Priorität: Kieselstein

Gestern Abend um 22:30 Uhr suchten wir einen Kieselstein. Das war insofern interessant, weil es keine Metapher war. Signorino war der festen und nicht verhandelbaren Überzeugung, dass man ohne besagten Kieselstein nicht und auf gar keinen Fall ins Bett gehen könne.

Der Hase lag auch darin begraben, dass das Kind um 18 Uhr außerplanmäßig ein Nickerchen hielt. Völlig entkräftet schlief er nach einem ganzen Tag voller lamentele [Klagen, Beschwerden] ein, nur um dann eine Stunde später wieder zu erwachen. Seine Siesta war beendet. Die Party konnte beginnen.

Wir quälten uns also durch diesen Abend, der nie zu enden schien. Um 22:30 Uhr – das Kind rieb endlich die müden Äuglein – beschlossen wir, dass der Tag für Signorino jetzt ein Ende finden würde. Signorino beschloss, dass der Tag nur enden könne, wenn er besagten Kieselstein mit ins Bett nehmen könne.

Diesen suchte er sich am Nachmittag bei unserer örtlichen Eisdiele aus. Er hatte gerade mein Zitroneneis („Mmh, Mama, lecker!“) mit großem Genuss schnabuliert, während ich etwas unleidlich sein Schokoladeneis schleckte, als ihm einfiel, dass er unbedingt noch einen Kieselstein mitnehmen müsse. Wie praktisch, dass der Boden des Außenbereichs dieser Eisdiele nur aus Kieseln bestand. Also suchte er ein wenig herum bis er „seinen“ Kiesel fand. Nennen Sie mich ignorant oder achtlos, aber für mich sehen alle Kieselsteine mehr oder minder gleich aus. Für Signorino nicht. Signorino sah einen signifikanten Unterschied in der Beschaffenheit, Form und Farbe der Kiesel. Und nur einer von diesen unzähligen Kieseln war perfekt. Diesen nahm er mit.

Als Signorino auf seinem Tretroller zum nahegelegenen Spielplatz rollte, bat er mich, den Kieselstein für ihn aufzubewahren. Das tat ich und steckte ihn in meine Hosentasche.

Den blauen Hummer haben wir von Tante Turtle ausgeliehen.

Circa eine Stunde später waren wir daheim. Ich hatte den Kieselstein bereits vergessen, doch mein Sohn verlangte seinen Kieselstein zurück. So kramte ich ihn aus meiner Hosentasche und überreichte ihm seinen Schatz. Fortan spielte er den ganzen Nachmittag und, nach seinen Schläfchen, auch den gesamten Abend mit seinem Kiesel. Er baute sich aus Lego* eine Hammerschaufel (O-Ton Signorino). Damit versuchte er den Kieselstein zu zertrümmern. Es gelang ihm nicht. Dann spielte er Baustelle und nahm den Kiesel mit der Baggerschaufel auf. Als auch dieses Spiel beendet war, widmete er sich seinem Spezialgebiet: Meereswelten! Ein gefräßiger Miniaturhai verschluckte den Kiesel und fortan hatte er furchtbare Bauchschmerzen. Eine achtarmige Krake musste dem Hai zu Hilfe eilen und gemeinsam gelang es ihnen, den Kiesel aus dem Haifisch-Bauch zu entfernen. Es war dramatisch!

Irgendwann zu diesem Zeitpunkt musste es passiert sein: Der Kieselstein verschwand.

Als wir zum Bettgehen animierten, bestand Signorino auf den Kieselstein. Wir wischten die Idee erst weg. Ja, wir ignorierten auch seine lamentele (Klagen). Es war eine von mehreren, komplett nutzlosen Strategien, die wir Eltern anwandten. Als die Wehklagen immer lauter und immer eindringlicher wurden, beschwichtigten wir das Kind. Morgen würden wir einen anderen, ja, einen noch viel schöneren Kieselstein finden. „Nein!“, sagte Signorino. „Das ist unmöglich.“ Während dem Zähneputzen, dem „In-den-Schlafanzug-stecken“ und dem „Trink-nochmal-was“-Aufruf wurde er nicht müde zu erwähnen, dass er ohne den Kieselstein nicht einschlafen könne.

Natürlich hätten wir ein Machtwort sprechen können. Es ist ja nicht so, als ob wir diese Strategie in der Vergangenheit noch nicht durchgespielt hatten. Das Ergebnis war immer das gleiche: Der Prozess des Zubettgehens verlängerte sich um eine quälend lange Stunde, weil das Kind seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Ausdauernd brüllte und weinte er und nichts konnte ihn mehr beruhigen.

Der Römer und ich guckten uns an. „Ma stai scherzando! [Du machst Witze!]“, kommentierte der Römer meinen Blick. Dann seufzte er, denn schließlich wusste auch er, was der schnellste Weg aus der Kiestelstein-Misere war: Der vermaledeite Miniatur-Stein musste gefunden werden. Und so krochen wir auf allen Vieren unter dem Tisch umher, leuchteten mit den Handytaschenlampen unter die Couch und in die dazugehörigen Sofaritzen. Wir blickten unter den Teppich, unter Kommoden und auf Fensterbretter. Aber außer der Erkenntnis, dass wir dringend mal wieder Staub wischen sollten, konnten wir nichts finden. Das Kind war untröstlich.

Also wandte ich eine List an. Ich bat den Römer, weiterzusuchen und schlich mich auf den Balkon. Dieser wurde im letzten Spätherbst renoviert und es blieb allerhand kleinteiliger Bauschutt in der dazugehörigen Regenrinne hängen. Flink öffnete ich die Balkontür im Schlafanzug und kramte mit spitzen Fingern und im Licht der Taschenlampe in der Regenrinne. Ha! Gefunden. Ich hatte ein wunderbares, weißes Fassaden-Bauschutt-Krümelchen in der Hand.

Glücklich nahm ich es an mich, ging zurück ins Wohnzimmer, rief zum Schein ein „Im Schlafzimmer ist der Kiesel auch nicht“ in die Runde und platzierte den Kiesel links neben der Wohnzimmertür. „Oh! Da ist er ja! Endlich!“, rief ich und hielt den falschen Kieselstein nach oben. „Mein Kieselstein!!!“, rief das Kind überglücklich und fiel mir um den Hals.

Dann konnte das Kind recht zügig ins Bett gebracht werden. Dort angekommen, fielen ihm rasch die Äuglein zu. Noch im Halbschlaf murmelte das Kind: „Mama, morgen holen wir uns aber einen richtigen Kieselstein bei der Eisdiele.“ Dann schlief er ein.

Er hatte mich erwischt, aber immerhin schlief er.

*Werbung, unbezahlt und unbeauftragt

24 Kommentare

  1. Ich hoffe, ihr macht euch niemals lustig über das Kind, weil es seinen Kieselstein nicht wiedererkannte. Denn natürlich hat er die List durchschaut und wollte euch nur nicht länger quälen. Ich weiß das, weil ich Ähnliches als Kind erlebte, und wie schlimm ich es fand, dass meine Rücksichtnahme auf die Nerven der Mutter so übel belohnt wurde, denn man zog mich ein Leben damit auf. (In meinem Fall war es Rote Beete, die ich verabscheute, und als meine Mutter sie in Rote Rüben umtaufte, aß ich sie. Sie schmeckten scheußlich, aber ich wollte ihr nicht den Schmerz zufügen, wieder etwas nicht essen zu können.)

    Gefällt 2 Personen

    • Hm meine Oma fragte meine Mutter wieso ich keine Rote Bete esse.
      Was der Bauer nicht kennt isst er nicht.
      Heute weiß ich es könnte an der Fruktose liegen.
      Vermutlich hatte ich als Kind schon so Ahnungen.

      Like

      • heute esse ich rote Beete sehr gern, aber ganz anders zubereitet (wie Kartoffeln gekocht, gepellt, in Scheiben geschnitten mit Öl und Zitrone ind gehacktem Knoblauch. Sehr lecker.

        Gefällt 1 Person

      • Ich vertrage SIE definitiv nicht.
        Mit der Fruktoseintoleranz ist es nicht sehr einfach.
        Aber ich hab als Kind keine Äpfel gegessen.
        Und ich vermute da ist die Intoleranz auch nicht unschuldig dran. Kinder wossen was SIE vertrage und essen es dann gat nicht erst.

        Gefällt 1 Person

    • Wenn dann sollte sich Signorino über seine Mutter lustig machen, die denkt, das schlaue Kind mit so einem einfachen Trick überlisten zu können. 😄
      Das tat sicher weh! Als feinfühliges, empathisches, intelligentes Kind war das sicher nicht einfach zu verdauen.
      Besonders, wenn man danach noch aufgezogen wurde.
      Meine roten Beete hießen “Alles mit Essig”. Ich konnte nie Salat essen, was nicht bei allen Müttern von Schulfreundinnen gut ankam. So aß ich ihn, doch bei jedem Bissen musste ich das würgen unterdrücken. Als ich den Römer kennenlernte, lernte ich, dass man Salat auch nur mit Olivenöl und etwas Zitrone zubereiten kann. Seitdem esse ich ihn gerne.

      Gefällt 3 Personen

  2. Komisch mein Kiesel den ich heute mit nach Hause brachte ist mir gleich unters Sofa gerollt.
    Ich weiß schon mal wo ich suchen muss, wenn ich keine Steine mehr zum bemalen hab.
    🤣

    Gefällt 1 Person

  3. Das Drama mit dem Stein weckt bei mir Erinnerungen. Mein Sohn hatte einen besonderen Stein im Badeseen gefunden und mit diesem und etlichen anderen bei den Großeltern im Wohnzimmer gespielt und die Steine Abends vergessen. Die Oma hat die Steine ganz pragmatisch aus der Terrassentür ins Blumenbeet geworfen. Dumm nur, dass Abends vor dem Einschlafen (bei den anderen Großeltern) der besondere Stein schmerzlich vermisst wurde…. Großes Drama, das Kind damit beruhigt, dass der Stein sicher bei den Großeltern ist, Kind möchte unbedingt ein Beweisfoto, damit es schlafen kann.

    Der Opa hat also mit der Taschenlampe das Blumenbeet durchsucht und diesen besonderen Stein tatsächlich gefunden und konnte dann dem Drama durch das Beweisfoto ein Ende machen.

    Gefällt 1 Person

    • Was für ein toller Opa, liebe Kerstin. Ich kann es vor meinem geistigen Auge sehen, wie der Opa das Blumenbeet im Dunkeln absucht – und tatsächlich den Stein findet.
      Ich hoffe, ihr könnt mittlerweile darüber lachen!
      Mit Kindern findet man sich in Situationen wieder, die man sich nicht ausdenken kann. 😄
      Hab einen feinen Start ins Wochenende und liebe Grüße, Eva

      Like

Hinterlasse einen Kommentar