenne, nein kannte, ich vom Sehen. Wenn ich samstagmorgens müde in der Küche stand, um Kaffee zu kochen, war sie mit ihrer Freundin, der älteren Dame aus dem 1. Stock, schon auf den Beinen. Jeden Samstag um 08:30 Uhr begann der pünktliche Abmarsch in den hiesigen Supermarkt. Hinter sich her zogen sie zwei Einkaufstrolleys. Dabei tratschten sie wild gestikulierend. Bisweilen gingen die Meinungen auch mal auseinander. Dann waren einige Zentimeter mehr als nötig zwischen ihnen und sie schwiegen. Dennoch gingen sie jeden Samstagmorgen zusammen zum Supermarkt, um nach einer Stunde mit schwerbepackten Einkaufstrolleys zurückzukehren. Zusammen hievten die beiden erst den ersten Einkaufstrolley in den 2. Stock, dann den zweiten Trolley in den 1. Stock. Es waren nicht nur Nachbarinnen. Es waren Freundinnen. Man passte aufeinander auf.
Am darauf folgenden Samstag und erst um 10 Uhr vormittags wollte die ältere Dame aus dem 1. Stock gerade das Haus mit ihrem Einkaufstrolley verlassen, da stand der Getränkelieferant verdutzt vorm Hauseingang. Immer wieder guckte er nach oben rechts zur Wohnung mit den heruntergelassenen Rollläden. Immer wieder klingelte er und doch machte niemand die Türe auf.
Die Dame sah den irritierten Lieferanten und erklärte mit gesenktem Kopf, dass im 2. OG rechts keine Getränke mehr gebraucht werden würden. Der Getränkelieferant guckte betroffen und nickte verständnisvoll, während die Dame weitererzählte. Dann streichelte er der Dame über den Oberarm und holte die leeren Getränkekisten, die sich unter der Treppe stapelten. Am Ende verschwand der Lieferant und ließ die alte Dame mit ihrem Einkaufstrolley zurück.
Sie schnäuzte in ein Taschentuch, tupfte sich die Tränen weg und wollte gerade zum Supermarkt aufbrechen, da hielt sie die junge Nachbarin mit dem Kind auf. Sie hatte ebenfalls einen Einkaufstrolley dabei. Die Junge fragte, ob die beiden die Ältere zum Supermarkt begleiten dürfen. Die ältere Nachbarin nickte und die Junge hakte sich bei ihr ein. Das Kind sprang vor den beiden Damen hin und her.
Auch an jedem weiteren Samstag gingen die Nachbarinnen mit dem Kind und den zwei Einkaufstrolleys zum Supermarkt. Erst um 10 Uhr und etwas flotter, weil der 5jährige drängte, aber immer zusammen.
Jetzt waren es nicht mehr zwei, die samstags zum Supermarkt gingen, sondern drei.
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