Donauwalzer im Halb-Stunden-Takt

Es ist Freitagnachmittag und ich steige in Passau in den ICE90. Als ich in der 2. Klasse Jacke und Rucksack abstreife und die beiden Dinge im Gepäckfach verstaut habe, lasse ich mich auf meinen reservierten Gangplatz plumpsen. Mein Blick fällt auf die gut lesbare Anzeige, die über der Türe des Großraumabteils prangt. „Sie befinden sich im Zug ‚Donauwalzer’. Der nächste, planmäßige Halt ist Plattling.“ Zum ersten Mal in meiner Zuggast-Laufbahn fällt mir auf, dass der ICE nicht einfach nur eine Zugnummer hat, sondern einen richtigen Namen. „Donauwalzer“ klingt wirklich sehr schön. So schwungvoll, so elegant, ja, beinahe poetisch. Und: Der Name macht beinahe Sinn, verkehrt der Zug doch zwischen Linz (AT) und Dortmund. Immerhin führt das erste Stück der Zugfahrt an der Donau entlang.

Da es für mich im „Donauwalzer“ nicht wirklich viel zu tun gibt, schweifen meine Gedanken ab: Ich überlege, wie man die Strecke von Frankfurt am Main nach München nennen könnte? “Isar-Spießer“, „Geschäftlhuber“ (eine Verschmelzung der Wörter „Geschäft“ und des bayerischen ‚G’schafftlhuabas‘, Wichtigtuer) oder „Vom-Feldmann-zum-Reiter-in-dreieinhalb-Stunden“ (an Anlehnung der beiden Oberbürgermeister Frankfurts und Münchens). Ich grinse und eh ich an weitere, pfiffige Zugnamen denken kann, bleibt mein Gehör an dem Gespräch meiner Sitznachbarn auf den Plätzen links von mir kleben.

Das ältere Ehepaar, das nur vom Gang getrennt von mir sitzt, lässt ihren scheinbar erfolgreichen Linz-Urlaub Revue passieren. Sie berichten sich gegenseitig noch einmal von den schönsten Momenten und verstecken hier und da ein Witzchen in ihren Ausführungen. Nun fahren sie zurück nach Dortmund, höre ich aus dem Gespräch heraus. „Oh, das ist aber auch eine ganze Ecke.“, denke ich und da mir langweilig ist, recherchiere ich, wie lange die Zugfahrt für das Dortmunder Ehepaar noch dauern wird. Von Passau aus sitzen die beiden noch knappe 8 Stunden im Zug. Das erfordert sicher ein gewaltiges Sitzfleisch. Gerade rollt der Zug aus Passau los, da unterbricht der männliche Part des älteren Paares das Gespräch und schiebt seinen Hemdsärmel etwas nach hinten, um auf seine goldene Armbanduhr mit dem rehbraunen, gemaserten Lederarmband zu gucken.

„Margot, wir verlassen Passau mit fünf Minuten Verspätung.“, informiert der Fahrgast seine Gattin ernst, die neben ihm am Fenster sitzt. Sie seufzt resigniert. „Dass die Züge in Deutschland aber auch nie pünktlich sein können! Andere Länder kriegen es doch auch hin.“, spricht er weiter und Margot nickt eifrig. „Ja, Walter. Eine Schande ist das!“

Wenn Sie mich fragen, ist fünf Minuten Verspätung absolut im Toleranzrahmen. Schließlich ist ein Zug ein durchaus komplexes Verkehrsmittel, das abhängig von anderen Zügen, Signalen, Passagieren, Personal, Schienen, beizeiten auch dem Wetter und Was-nicht-alles ist.

„Margot, das lässt mir keine Ruhe. Ich rufe Petra an, dass wir uns in Dortmund verspäten.“, spricht Walter eindringlich und lässt sich das Mobiltelefon von seiner Gattin Margot reichen. Er tippt ein wenig umher und hält sich das Handy ans Ohr. „Ja? Hallo? Petra? Vati hier! Sag Markus bitte, dass unser Zug Verspätung hat. Wir kommen fünf Minuten später in Dortmund an. Er braucht sich also nicht hetzen, wenn er uns abholt. Ja…. ja….ich halte dich auf dem Laufenden, Petra. Bis dann! Mach’s gut!“

Eine halbe Stunde vergeht, in der ich etwas planlos in meinem Tablet herumklicke. Zügig erreichen wir den nächsten Halt Plattling. Ich merke, wie die Herrschaften neben mir immer fahriger werden. Walter guckt mehrmals auf die Uhr, während Plattlinger und Nicht-Plattlinger aus- und zusteigen. Nach wenigen Minuten Halt schließen sich die Türen des ICEs und er rollt los.

„ACHT Minuten Verspätung! Wenn das so weiter geht, kommen wir in Dortmund mit mindestens zwei Stunden Verspätung an.“, mutmaßt Walter entzürnt. Margot bekräftigt ihn heftig nickend in seiner Annahme. Mir erscheint Walters Verspätungs-Vorhersage etwas utopisch, aber meine Bahn-Erfahrung ist nicht wirklich ausgeprägt, deswegen will ich nicht darüber urteilen.

„Margot, ich rufe die Kinder nochmal an. Es wäre mir unangenehm, wenn unser Schwiegersohn so lange am Dortmunder Hauptbahnhof auf uns warten müsste.“ Margot reicht ihm abermals wortlos das Mobiltelefon.

„Was soll man machen?“ steht auf dieser Mauer und so ganz genau weiß ich das auch nicht.

„Ja? Petra? Vati nochmal. Ja, ja! Alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen. Ich wollte dir nur mitteilen, dass wir mittlerweile acht Minuten Verspätung haben. ACHT! Genau! Sag Markus bitte, dass er acht Minuten später losfahren kann. Ja… ja… genau, ich halte dich auf dem Laufenden. Bis dann, mein Liebling!“, spricht Walter ins Telefon und gibt es an Margot zurück.

„Hoffentlich wird Petra nicht an jedem Bahnhof angerufen.“, denke ich noch und beginne einen Film anzuschauen, den ich vorab heruntergeladen habe. Nach einer weiteren halben Stunde erreichen wir Regensburg. Auch hier geschäftiges Aus-, Zu- und Umsteigen der Passagiere. Neugierig schiele ich zu Walter und Margot. Tatsächlich fixiert Walter bereits seinen Chronographen. Wie zuvor pfeift der Schaffner, die Türen schließen sich und wir setzen uns langsam in Bewegung.

„Mittlerweile sind wir bei zwölf Minuten, Margot!! Zwölf! Unpünktlich bis zum Gehtnichtmehr!“, teilt Walter Margot mit und scheint aufgebracht. Walters Gattin schüttelt resigniert den Kopf. Ein Glück waren die beiden in Österreich und nicht in Albanien, schießt es mir durch den Kopf. Sie würden durchdrehen, jedoch das Minutenzählen im hunderter Bereich perfektionieren.

„Ruf doch nochmal die Kinder an!“, weist Margot ihren Gatten an und reicht ihm unaufgefordert das Telefon. „Petra? Ja, ich bin’s nochmal, Vati. Genau, wir sitzen noch immer im Zug. Ich wollte dir nur ausrichten, dass wir Regensburg mit einer zwölfminütigen Verspätung verlassen haben. Korrekt… nur, dass du Markus nochmal kurz informieren könntest, dass er sich am Dortmunder Hauptbahnhof nicht die Beine in den Bauch steht. Wunderbar, Liebling. Ja, wir rufen an, wenn wir mehr wissen, keine Sorge!“, höre ich Walter ins Telefon sprechen. Danach gibt er das Telefon an Margot zurück.

Ich lächle in mich hinein und gucke meinen Film weiter. Bis zum Halt Nürnberg ist er überaus spannend. Doch meine Mitreisenden, Margot und Walter, werden am Bahnhof Nürnberg deutlich spannender, weswegen ich abermals den rechten Kopfhörer aus dem Ohr nehme. Mein Blick schweift wie zufällig zu Margot und Walter, die in ihrer gewohnten Pose auf ihren Sitzen sitzen. Walter blickt dabei auf die Armbanduhr. Margot guckt besorgt auf den Bahnsteig. Dann schließen sich die Türen und wir fahren los.

Blick auf den Frankfurter Hauptbahnhof. Von Aschaffenburg dauerte es noch ein gutes Stück nach Frankfurt.

„16 Minuten, Margot!!!“, ruft Walter empört und Margot weist ihn mit einem “Pscht” auf seine etwas zu leidenschaftliche Lautstärke hin. „16 Minuten!“, flüstert Walter nun sehr laut und Margot reicht Walter wortlos das Mobiltelefon. „Ja, Petra?! Genau, Vati schon wieder. Wir sitzen in Nürnberg. NEIN! NEIN! Im Zug in Nürnberg. Ja, immer noch in unserem Zug. Der Satz ist mir jetzt blöd über die Lippen gekommen. Also, wir sitzen in unserem Zug und – Achtung, Petra- das ist wichtig: Wir haben sechzehn Minuten Verspätung! Sech-zehn! Eine absolute Unverschämtheit der deutschen Bahn. Aber darum soll es nicht gehen. Wichtig ist, dass du Markus bitte Bescheid gibst… Ja… [murmelt] Aha…er ist immer noch in der Arbeit… genau, ruf ihn in der Arbeit an und sag Bescheid, Kind…. Richtig, dass er nachher nicht so lange in Dortmund warten muss. Das kostet ja alles Parkgebühren! Wunderbar, mein Liebling. Bis dann. Tschüss!“, informiert Donau-Walter seine Tochter Petra.

Aus purem Interesse und reiner Neugier recherchiere ich abermals in der Bahn-App, wie lange es von Nürnberg bis Dortmund dauern wird. Die Antwort finde ich sehr schnell: Noch 6 Stunden. Dann frage ich mich, wie oft Walter seine Tochter noch anrufen wird und finde auch diese Antwort, die mehr eine Vermutung ist, in der App: Neun Mal, denn es sind noch neun Haltestellen bis Dortmund. Immerhin: Jetzt ist noch die bessere Zeit für Petra, denn wir halten bis Koblenz nur stündlich. Ab dann wird es happig mit einem 15 bzw. 30 Minutentakt.

Mir fällt ein, dass der ICE hinter Nürnberg meist einige Zeit wettmachen kann. Vielleicht sogar 16 Minuten Verspätung? Und wenn das der Fall wäre, stellt sich die Frage, ob Walter seine Tochter über die Verfrühung informieren wird? „Mein Gott, ist das spannend hier im ICE.“, stelle ich im Stillen für mich fest und widme mich wieder meinem Film, der nur halb so spannend ist wie meine Mitreisenden.

Nach einiger Zeit tritt ein freundlicher Bahnmitarbeiter auf. Er kontrolliert die Fahrkarten und gibt Auskunft zur Verspätung. Ein junger Mann spricht ihn an, ob er seinen Anschlusszug in Würzburg wohl erwischen wird und der nette Bahnrepräsentant antwortet: „Auf jeden Fall erwischen Sie Ihren Anschluss. Wir haben einige Minuten gut gemacht und nur noch vier Minuten Verspätung. Das schaffen Sie ganz sicher. Keine Sorge.“ Walter guckt zweifelnd auf seine Armbanduhr, um die Aussage des Kontrolleurs zu überprüfen. Sie scheint zu stimmen, doch seine Stirnfalten bleiben weiterhin in Alarmbereitschaft.

Als wir in Würzburg einrollen und die Fahrgäste aus- und einsteigen, begutachtet Walter abermals seinen Zeitmesser. „Willst du nicht Petra informieren, dass wir nur noch vier Minuten Verspätung haben?“, will Margot von Walter wissen als wir losrollen. „Ja, du hast recht, Margot. Besser ist das. Nicht, dass Markus davon in letzter Minute erfährt. Es wäre ihm sicher furchtbar peinlich, zu spät zu kommen.“, antwortet Walter und seine Gattin reicht ihm das Handy.

„Petra? Vati am Apparat. Wir sind gerade aus Würzburg losgefahren und haben nur noch vier Minuten Verspätung. Vielleicht könntest du Markus sagen, dass er doch ein bisschen eher losfährt? Ich weiß, das kommt jetzt überraschend. Markus hat sich sicherlich schon auf die spätere Abholzeit eingestellt, aber der Zug hat Zeit aufgeholt. Wenn du willst, rufe ich ihn in der Arbeit an und teile es ihm mit. Oder ist er schon daheim? …. (murmelt) immer noch in der Arbeit… gut… [Petra spricht einen längeren Dialog, Walters Augen weiten sich] Ach, du hast unsere Verspätung noch gar nicht weitergegeben? [Leicht entsetzt] UND WANN WOLLTEST DU DAS TUN? In knapp fünf Stunden sind wir in Dortmund!!! Markus muss sich doch darauf einstellen können!? Wir rufen dich seit Stunden munter an und du gibst unsere Infos einfach nicht weiter. Petra, ich sage dir das in aller Deutlichkeit: So unzuverlässig haben Mutti und ich dich nicht erzogen. [Pause, Petra spricht wieder etwas länger] Ja, das möchte ich auch hoffen. Ruf Markus sofort an! Meeting hin oder her. Zu unserer Zeit hätte es freitags um halb sechs Uhr nichts mehr zu besprechen gegeben in der Arbeit, aber das ist wohl eure Generation. Man schnackt einfach gerne über dies und das im beruflichen Kontext, während man sich privat nichts mehr zu sagen hat. Ich sehe die Entwicklung überaus kritisch an. [Petra spricht wieder] Wunderbar, mein Schatz. In 45 Minuten sind wir in Aschaffenburg. Wir rufen dich an, wenn wir von Aschaffenburg losrollen. Okay, bis dahin!“. Walter gibt Margot das Telefon zurück und schüttelt fassungslos den Kopf. „Kannst du dir das vorstellen, Margot? Petra hat ihren Mann noch nicht einmal über unsere Verspätung informiert? Seit Stunden rackern wir uns ab und versuchen ihr eine möglichst genaue Lageeinschätzung per Telefon zu übermitteln und sie nimmt es auf die leichte Schulter. Nächstes Mal sagen wir Kirsten Bescheid. Die ist deutlich zuverlässiger.“, spricht Walter auf dem Weg nach Aschaffenburg empört. Margot kommentiert: „Zwei Töchter- und beide sind so unterschiedlich. Dabei haben wir sie doch genau gleich erzogen. Ich schreibe Markus lieber noch eine SMS mit der aktuellen Verspätung. Nicht, dass Petra unsere Nachrichten wieder nicht an Markus weitergibt.“

Sehr zu meinem Bedauern musste ich in Aschaffenburg umsteigen, sonst hätte ich Ihnen berichten können, ob Walter an allen sieben, noch verbleibenden Zwischenhalten nach Dortmund bei seiner Tochter Petra angerufen hat, um sie über die aktuelle Verspätung zu informieren. Und, ob Margot an jedem Bahnhof zusätzlich noch eine SMS an Markus verfasst hat. Aber ich vermute, die Antwort lautete ja. Vielleicht wäre Petra gar nicht so unglücklich, wenn ihre Schwester Kirsten die Abholung der Eltern nächstes Mal koordinieren würde.

Das Schwiegermonster

Manchmal verstehe ich die Welt nicht mehr. So wie gestern, als ich folgende Geschichte in einem Babyforum laß:

„Ich möchte nicht, dass meine Schwiegermutter unser Baby anfasst oder gar küsst. Das habe ich meinem Mann auch ganz offen kommuniziert. Es ist ihr erstes Enkelkind, aber ich möchte es trotzdem nicht. Daraufhin sagte er, dass dann aber keine „Oma“ das Kind anfassen bzw. küssen darf. Ja, klar. Gleiches Recht für alle! Aber, wenn mein Mann nicht da ist und ich allein mit meiner Mutter bin, darf sie natürlich unsere Tochter knuddeln und küssen. Mama bleibt schließlich Mama. Nur meinem Mann darf sie es nicht sagen. Und überhaupt: mit meiner Schwiegermutter habe ich eh kein gutes Verhältnis.“

Ohne die Vorgeschichte der Verfasserin bzw. das Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter zu kennen, tat es mir unheimlich Leid für die Schwiegermutter. Im Forum stimmten der Verfasserin 2/3 der anderen Mütter – unter lautem Gezeter über das eigene Schwiegermonster – zu.

Nur eine Mutter schrieb: „Ich habe drei Söhne. Ohne deine Vorgeschichte zu kennen, hoffe ich, dass keiner meiner Söhne jemals eine Partnerin wie dich anschleppt. Es bricht mir das Herz diese Geschichte zu lesen.“

Die Diskussionen gingen voran, es wurde lamentiert, dass die Schwiegermütter sich gar nicht für die Enkelkinder interessierten und distanziert wären usw. usw..

Mich machte die Geschichte unendlich traurig. Sowohl meine, als auch des Römers Eltern leben mehrere hundert bzw. tausend Kilometer entfernt. Sie können nicht mal eben vorbeikommen. So lernen meine Eltern ihren Enkel Ende Januar (frühestens!) kennen – falls mein Vater reisefähig sein sollte – was wir alle sehr hoffen. Die Eltern des Römers lernen ihren Enkel im März kennen, wenn unser Bambino einigermaßen flugfähig ist und ein Immunsystem hat, dass es ihm erlaubt, den zwei Stunden Flug zu überstehen.

Ich wäre unendlich dankbar, wenn meine Eltern bzw. Schwiegereltern unser Bambino, sobald es da ist, sofort kennen lernen könnten. Seit Monaten fiebern sie auf den Geburtstermin hin, OBWOHL sie schon mehrere Enkel haben. (Das war auch ein Argument – die Schwiegermutter würde sich nicht interessieren, WEIL sie schon so viele Enkelkinder hat) Aber jedes neue Enkelkind ist ein Geschenk für unsere Eltern. Und wir? Wir können es kaum erwarten die glücklichen Gesichter unserer (Schwieger-)Eltern zu sehen. Küssen verboten? Bitte nicht! Es gibt nichts schöneres als Liebe: Die Liebe in der Familie, die Liebe zwischen Großeltern und Enkel, zwischen Geschwistern, Kindern und Eltern. Was wären wir ohne die Liebe?

Selbst meine Schwester Ova, die wahrlich kein großer Fan ihrer slawisch-dickköpfigen Schwiegermutter Sveta ist, schmilzt dahin, wenn sie die Kleinen knuddelt, ihnen bulgarische Geschichten vorliest oder sie ins Bett bringt.

Als ich dem Römer, der nochmal einen deutlich ausgeprägteren Familiensinn hat als ich, davon erzählte, kam nur ein: „Mazza, che persona di merda!“ [Wahnsinn, was für eine sche** Person] aus ihm raus. „Imagina quanto fa male alla nonna di non avere un rapporto col nipote.“ [Stell dir vor wie weh es der Oma tun muss, wenn sie keine Beziehung zum Enkel aufbauen kann.]

Dann wurde er still und sagte nach ein paar Minuten: „Sono molto felice di averti trovato. [Ich bin sehr glücklich dich gefunden zu haben] Du liebst meine Mutter und meine Mutter liebt dich, aber was noch viel wichtiger ist: Selbst wenn es nicht so wäre, dann wüsste ich, dass du meinen Eltern nie das Enkelkind vorenthalten würdest.“

Wenn ich zurück an meine Großeltern, besonders an meinen Opa, denke, dann kommen mir die Tränen. Ein so großartiger Mensch, ein Schlitzohr, dass mich förmlich mit Liebe überschüttete. Liebe in Form von Milchreis mit extra für mich gekauften Marmeladenherzen. Liebe in Form von warmen Kakao, wenn es draußen stürmt. Liebe in Form von „mich überall hin mitnehmen“. Liebe in Form von Ausflügen in den Zoo. Liebe in Form von Aufmerksamkeit. Liebe in Form von warmen Umarmungen. Liebe in Form von Begrüßungsküsschen. Und Liebe in Form von schrumpliger Hand mit dem eingewachsenen Granatsplitter aus dem Krieg auf warmer, klebriger Kinderhand.

Ich wünsche jedem Kind, dass es so wunderbare Großeltern haben wird wie es bei mir der Fall war. Und ich wünsche jedem Elternteil, dass es seinen Schwiegereltern nicht verwehrt, das Enkelkind zu sehen, zu umarmen und auch mal ein Küsschen zu geben. Denn die wirklich wichtigen Dinge im Leben habe ich u.a. von meinem Opa gelernt. Mein wunderbarer, loyaler, spitzbübischer Opa.

Gute Nacht

Es sind die stillen, die feinen Momente, die uns im Leben weiterbringen. Nicht die lauten, in denen man kaum sein eigenes Wort versteht.

Es sind die einsamen, nächtlichen Stunden, wenn alles schläft, die einem ermöglichen die Seele aufzuräumen. Draußen läuft seit Stunden keiner mehr herum, alle schlafen tief und fest in ihren Betten, doch einem selbst, warum auch immer, bleibt der Schlaf verwehrt. So steht man auf, im Schlafanzug, schlüpft in die warmen Hausschuhe, wandert durch’s Haus – ganz ohne Plan was auf diesen Moment folgen soll.

Die Pantoffeln tragen einen in die Küche. Für Kaffee ist es schon zu spät, für ein schlichtes Glas Wasser zu kühl in der Wohnung, aber für Tee könnte es keine bessere Zeit geben. Man setzt das Wasser auf, öffnet behutsam die Teeschatulle und hat endlich einmal Zeit all die Teesorten in Ruhe anzuschauen. Grüner Tee, Schwarzer Tee, Pfefferminztee? Zu laut für diesen einsamen Moment. Früchtetee? Zu aufgeregt. Melisse? Danach hatte ich gesucht. Melisse soll es also sein.

Behutsam wählt man eine Tasse aus. Exemplare aus längst vergangenen Zeiten, die ganz weit hinten im Regal stehen, lächeln einem aufmunternd zu. Wo warst du all die Jahre, meine liebste Pinocchio Tasse? Mit Bedacht packt man den Teebeutel aus, lässt ihn in die Tasse gleiten und stellt sicher, dass die Schnur auch gut befestigt ist. Das sprudelnde Wasser ergießt sich in einer flüssigen Bewegung in dem Gefäß. Leise tickt die Küchenuhr. Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack. Sie hat keine Eile, wie es einem untertags scheint. Stoisch verrichtet sie ihre Arbeit. Ohne mahnende Worte. Die digitale Anzeige des Backofens erhellt den Raum nur so viel, dass man nicht komplett blind in der Küche ist. Der Teebeutel wird entfernt. Das Licht ist aus. Doch die Hand kennt die Wege, die sie zum Honig und zu den Löffeln führen. Routiniert lässt man einen Löffel voller Honig, goldgelb und klebrig, in die Teetasse sinken. Leise, aber doch mit einem hellen Klingen hier und dort rührt man um. Drehung um Drehung verschmilzt der Honig mit der hellen Flüssigkeit.

Im Wohnzimmer angekommen, den Tee fest in beiden Händen, steht man am großen Fenster, die Stadt liegt einem zu Füßen. Wolkenkratzer scheinen nie zu schlafen. Stets sind die Firmenlogos und Schriftzüge beleuchtet. Wachsam um keine Sekunde zu verpassen. Die Straßenlaternen stehen wie Soldaten da – der Wind fegt ein paar Blätter durch die Straße. Menschenleer ist es da unten. Doch was ist das? Ein weiteres Licht brennt in unserer Straße. Ein kleines Fenster – 100 Meter zu meiner linken – 1. Stock. Man sieht niemanden. Ob es wohl vergessen wurde? Oder absichtlich angelassen? Vielleicht ein Student, der hektisch auf den letzten Metern seine Master-Arbeit tippt – noch nicht sicher, ob er das Spiel gegen die Zeit gewinnen kann? Vielleicht eine junge Mutter, die versucht ihr doch so waches Kind zum Schlafen zu überreden? Vielleicht eine Nachteule, die während des Tages weder die Ruhe noch die Muße findet, all ihre doch so fundamentalen Gedanken abzutippen?

Ich schlürfe meinen Tee. Die Nacht war mir schon immer die liebste Zeit. Ruhig ist sie, einnehmend, beherrschend. Gleichzeitig liebevoll umarmend, kühl, aber nicht distanziert. Aufregend. Gibt sie doch all die Gedanken Preis die man untertags hektisch weggeschoben hat oder für die keine Zeit waren.

Die Nacht lässt mich nicht gruseln und schaudern – sie offenbart mir Geheimnisse – über mich. Flüsternd erzählt sie mir, dass man nachsichtiger sein soll. Mit sich, mit anderen, mit der eigenen Kindheit, der Gegenwart, der Zukunft. Leise ermahnt sie mich, dass man nicht immer gleich kämpfen muss. Man kann Sachen auch einfach einmal abwarten. Diplomatisch sein. Mühsam versucht sie mir zu erklären, dass ich vielleicht nicht jede Entscheidung von meinen Mitmenschen verstehen kann, dass sie mir aber versichern kann, dass meine Mitmenschen sich viele Gedanken darüber gemacht haben. „Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist“ haucht sie mir zu und streichelt mir über die Wange.

Ich versuche mir all die Weisheiten zu merken. Doch langsam werden meine Augen schwer. Die Nacht, sie lullt mich ein und begleitet mich zurück ins Bett. Sanft breitet der Schlaf seine Flügel über mir aus und wir heben ab – ins Land der Träume.

Gute Nacht.