
Während ich heute mit Signorino das Frühstück genoss, fiel mir unser Mailänder Crewbusfahrer Biagio ein. Ein Mann von niedriger Statur, um die 60 Jahre alt, graue, lockige Haare, einen kleinen Bauchansatz und ein stets akkurat gebügeltes Hemd in strahlendem Weiß, das einen schönen Kontrast zu seiner gebräunten Haut bildete. Sein Hemd war so geknöpft, dass man den oberen Teil seines Brustbeins sehen konnte. Weiße Brusthaare blinzelten neugierig aus seinem gestärkten Hemd hervor.
Wann immer wir spätabends als Crew am Flughafen Mailand-Malpensa ausgespuckt worden sind, stand er schon da und begrüßte uns mit Handschlag. „Buona sera Signore e Signori! [Guten Abend meine Damen und Herren!]“ sprach er stets so als wären wir lang ersehnte Staatsgäste. Dann ging er mit flottem Schritt Richtung Crewbus, während wir ihm nacheilten wie müde Entenküken.
Meist wurde ich vorgeschickt um auf Italienisch zu fragen, ob man in seinem Bus etwas trinken dürfe. Er lächelte und nickte. „Una birra! [Ein Bier!] Eva, was heißt noch mal <<zum Beispiel>>?“ fragte der Copilot mich höflich. „Per esempio.“ half ich ihm aus und er stammelte „Una birra… per exempio.“ Nun lachte Biagio und seine weißen Zähne leuchteten im Dunkeln. „Si, si, signori, tranquilli. Alla fine sono io l’autista. [Ja, ja, meine Herrschaften, seien Sie ganz unbesorgt. Schließlich bin ich der Fahrer.]“ erklärte er uns freundlich und die Herren der Runde öffneten sich freudig ein Kaltgetränk.
Im Sommer vor vielen Jahren hatte ich das Glück, Biagio ganz für mich allein zu haben. Zugegeben, er war etwas genervt am Anfang. Nicht von mir, sondern von der Crewplanung und seinem Chef, die ihm beide nicht weitergegeben hatten, dass ich erst vierzig Minuten später zum Flughafen gebracht werden sollte. Aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen meines Arbeitgebers durfte ich nicht eher fliegen. So wartete er in der prallen Sonne auf die Deutsche, die sich, wie er dachte, verspätet hatte. Ich begrüßte ihn mit einem freundlichen „Good morning, buongiorno.“ Er murmelte ein genervtes „Si, certo, buongiorno. Io sto aspettando come un idiota che arriva la signora. [Ja, sicher, guten Morgen. Ich warte wie ein Idiot, dass die Signora endlich kommt.] Offensichtlich ging er davon aus, dass ich kein Wort Italienisch verstand. „Oh dio mio![Oh mein Gott!]“ ,setzte ich gleich verständnisvoll, „Hat Ihnen denn die Crewplanung nicht Bescheid gesagt? Ich durfte nicht eher fliegen aufgrund der Minimumruhezeit.“ Überrascht, um nicht zu sagen ertappt, guckte er mich an, nachdem ich ihm auf seiner Muttersprache alles erklärt hatte. So wäre das nicht gemeint gewesen, entschuldigte er sich wortreich. Wir verstanden uns auf Anhieb und ich erzählte ihm ausgiebig von meiner Misere: Nur acht Stunden hätte ich hier im schönen Saronno verbracht, eh ich wieder geduscht, geschminkt und angezogen auf meinen High Heels stehen musste. Dann lamentierten wir ausgiebig über unsere schwer zu ertragenden Schicksale.
Ab diesem Zeitpunkt waren wir enge Vertraute. Er erzählte mir vierzig Minuten lang die tollsten Geschichten von den italienischen Kollegen der Alitalia*². Eine ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, weil er sie so voller Leidenschaft und Emotionen wiedergab, als wären wir gerade mitten im Geschehen:
Er sollte morgens um 4 Uhr eine Alitalia Crew im Zentrum Mailands abholen und zum städtischen Flughafen Linate bringen. Der comandante [Kapitän], ein 50 jähriger, arroganter Kauz, so Biagio, stand genervt in seiner Uniform vorm Hotel. Als Biagio ausstieg und den Damen der Crew sofort mit dem Gepäck half, raunzte ihn just in diesem Augenblick il comandante an. Was er sich erlaube, eine fünfminütige Verspätung zu haben. Biagio entschuldigte sich und erzählte ihm von dem Unfall, der sich zur frühen Stunde auf der Autobahn ereignet hatte. Nur deswegen wäre er fünf Minuten zu spät gekommen. Il comandante wollte diese Ausrede partout nicht gelten lassen und beschwerte sich weiter lautstark über Biagios Zuspätkommen. Selbstredend kochte der zu unrecht beschuldigte Biagio vor Wut, doch er ließ sich nichts anmerken. Er verlud mit starrer Miene die Gepäckstücke der Crew, während die Crewmitglieder in seinen Minibus stiegen. Dann fuhr er los. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten sie die Viale Abbruzzi. Gleich würden sie wie immer auf die Via Gaio abbiegen um bei der Bar Pinocchio**² für ein kleines, aber feines Frühstück zu halten, dachte il comandante. Doch er sollte sich täuschen. Biagio fuhr die Viale Abbruzzi einfach weiter. Il comandante bemerkte dieses Versehen so gleich und wies Biagio vom Fond des Minibusses daraufhin, dass er vergessen hatte zur Bar Pinocchio abzubiegen. „No, comandante, non mi sono dimenticato. [Nein, Herr Kapitän, ich habe es nicht vergessen.]“ erwiderte Biagio mit seiner ruhigen, sonoren Stimme. „Dann biegen Sie jetzt ab! Wir alle haben noch nicht gefrühstückt!“ versuchte der aufgebrachte comandante Biagio zu befehlen. „Senta, comandante! [Hören Sie, Herr Kapitän!] Ich habe den Auftrag Sie zum Flughafen Mailand-Linate zu bringen. Es mag sein, dass Sie das Sagen in ihrem Flugzeug haben. Però questa è la mia macchina e qui comando io. Detto questo, nessuna colazione al bar Pinocchio. [Aber das ist mein Auto, wo ich bestimme. Damit gibt es gleichwohl kein Frühstück im Café Pinocchio.]“ Der Kapitän wollte sogleich wutentbrannt aufspringen und sich drohend über die Rückenlehne von Biagio lehnen. Doch er wurde von seinem Copiloten zurückgehalten. Biagio lächelte und setzte nach: „Sicuramente Lei trova qualche bar aperto all’aeroporto. [Sie finden sicherlich irgendein offenes Café am Flughafen.]“ Il comandante schäumte vor Wut und knallte aggressiv mit der Autotür, als sie schließlich am Flughafen angekommen waren. „Comandante, è stato un piacere come sempre. Alla prossima! [Herr Kapitän, es war wie immer ein Vergnügen. Bis zum nächsten Mal!]“ verabschiedete sich Biagio gewohnt höflich mit Handschlag beim comandante. Der reichte ihm widerwilig seine schwitzige Hand.
Ich fieberte die ganze Geschichte lang mit und war sehr traurig, dass wir mit Ende der Geschichte bereits am Flughafen angekommen waren. Biagio machte mir die Tür auf, hob mein Gepäckstück aus dem Kofferraum, gab mir die Hand und verabschiedete mich zwinkernd mit: „Signora, è stato un piacere. Alla prossima! [Die Dame, es war mir ein Vergnügen. Bis zum nächsten Mal!]“ Ich schüttelte ihm die Hand und stolzierte Richtung Flughafengebäude. Auf dem Weg dorthin kam mir eine Alitalia Crew entgegen mit einem 50jährigen, adretten, aber leicht überheblich wirkenden comandante. Sie steuerten auf Biagio zu, der bereits lässig an seinem Bus lehnte und telefonierte.
Alla prossima, Biagio!
*die Bar Pinocchio ist eine der wenigen Bars, die auf dem Weg zum Flughafen liegt und bereits um 5 Uhr morgens öffnet. Deswegen machen Crews hier für gewöhnlich eine kleine Frühstückspause, bevor sie auf den Flieger gehen.
*² Sie ahnen es: Werbung, unbezahlt 😉
Als ich Biagio las, dachte ich gleich an Antonacci. Der Sänger kann gar nichts dafür, allein weil mein Mann mich jedes verdammte Mal fragt, ob ich den auch so toll finde wie die Frauen im Allgemeinen, reagiere ich jedes Mal genervter (Nein!!!) … Dein Biagio ist mir sympathisch, gern mehr Geschichten von ihm! Chauffeure können so unterhaltsame Begleiter sein 😎
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🎶 No signora no (mi piaci) 🎶 No signora no (mi piaci) 🎶 No signora no (ti prego) 🎶
😄 Dein genervtes Nein mit drei (!) Ausrufezeichen kann ich sehr gut nachvollziehen. Dieser Biagio ist alles, aber als attraktiv würde ich ihn nicht bezeichnen. “Gewollt, aber nicht gekonnt.” könnte man seine Ausstrahlung hingegen getrost bezeichnen. 😅
Biagio ist wahrlich ein toller Chauffeure. Ich hoffe, ihn im nächsten Jahr wiederzusehen. 😍 Liebe Grüße 💛
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Schöne Geschichte!
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Dankeschön! 💛
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🤩👍💛
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💛
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