Kolosseum am Meer – das Rom-Tagebuch [Tag 1]

Dienstag, 23.08.2022

Der Römer und ich stehen früh auf, frühstücken, werfen eilig die letzten Dinge in den Koffer und wecken Signorino, der partout nicht aufstehen will. Irgendwann bequemt er sich dann doch dazu.

Während der Kleine frühstückt, flattern wir weiter durch die Wohnung, machen noch dies und das und werden uns dabei bewusst, dass wir unsere vier Wände in einem solch desolaten Zustand verlassen, dass es für einen potenziellen Einbrecher aussieht als wäre ihm bereits ein Einbrecher-Kollege zuvorgekommen. „Vielleicht ist das als Abschreckungstaktik gar nicht so schlecht.“, denke ich so bei mir und erinnere mich an die letzten Reisen. Die Wohnung sah in unserer Abreise-Vergangenheit nie anders aus. Es schien immer eine Mischung aus „Überstürzte Flucht“ und „Umzugschaos ohne Kartons“ zu sein. Also alles wie immer, wenn wir verreisen. Ich werte es als gutes Omen.

Als wir bereits den Zeitpunkt überschritten hatten loszukommen, bricht wie immer Hektik aus. Vollständige Sätze weichen Kommandos und so rufen wir durch die Wohnung: „Schatz! Schuhe!“ oder „Signorinos Flasche! Kinderrucksack!“. In aller letzter Minute schnappen wir uns das Kind und rennen mit dem Koffer zur S-Bahn. Auch das ist typisch für uns, auch das Werte ich als gutes Vorzeichen. Eher untypisch dagegen war die geordnete Abreise vor einer guten Woche. Dazu die aufgeräumte und geputzte Wohnung und das Gefühl alles im Griff zu haben. Nein, das war, wenn man so will, bereits ein schlechtes Zeichen. Demnach läuft unsere Abreise diesmal absolut nach Plan.

Am Flughafen Frankfurt kommen wir seltsamerweise mühelos an der Sicherheitskontrolle an. Kein einziger Passagier ist vor uns. Ich fühle mich fast ein wenig betrogen ob des üblichen Spieles einiger, weniger erfahrenen Fluggäste. Keiner zerrt ärgerlich und auf Aufforderung der Sicherheitskontrolleure seinen Gürtel aus der Hose. Keiner sortiert in absoluter Ruhe und Gelassenheit einzelne Flüssigkeitsbehälter, die wildverstreut im Rucksack durch die Gegend fliegen, in ein Plastikbeutelchen mit nur einem Liter Fassungsvermögen und keiner mault „Wie? Kleingeld muss auch aus den Hosentaschen?!“. Aber nun gut – es wird auch so gehen. In zwei Minuten sind wir durch die Kontrolle geschleust worden. Wie sagt man so schön? Jeder Beruf lehrt einem etwas. Mir lehrte das Flugbegleiter-Dasein, wie man sich schnell durch Sicherheitskontrollen bewegt und sich klug anzieht und klug packt. Bezeichnen Sie mich ruhig als einen Kontrollfreak, aber ich plane nur beim Fliegen haarklein, was ich anziehe und welche Frisur ich trage, um nicht zu piepen oder abgetastet zu werden.

Danach wartet die erste von vielen anstrengenden Etappen auf uns: Signorino möchte – bitte danke – zwei Stunden am Frankfurter Flughafen beschäftigt werden. Wir finden den Spielplatz mit der großen Flugzeugattrappe, der witzigerweise direkt neben dem „Relax-Bereich“ liegt. Ob das nun genial oder grotesk ist, weiß ich nicht. Ich kann Ihnen aber sagen, dass im Minutentakt Kinder von ihren Eltern vom Spielplatz gezerrt werden, um das Flugzeug noch zu erwischen und dies meist unter sehr lautem Geschrei in der Altersklasse 1-4 stattfindet. Viel Ruhe bekommen die Gäste des „Relax-Bereiches“ demnach nicht. Vielleicht ist der Bereich aber auch für alleinreisende Eltern und Eltern mit großen Kindern gedacht, damit sie erleichtert aufatmen können, denn dieses Geschrei stammt nicht von ihrem Ableger.

Signorino spielt ein bisschen auf dem Spielplatz, traut sich aber nicht in die Flugzeugattrappe. Generell will er nirgends ohne uns hin und so hat er immer einen von uns an der Hand. Der andere darf auf einer der Elternbänke sitzen. Sehr interessant: Auf der anderen Elternbank sitzt ein Englisch-Italienisches Elternpaar. Ich finde es spannend, einen sehr ähnlichen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Die Konstellation wirkt auf Distanz ganz anders und überaus faszinierend. Als Protagonistin einer bilingualen Familie kriegt man oft nicht mit wie das von Außen aussieht. Bei dieser Familie konnte man mit eindeutiger Sicherheit sagen, dass sie in Italien leben, da die Kinder der britischen Mutter nur auf Italienisch antworten und sie auch nur Italienisch mit ihrem Partner spricht. Unser Kind hingegen antwortet dem römischen Vater zu 90% nur auf Deutsch. Doch wer weiß? Vielleicht wird sich das durch den Rom-Urlaub ändern?

Nachdem wir das Kind vom Spielplatz, und am Ruhebereich vorbei, gezerrt haben, decken wir uns noch kulinarisch für die Reise ein. Brezeln, einen sehr guten Brownie und mein Lieblingssandwich mit gegrilltem Gemüse und Schafskäse später, gehen wir zum Flugzeug. Wobei nur zwei Personen gehen. Signorino möchte getragen werden. Wir tragen ihn zum Windeln wechseln, da es im Flugzeug äußerst unbequem ist, das Kind frisch zu bewindeln und schon folgt der Aufruf am Gate , dass Personen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind und Familien (die auch in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, wenn sie mit Kleinkind reisen) einsteigen dürfen. Wir kommen an Bord, die freundlichen Mitarbeiter*innen grüßen und fragen nach Signorinos Spielzeugwünschen. Ich schlage das Malbuch vor (seit ich bei dieser Airline 2015 anfing, ist das Kindersortiment das ewig Gleiche) und wir huschen zu unserem Platz. Sogleich sind alle Rucksäcke unter den Vordersitzen verstaut, das Tablet ist geladen, es kann los gehen.

Doch halt! So schnell geht es leider nicht. Natürlich dürfen auch noch die anderen Gäste einsteigen und so schieben sich Deutsche in Wanderstiefeln und sehr gemächliche Brasilianer*innen in den Airbus des Typus A320. Ich merke, wie mich alleine das Beobachten der immer knapper werdenden Gepäckfächer nervös werden lässt, doch ich beruhige mich, denn ich bin nicht im Dienst und muss die Situation nicht lösen. Lediglich das am Ende des Boarding-Vorgangs hereinstolpernde, amerikanische Ehepaar um die 70 lässt meinen Puls noch einmal ansteigen. Hinter sich ziehen sie zwei Schrankkoffer her, die in etwa so groß sind wie unser zuvor aufgegebenes Gepäckstück. Alleine die überdimensionalen Räder dieser beiden monströsen Gepäckstücke erreichen vermutlich bereits die von der Airline vorgegeben 8 Kilo für Handgepäck. Ich versuche, der Situation keine Beachtung zu schenken, aber das Schicksal macht es mir nicht leicht, denn das amerikanische Paar sitzt genau hinter uns. Und so starren sie und ich die Gepäckfächer an und sie finden keinen Platz für ihr Überseegepäck. Gleichzeitig schwillt die Neugier in mir an, denn ich frage mich, wie und besonders wo die Flugbegleiter-Kollegin diese beiden Monstren verstauen will. Zumal die Türen bereits geschlossen und in „Flight“ sind. Das bedeutet: Diese Türen werden vor Rom auch nicht mehr geöffnet. Ein zartes, fein zurecht gemachtes Geschöpf in der obligatorischen, dunkelblauen Uniform schwebt herbei und mit einer Engelsgeduld schiebt und rückt sie Gepäckstücke umher, bis sie ein komplettes Overhead-Bin ausgegraben hat und dort die amerikanischen Koffer versenkt. Diese Meisterleistung bleibt von allen, selbst von den Besitzern der Koffer, unbemerkt. Aber in Gedanken verbeuge ich mich vor der Kollegin. Das ist ganz großes Tennis!

Die Lautsprecher knacken: Der Kapitän stellt sich vor, wobei er sofort erwähnt, dass einige Gäste diesen Flug leider nicht rechtzeitig erreichen konnten – im Gegensatz zu ihrem Gepäck, dass bereits verladen im Gepäckraum weilt. Da Gepäck aus Sicherheitsgründen nicht ohne Besitzer:in reisen darf, werden die fleißigen Gepäckabfertiger diese Koffer suchen, finden und ausladen. Besagtes Suchen, Finden und Ausladen dauert eine Stunde, die wir im Flugzeug verbringen. Wer meint, dass sich die am Flughafen verbrachte Wartezeit von zwei Stunden mit Kleinkind zog wie Kaugummi, der irrt. Eine Stunde in einem Flugzeug, dass sich nicht bewegt und in dem das Kleinkind förmlich an den Mittelplatz gebunden ist, zieht sich in eine so unendliche Länge, dass es vermutlich keinen adäquaten Ausdruck dafür gibt. Wir starten unser elterliches Unterhaltungsprogramm, damit unser Nachwuchs brav sitzen bleibt und geben dabei alles. Wirklich alles. Danach bin ich vollkommen nass geschwitzt. Meine linke Hand zittert. Es fühlt sich an als hätte ich den Mount Everest bestiegen – und zwar nur mit einem Paar Flipflops, wobei bei einem der beiden Badelatschen der Riemen gerissen ist und man mit seinem großen Zeh und dem danebenliegenden Zeh versucht, diesen verfluchten Riemen an Ort und Stelle zu halten, was aber natürlich nicht gelingt, denn er rutscht ständig raus, während man auf Schnee und Eis herumschlittert. Als wir endlich losrollen, schläft das Kind ein. Ich atme tief durch und lehne mich erschöpft ans Fenster. Und alle sagen, die Geburt des Kindes wäre echt heftig. Hätte mir mal einer gesagt, dass das ein Klacks ist im Vergleich zum Verreisen mit Kleinkind.

Blöderweise bin ich jetzt zu aufgedreht, um einzunicken. Vor mir bemerke ich zwei Jungs im Grundschulalter. Brav aufgereiht sitzen sie auf dem Fenster- und Mittelplatz. Am Gangplatz liest ihre Mutter eine Frauenzeitschrift, während die Kinder sich wahlweise langweilen oder ihre Kinderzeitschrift lesen. Alles läuft sehr gesittet ab. Ich schließe die Jungs gleich ins Herz, weil es zwei aufgeweckte, überaus witzige Kerlchen sind. Als wir in etwa auf der Höhe Mailands sind, unterbricht der Co-Pilot unser schnödes Warten auf die Ankunft in Rom und erzählt uns etwas über den Flug. Als erstes verkündet er, dass wir bereits im italienischen Luftraum sind. Die beiden Grundschüler vor mir rasten aus vor Freude und müssen ihren Vater, der auf dem gegenüberliegenden Gangplatz sitzt, mit einem „PAPA!!!! Wir sind in Italien!!! Italien!! Juhuuu!“ informieren. Die beiden sind so drollig, ich könnte sie knuddeln.

Als wir etwa auf Höhe der Toskana sind und all die vorgelagerten Inseln begutachten können, unterhalten sich die beiden kleinen Brüder.

„Aha. Das ist also Rom.“, sagt der Große sehr fachmännisch und zeigt auf eine kleine Küstenstadt am Meer. Gegenüber thront Elba. Der Kleine, der dem Großen in nichts nachstehen will, drängt sich dicht neben ihn. „Ja, richtig. Da ist das Kolosseum.“, stellt der Kleine fest. Ich gucke ebenfalls aus dem Fenster und muss schmunzeln. Diese Stadt am Meer ist alles, aber nicht Rom. „Mama, Anton sagt, da ist Rom.“, informiert der Kleine die Mutter. „Hm… schaut nochmal genau. Rom ist schon eine sehr große Stadt.“, spricht die Mutter. „Anton, Mama sagt, du sollst nochmal genau schauen. Das muss eine große Stadt sein.“, erklärt der Kleine dem großen Bruder keck. „Ja, da lege ich mich fest. Das ist Rom. Ich sehe auch das Kolosseum.“, spricht der Große voller Überzeugung. „Juhuuu! Rom!“, schreit der Kleine. Vielleicht hätte die Mutter den Kindern sagen sollen, dass der Flughafen durchaus nahe zum Meer liegt, die Stadt aber ganz und gar nicht? Doch die beiden haben eine solche Freude mit ihrer falschen Erkenntnis, dass diese beinahe ansteckend ist. Wir fliegen noch weitere 20-25 Minuten, dann sind wir da. Unser Signorino schläft immer noch. Auch, als der Römer ihn im Aussteigeprozess auf den Arm nimmt, döst er noch vor sich hin. Erst im Flughafengebäude wacht er auf und wundert sich etwas, was ihn aber nicht davon abhält, gleich auf den Boden zu wollen und davon zu düsen. „Rolltreppe!!“, ruft er euphorisch und läuft auf das Laufband zu. „Andiamo Rolltreppe!! [Gehen wir zur Rolltreppe!!]“, informiert er seinen römischen Papa, der ihm hinterherhechtet. Ich wundere mich hingegen, dass das Kind plötzlich Italienisch spricht.

Bei der Gepäckausgabe angekommen dauert es etwas. Signorino und ich warten auf dem kleinen Spielplatz. Das Kind ist, dank des Schläfchens im Flugzeug, vollständig aufgeladen und turnt überall herum. Dabei ruft er alle paar Sekunden „MAMA!!! MAMAAAA!!“. Zum Glück kommt unser Gepäckstück rasch an, so dass wir zum Zug gehen können. Der Weg dorthin ist echt lang geworden. Aufzug – Laufband – Laufband – Laufband – Laufband. Signorino ist im Glück. Auf dem Koffer thronend, hält er sich am Gestänge des selbigen fest und lässt sich von Laufband zu Laufband kutschieren, was er immer wieder mit seinen „Andiamo Laufband!“-Rufen unterstreicht. Schlussendlich sitzen wir im Zug und lassen uns allesamt durch die Gegend schaukeln. Signorino will gerne im Zug herumlaufen. Wir haben einige, sehr ernste Diskussionen und er findet uns Eltern fürchterlich, was er lautstark äußert. Ich atme viel in den Bauch hinein, um mich zu beruhigen. Als wir am Bahnhof Trastevere ankommen, wollen wir die Tram 8 nehmen, doch diese operiert momentan nicht, so dass wir den Autobus 8 nehmen. Auch gut. Wir quetschen uns in den Bus. Das Kind kreischt panisch auf als ich ihn auf einen leeren Sitzplatz setzen will. Schlussendlich setzen wir ihn wieder auf unseren Übersee-Koffer und stemmen uns mit unserem Körpergewicht dagegen, damit das Gepäckstück nicht mitsamt Kind umfällt.

Endlich kommen wir an der Unterkunft an. Das Vermieter-Pärchen erwartet uns und erklärt uns alles in einer sehr langatmigen Infoveranstaltung. Wir nicken viel, stellen keine Fragen, damit diese Veranstaltung nicht unnötigerweise in die Länge gezogen wird und schließen die Türe am Ende hinter uns zu. Der Römer schwankt zum Bett und legt sich schweratmend auf selbiges. „Oh dio! [Oh Gott!]“, spricht er ganz leise und jämmerlich. Er sieht aus wie das Betttuch: kalkweiß. „Ich habe einen Migräneanfall. Ich dachte, ich werde ohnmächtig, während sie redeten.“, murmelt der Gatte. Ich hole Wasser, zuckrige Snacks und mache einen Kaffee. Das Kind steigt derweil die wohnungsinterne Wendeltreppe hoch und runter. „Andiamo hoch. [Gehen wir hoch.]“, informiert der kleine Kerl uns, um danach „Andiamo ‚unter.“ zu rufen. Ich versuche den Römer wieder aufzupäppeln und frage, ob es so schlimm ist, dass wir einen Arzt brauchen. „No, no, es geht schon wieder.“, spricht er und ich halte ihm einen feuchten Lappen in den Nacken. Wieder ertönt ein „Andiamo hoch.“ mit glockenheller Stimme und der Kleine stampft die Treppe hoch. Mühsam steht der Römer auf und holt sich eine Migräne-Tablette aus seinem Rucksack. Dann schwankt er an Signorino vorbei, hoch ins Bad, und bleibt dort 10 Minuten. Mir erscheint die lange Zeit komisch und so frage ich kurz nach, ob alles ok ist. „Si, si. [Ja, ja.]“, antwortet der Gatte und scheint etwas vitaler zu sein. Kurz darauf kommt er zurück und sieht nur noch mittelblass aus. „Wollen wir Pizza holen?“, will er von mir wissen. „Klar, soll ich gehen?“, hake ich nach. „Andiamo pizza!!!“, ruft der Kleine und hechtet eilig zur Tür. Anscheinend gehen wir alle zusammen. Wir machen noch ein Foto des Tür-PINs und gehen los. Eine bunte Auswahl an Pizzastücken später, erklimmen wir die drei Stockwerke zu unserer Ferienwohnung. Einen Aufzug gibt es nicht. Der Römer schleppt die Pizza. Ich schleppe Signorino, der ab dem 1. Stock nicht mehr gehen mag. Oben angekommen gibt der Römer den Türcode ein, es piept, es blinkt, doch nichts geschieht. Wieder und wieder gibt er den immergleichen PIN ein, die Tür klackt ein Mal kurz, nur um sich dann wieder nicht zu öffnen. Wir rütteln an der Tür, geben noch zehn weiter Male den Code vom Foto ein, doch es bewegt sich nichts. Signorino zerrt an meiner Hand, denn er will wieder nach unten gehen. Wir gehen ein halbes Stockwerk nach unten, dann ruft das Kind „Andiamo hoch. [Gehen wir hoch!]“ und wir tapsen wieder nach oben. Beim Hochgehen bemerke ich all die Schilder, die auf Englisch und Italienisch den geneigten Gast dazu anhalten, bitte im Treppenhaus RUHE!! zu geben. Signorino brüllt durchs Treppenhaus, lacht, ruft „Pizza! Pizza!“ und „Andiamo ‚unter!“. Immer wieder piept die PIN-Anlage der Tür, doch sie bleibt verschlossen. Man hört Geräusche aus der gegenüberliegenden Wohnung, auf der ein weiteres, knallrotes Schild mit weißer Schrift „SILENCE!!!“kreischt. Rasch wird diese aufgezogen. Eine ernste Frau mit rotem Haar und strengem Blick steht mit ihrem Hund in dieser und starrt uns an….

[Fortsetzung folgt]

Jahresresümee 2021

Wie jedes Jahr beginne ich den letzten Tag des Jahres mit meinem Lieblingszitat für die Jahreswende:

For last year’s words belong to last year’s language. And next year’s words await another voice. And to make an end is to make a beginning. [T.S. Eliot]

Gute Ausblicke für 2022.

Und hier kommt der Jahresrückblick 2021

1. Ganz grob auf einer Skala von 1 bis 10: Wie war Dein Jahr? Eine 5. Wobei ich momentan sagen kann: Etwas graust es mir schon vor dem neuen Jahr. Und das liegt nicht an dem allseits beliebten Thema Corona.


2. Zugenommen oder abgenommen? Ich wiege mich seit diesem Sommer nicht mehr, da die Batterien der Waage leer sind und ich seit Monaten vergesse, neue zu kaufen. Laut der Jeans, die ich aktuell trage, würde ich sagen gleichbleibend (+ 2 Weihnachtsflugkilos).

3. Haare länger oder kürzer? Länger – dank Corona und allen möglichen Veränderungen, stört es mich nicht besonders, wieder recht lange Haare zu haben. Ich trage meist einen Pferdeschwanz und damit fahre ich gut.

4. Kurzsichtiger oder weitsichtiger? Gleichbleibend schlecht. Eventuell ein wenig schlechter auf dem rechten Auge. Das müsste ich 2022 überprüfen lassen.


5. Mehr Kohle oder weniger? Erst deutlich weniger, gegen Mitte des Jahres deutlich mehr.

6. Besseren Job oder schlechteren? Zum Teil einen anderen Job, wenn der Ausgangspunkt ist, dass Signorino letztes Jahr mein einziger Job war. Ich bin mittlerweile froh, wieder einige Stunden arbeiten zu können.


7. Mehr ausgegeben oder weniger? Vermutlich mehr. Siehe Punkt 14.

8. Dieses Jahr etwas gewonnen und wenn, was? Einen Kita-Platz. Zwei neue Arbeitgeber (1xRömer, 1xIch). Die Erkenntnis, dass Wochenend-Reisen mit einem knapp 2-jährigen total anstrengend sind. Die Erkenntnis, dass es deutlich entspannter als jeder Wochenend-Trip ist, wenn der Römer und ich zeitgleich frei haben, aber das Kind in die Kita geht. Ich war selten so erholt wie in diesen drei Tagen Anfang Dezember.


9. Mehr bewegt oder weniger? Mit einem Kleinkind rennt man recht viel. Deswegen vermutlich mehr. Jetzt, wo er nicht mehr ganz so wild ist, eher weniger. Aber die Laufrad-Saison fängt bald an. Und hier läuft nicht nur das Kind, sondern auch die besorgten Eltern, vermute ich.


10. Anzahl der Erkrankungen dieses Jahr? Eine heftige (siehe Codice Rossoc Punkt 11). Dazwischen ein paar Mal Schnupfen.

11. Davon war für Dich die Schlimmste? Meine Codice Rosso Erkrankung. Bei Signorino war es diese hier.


12. Der hirnrissigste Plan? Die letzte Nacht in Albanien nicht im Hotel zu verbringen.

13. Die gefährlichste Unternehmung? Mir fällt keine ein.

14. Die teuerste Anschaffung? Keine Anschaffung im eigentlichen Sinn, aber vermutlich der Umzug mit all seinen Kosten (Neuanschaffungen, Umzugskosten, Renovierungakosten, etc.). Wobei die Autoreparatur ebenso eine Stange Geld gekostet hat. Als dann beides zusammenkam, sah unser Sparkonto etwas mager aus.


15. Das leckerste Essen? Vom Römer selbstgekocht. Wobei ich letztens im Seefeld* war. Das war auch klasse und der Service ist top!

16. Das beeindruckendste Buch? Robert Seethaler: Der Traffikant*. Wenn Fische fliegen lernen von der lieben Lore*. Ich fieberte jede Sekunde mit. Und vielleicht: Was man von hier aus sehen kann – Mariana Leky*. Aber generell kam ich nicht wirklich zum Lesen.

17. Der ergreifendste Film? Keinen. Signorino ging wie immer so spät ins Bett, dass für Filme keine Zeit blieb.

18. Der beste Song? Wir hören hauptsächlich Signorinos Liederauswahl. Sehr schön und durch ihn entdeckt, finde ich die Gruppe Haevn*. Und Andrea Bocelli, der mit seinem Sohn „Fall on me“* singt.


19. Das schönste Konzert? Okay, den Punkt sparen wir uns – wie immer.

20. Die meiste Zeit verbracht mit? Signorino, dem Römer, vermutlich Turtle.


21. Die schönste Zeit verbracht mit? Signorino, der Römer, Turtle.

22. Zum ersten Mal getan? Kita Eingewöhnung. Neue Reifen gekauft (ging ganz einfach).

23. Nach langer Zeit wieder getan? In einem Büro gearbeitet. Ein Studium aufgenommen. Prüfungen geschrieben.

24. Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen? Viel Privates.


25. Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte? Das Leben ist lebenswert. Egal wie.

26. Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe? Puh, da müsste man diesen „jemand“ fragen.

27. Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat? Vermutlich die Wohnung, in der wir nun wohnen, die Turtle uns sehr unkompliziert verschafft hat.

28. Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat? Das Kind schläft. 😉 Oder einfach der Ausruf “Mama!”.


29. Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe? Keine Ahnung, da müsste man wohl die anderen Personen fragen.


30. Dein Wort des Jahres? Neue Wohnung.

31. Dein Unwort des Jahres? Unverändert: Corona Virus. Werkstattkosten. Nembutal.

In diesem Sinne: Bleiben Sie gesund, liebe Leser, und rutschen Sie entspannt ins neue Jahr 2022. 🥂💛

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Römische Spaziergänge und der beste Espresso Trasteveres

Was im Sommer für eine willkommene Abkühlung sorgt, ist im Herbst etwas unangenehm. Der Wind, der in den Nachmittagsstunden in Rom weht und meist bis zum Abend durchhält, ist im Herbst eiskalt.

Wir gingen trotzdem spazieren. Wie das gestern aussah, zeige ich Ihnen auf den nächsten Bildern:

Blick auf den Tiber Richtung Vatikan
Piazza Venezia. Wenn die Blase drückt, sorgen zwei Dixie-Klos für Abhilfe. Tipp für alle Eltern mit Kleinkindern und Babys: Kinderwagentechnisch sehr anspruchsvoll zu navigieren.
Nachdem wir das Überqueren der achtspurigen Straße vollständig überlebt haben, durften wir diese nächtliche Aussicht genießen.

Zeitsprung – Samstagnachmittag. Der römische Gatte hat kurzfristig einen Friseurtermin bei Alessandro ergattert. Was für ein Glück für uns beide! Der Römer sieht morgens nicht mehr aus wie ein Schaf und braucht keine 25 Minuten (!) mehr im Bad, um seine Haare so zu stylen, dass er aussieht wie ein Römer und nicht wie ein Paarhufer.

Signorino schläft, fand es aber unerhört, dass seine Mutter ihn zum Schlafen zwang. „Das Leben ist eine Reise, Mutter! Nun lass mich doch das mediterrane Leben mit jeder Zelle aufsaugen. Ein Mittagsschlaf wäre eine Zeit- und Ressourcenverschwendung.“, hätte er vermutlich gesagt, wenn er sprechen könnte. So aber wurde ich mit einem „Nein! Nein! Nein! Hoppa Hoppa Reiter! Yeah! Yeah! Yeah!“, belehrt. Dennoch gewann ich in meiner Funktion als Mutter den Kampf. Das Kind schläft und ich tippe.

Haben Sie schon einmal so einen kleinen To-Go-Becher gesehen? Ich noch nie! Der Römer behauptet, die würde es in Deutschland an jeder Ecke geben.
Hier ist was los! Die Piazza Navona lief heute Vormittag förmlich über an Touristen.
Hier sieht es nach weniger Menschen aus, aber in Wirklichkeit glich der Menschenauflauf
einem geschäftigen Ameisenhaufen.
Blick Richtung Vatikan. Auch hier spürt man den Herbst aufziehen.
Via del Mattonato, Trastevere. Nein, hier ist wahrlich kein Bildbearbeitungsprogramm nötig, so verschwenderisch und intensiv sind die Farben in dieser Straße.
„Das ist der beste Espresso Trasteveres!“, lobte der Römer heute den Barista seiner Lieblingsbar „Bar del Cinque“. Ob dem wirklich so ist? Probieren Sie es aus! Ich finde den Caffè weltklasse. Wie ich gestern erwähnte, er schmeckt nach flüssiger Schokolade und Nuss

P.S. Heute ist der letzte Tag des alten Jahres für den Römer und mich. Was ich damit meine, erkläre ich Ihnen morgen. 😉

Autofahren mit der „ADESSO!!-Methode“

Ich weiß nicht, ob „ADESSO!“ in den engen Gassen des römischen Stadtviertels Trastevere funktioniert, aber ich weiß, dass „ADESSO!“ definitiv nicht auf den getakteten Straßen Frankfurts funktioniert. „ADESSO!!“ bedeutete nämlich nicht nur „JETZT!!“, sondern auch, dass ich auf der linken Spur der zweispurigen Fahrbahn abbremsen musste und mühsam versuchte, mich mit der Familienkutsche auf die rechte Spur zu hieven. Das alles geschah im dichten Feierabendverkehr Frankfurts, denn die Vorstädter wollten zurück in ihre Vorstädte und Familie Farniente wollte nach Alt-Heddernheim. Dabei brauche ich Ihnen nicht zu erklären, dass die hinter mir fahrenden Autos aufgeregt hupten und die dazugehörigen Fahrer ekstatisch mit den Händen fuchtelten. Das taten sie in etwa so, als wären sie anmutige Flamenco-Tänzer*innen. Allein der grimmige, teils schreiende Gesichtsausdruck passte nicht in das anmutige Bild, das mir beim Begriff Flamenco-Tänzer*in in den Kopf kommt. Auch die Vehikel der rechten Spur, auf die ich übersetzen wollte, zeigten sich wenig angetan von meinem spontanen Einfall, ihre Spur benutzen zu wollen. Da wir zu diesem Zeitpunkt bereits die dritte Ausfahrt mit der „ADESSO!!“-Methode verpasst hatten, musste ich jetzt in den sauren Apfel beißen und mich als miserabler Autofahrer outen. Dabei war es absolut nicht meine Schuld, denn hätte ich einen ordentlichen Lotsen, hätte er mindestens 500 Meter vorher Bescheid gegeben, dass ich mich rechts halten solle. Doch wenn ich mich auf eine Eigenschaft des Römers verlassen konnte, dann war es, dass das Adverb „vorausschauend“ ein ihm gänzlich unbekanntes ist. Dabei bildete seine Tätigkeit als temporärer Straßenlotse keinerlei Ausnahme. Seit jeher navigierte er nach der „ADESSO!“-Methode. Soll die Fahrerin der Farniente’schen Familienkutsche doch gucken, wo sie bleibt. Frei nach dem Motto: „Man lebt im Hier und Jetzt. Also lotst man auch im Hier und Jetzt.“

Glücklicherweise hatte irgendwann einer der anderen Autofahrer Erbarmen (oder aber ihm platzte die Hutschnur bei der Ansicht des von mir kreierten Staus), so dass er mir die Chance gab, mich in die rechte Spur einzufädeln. Der Römer saß währenddessen entspannt und breitbeinig auf dem Beifahrersitz und mampfte zufrieden einen Schokoriegel, der sich in meiner Snack-Schublade der Mittelkonsole befand. Ich schwitzte derweil Blut und Wasser. Mein Herzschlag schlug im Takt schneller Techno-Beats. Hastig bedankte ich mich bei dem zuvorkommenden Autofahrer und fuhr geduckt und beschämt nach Alt-Heddernheim ein. Wer meint, der Ort sei ein verträumtes, hessisches Dorf irgendwo im Taunus, der irrt sich nicht ganz. Es ist durchaus ein alteingesessener Stadtteil Frankfurts, in dem, da lege ich mich fest, ganz sicher hessisch gebabbelt (=gesprochen) wird. Auch die Architektur sieht nicht mehr als maximal drei Familien in einem Haus vor.

Nicht mein Auto, aber Ibrahims Vehikel in den Straßen Tiranas.

Wer davon ausgeht, dass die anschließende Fahrt im verträumten Alt-Heddernheim reibungslos ablief, den muss ich leider an dieser Stelle enttäuschen. Mein gewagtes Manöver um nach Heddernheim zu kommen, war anscheinend nur die Pflicht. Die Kür sollte erst noch folgen. Das wusste ich zum damaligen Zeitpunkt zum Glück nicht, sonst hätte ich das Familienauto abgestellt und wäre die acht Kilometer (immer die Eschersheimer Landstraße entlang Richtung Innenstadt) heimgestiefelt. Der Clou in Alt-Heddernheim ist nämlich – verzeihen Sie, liebe Heddernheimer – der kleinstädtische Charakter, der sich in einem Labyrinth aus Sträßchen, Gassen und Winkeln niederschlägt. Zumindest beschrieb der mit der Navigation restlos überforderte Gatte diesen Stadtteil so. Ein Labyrinth – oder mit den Worten des Römers: „‚sto labirinto di merda“ [dieses Sch*iß-Labyrinth]. So trug es sich zu, dass wir spätestens alle 50 Meter abbiegen mussten. Doch wohin? Ja, das wusste der Lotse auch nicht. „Aspetta…[Warte…]“, fing jede Antwort auf meine Aufforderung der dringlichen Wegbeschreibung an. An mir sollte es nicht liegen. Ich konnte warten. Doch die Alt-Heddernheimer Autofahrer, die zu Scharen in den verwinkelten Gassen unterwegs waren und hinter der „blöden Stadttussi mit der Sonnenbrille“ hinterher tuckern mussten, hatten für das stotternde Navigationsvermögen des römischen Gatten keinerlei Verständnis. So begann ich aus der Not heraus meine Weg-Entscheidungen selber zu treffen. Der Gatte zoomte, fluchte und aktualisierte immer wieder die digitale Karte auf seinem Handy. Zu unserem Unglück war nur jede fünfte meiner Entscheidungen richtig getroffen und so irrten wir durch die Wirren Alt-Heddernheims. Irgendwann fuhr ich schweißnass rechts ran, stellte mich an einen Bürgersteig der 1001 Gassen und lehnte meinen dröhnenden Kopf gegen das Lenkrad. Das Kind quakte von der Rücksitzbank, der Römer aktualisierte immer noch die digitale Straßenkarte und ich wäre am liebsten auf die Rücksitzbank gekrochen, was leider nicht ging, denn der Mann verfügt immer noch über keinen, hier anerkannten Führerschein. Doch in diesem Moment meiner absoluten Resignation sprach der Gatte ein: „Eccoci qui! [Hier sind wir!] Wir stehen genau vor der richtigen Tür.

Mühsam hob ich meinen schweren Kopf, blinzelte hinter meiner Sonnenbrille hervor und sah ein Fachwerkhaus.

Ich wollte dem Römer diese Information nicht recht glauben, aber anscheinend waren wir richtig. Wir standen, wie durch eine göttliche Fügung, vor der gewünschten Adresse. Schwerfällig quälte ich mich aus dem Fahrersitz, schnappte mir den Umschlag, den ich abzuliefern hatte und schlich mit zitternden Beinen zum Haus mit der Nummer 10. Dass meine Beine so kraftlos und wabbelig waren, verwunderte nicht. Schließlich habe ich seit 40 Minuten meine komplette Beinmuskulatur krampfhaft angespannt. Auch meine Nackenmuskulatur konnte von diesem K(r)ampf ein Liedchen singen. Ich warf den Umschlag mit unserem neuen Wohnungsschlüssel in den Briefkasten des von der Hausverwaltung beauftragen Baudekorateurs und schlürfte wieder zum Auto. Hätte ich vorher gewusst, wie katastrophal anstrengend eine neun Kilometer Fahrt in Frankfurt werden würde, ich hätte dem Baudekorateur am Telefon gesagt, dass wir uns an die drei großen Löcher in der Wand sicher gewöhnen werden. Mangels Betreuung Signorinos (aufgrund der Kitaferien), schlug ich ihm jedoch vor, ihm „mal eben“ die Schlüssel vorbeizufahren. „Heddernheim? Gar kein Problem. Das ist ein Klacks.“, sprach ich selbstbewusst ins Telefon. Ebenso gut hätte er Kinshasa, die Hauptstadt der demokratischen Republik Kongo, als Wohnort nennen können. Vermutlich wäre die Fahrt dorthin auch nicht anstrengender geworden. Eventuell nur langwieriger.

Leider war die Adresse des Baudekorateurs nur ein Zwischenstopp und nicht das finale Ziel. Es gab noch eine weitere Etappe auf der Tour de Francfort: Unsere neue Wohnung. Der Kofferraum des Autos war vollgepackt mit Kartons, die wir von unserem aktuellen Keller in den neuen transferieren wollten. Die Kartons wieder in der alten Wohnung abzusetzen, stellte für mich keine Option dar. Munter flötete der Römer ein “Non ti preoccupare! [Keine Sorge!] Ich navigiere dich.” Aber genau diese Drohung seinerseits bereitete mir große Sorgen. „Besser nicht.“, antwortete ich knapp und so höflich wie man eben einen Zweiwortsatz betonen konnte. Trotzig guckte mich der Römer von der Beifahrerseite an, legte sein Mobiltelefon mit der geöffneten Straßenkarten-App auf die Mittelkonsole des Autos und verschränkte gekränkt seine Arme. „Pah! Vedi tu! [Pah! Schau halt du!]“, murmelte er und starrte in die entgegengesetzte Richtung aus dem Beifahrerfenster.

Nichts leichter als das. Ich schnappte mir sein Handy, schaute mir die Stadtkarte an und hatte danach eine ungefähre Vorstellung wie wir zur neuen Wohnung kommen würden. “Sicher verfährst du dich.”, trat der Römer nach und zupfte sich einen Fussel von seinem dunkelblauen Hemd. Ich hob abschätzig meine linke Augenbraue und gab ihm sein Telefon zurück. “Selbst wenn, miserabler als die Hinfahrt kann es nicht werden.”, konterte ich und lachte süffisant auf. Der römische Blick streifte kampfbereit den Meinen. Doch er entschied sich dazu, zu schweigen und in seinem Mobiltelefon sinnlos auf- und abzuscrollen. Konzentriert schlängelte ich mich aus dem Gassengewirr Alt-Heddernheims heraus. Das dauerte einige Zeit, aber immerhin schrie niemand völlig inkorrekte Anweisungen in mein rechtes Ohr. Aha, da sah ich auch schon die große Hauptstraße von der wir kamen. Ich bog ab und hatte das Glück, dass mir ein dottergelbes Straßenschild anbot, mir den Weg zum Frankfurter Palmengarten zu weisen. Der Palmengarten befindet sich immerhin in der ungefähren Ecke der Stadt, in der wir die Kartons abladen wollten. Dankbar nahm ich das Angebot der Frankfurter Straßenverkehrsbehörde an. Als wir unterhalb des Ginnheimer Spargels (= Europaturm) vorbeifuhren, wusste ich, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Das angenehme an den Straßenschildern, die den Weg säumten, war, dass keines von ihnen völlig aufgeregt „ADESSO!!“ brüllte. Vielmehr kündigten sie – weit bevor ich mich einordnen musste – an, dass ich bei der nächsten Kreuzung abbiegen sollte. Vorbei am Senckenbergmuseum bog ich nach links ab und steuerte auf den Frankfurter Hauptbahnhof zu. Der Römer saß immer noch missmutig auf seinem Lotsensitz und beobachtete aus dem Augenwinkel jede meiner Bewegungen. Signorino quakte einmal kurz und der Römer reichte ihm eine Flasche Wasser nach hinten. Vielleicht war das seine Berufung? Der Kabinenservice klappte in diesem Auto nämlich phänomenal. Angekommen auf der großen Landstraße Richtung Griesheim waren es nur noch wenige hundert Meter bis wir am Ziel waren. Ich wollte in die Hofeinfahrt des neuen Wohnhauses einfahren, doch da sah ich, dass das Tor verschlossen war. Hastig würgte ich den Motor ab, eilte zum Hoftor und versuchte es zu öffnen. Doch es bewegte sich, trotz mehrmaligen Rütteln, keinen Zentimeter. “Der Hausschlüssel muss doch in dieses dumme Tor passen!!”, murmelte ich, doch dem Haustürschlüssel und dem Hoftor war das egal. Sie kooperierten kein bisschen. Mittlerweile streckte der Römer seinen Lockenkopf aus dem Beifahrerfenster. “Ti serve aiuto? [Brauchst du Hilfe?]“, wollte er wissen und ich schüttelte den Kopf. “Danke, geht schon.”, krakelte ich zurück und verzweifelte dabei immer noch an diesem blöden Schloss. Eine Minute später schwang sich der römische Gatte galant aus dem Auto. Die Steinchen unter seinen Lederschuhen knirschten auf dem Gehsteig. “Dai, amore! Ti aiuto. [Komm schon, Schatz! Ich helfe dir.]”, sprach er verständnisvoll. Zähneknirschend überreichte ich ihm den Schlüssel. Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde war das Tor offen. “Wie hast du das denn gemacht?”, sprach ich völlig fassungslos. Er grinste keck: “Mit Gefühl und Empathie öffnet sich jedes Tor.” Dann zwinkerte er mir zu. Ich guckte immer noch verdutzt aus der Wäsche. “Fahr schon mal rein, ich schließe das Tor nach dir ab.”, schlug der Gatte mir vor. Und so tat ich wie mir geheißen. Verwundert fuhr ich durch das verwunschene Tor, dass sich unter meiner Hand partout nicht öffnen ließ. “Anfängerglück.”, dachte ich. Doch nach einer viertel Stunde in der neuen Wohnung – die Kartons waren alle verstaut – gelang es dem Römer abermals mühelos das trotzige Tor zu öffnen. Ich bestand darauf, es zumindest schließen zu wollen und scheiterte wieder kläglich. “Sag mal, wie schwer kann es denn sein, so ein dämliches Tor zu schließen?! Irgendetwas ist kaputt.”, moserte ich als ich zurück ins Auto kam und das Tor immer noch sperrangelweit offen stand. Der Römer stieg ruhig aus, schlenderte zum Tor und drehte den Schlüssel in einer flüssigen Bewegung um 360 Grad. Zack. Zu war’s, das Burgtor. “Das ist doch nicht dein Ernst!!”, ächzte ich. “Wenn’s darauf ankommt, weiß ich eben wie’s geht. Wozu brauchst du einen Lotsen, wenn du noch nicht einmal das Tor aufbekommst, um das Auto herauszufahren?„, ärgerte er mich. Diesmal schwieg ich, denn auf diesen Satz fiel mir partout keine Antwort ein.

Alle Wege führen nach Rom

Es war ein Monat voller Auf und Abs, voller italienischer Flüche und Beschimpfungen (seitens des Römers) und dämlichen Kommentaren (meinerseits). Doch am letzten Sonntag gab es ein Happy End, das mehr als nötig und – zugegeben – das Mindeste nach diesen entbehrungsreichen und emotionsgeladenen Wochen war.

So cool wie dieses Kissen in Saudi Arabien war der Römer nicht immer während der EM.

Alles begann am 11.06.. Gli Azzuri (ital. Nationalmannschaft) eröffneten die Fußball-Europameisterschaft im Spiel gegen die Türkei. Das geschah in keiner geringeren Stadt als Rom. Natürlich musste der Römer diesem Event, wenn schon nicht live vor Ort, dann immerhin vor dem Frankfurter Fernseher, beiwohnen. Andrea Bocelli schmetterte ein beeindruckendes „Nessun dorma“ [Niemand schläft] und Signorino, der vermutlich sein größter Fan ist, nahm diese Anweisung sehr ernst. An schlafen war nicht zu denken. Nach dem Anstoß feuerte der Römer mit all seinem Herzblut die italienische Nationalmannschaft an als ginge es um sein Leben. Doch das Verhältnis zwischen den azzuri und dem Römer war von Anfang an sehr ambivalent. In einem Moment schaute er ihnen verzückt zu. Ähnlich einer Mutter, die ihr Kleinkind bei den ersten Gehversuchen anhimmelte. Doch schon im nächsten Moment fluchte und beschimpfte er den Spieler Insigne als „Coglione„. Immobile wurde kurz darauf mit den Worten „Muoviti!!!“ [Beweg dich!] angeschrien. Ich, absolut uninteressiert an sämtlichen Fußballspielen, egal ob EM oder WM, konnte mir den nüchternen Witz „Ich glaube, das wird nichts. Schließlich heißt er Immobile (unbeweglich).“ nicht verkneifen. Für diesen Kommentar erntete ich einen bitterbösen Blick. Am Ende wurde aus Immobile doch noch Mobile [beweglich] und er schoss ein Tor. Als ich in die Küche ging und in die weite Leere des Kühlschranks starrte, dachte ich so bei mir: „Noch vier Wochen halte ich das nicht aus! Hoffentlich erledigt sich das schnell mit Italien, Deutschland und ja, auch mit Nordmazedonien.“

„Nordmazedonien?“, werden Sie sich fragen und die Frage ist durchaus berechtigt, denn auch ich war etwas verwundert. Ja, Nordmazedonien wurde kurzerhand vom Römer als dritte, präferierte Mannschaft adoptiert, da dort einige, albanischstämmige Spieler verkehrten. Familie verpflichtet eben.

Am 13.06. beschimpfte der österreichische Nationalspieler Arnautovic den albanischstämmigen Spieler Ezgjan Alioski. Wobei beschimpfen ein zu hoch gegriffenes Wort wäre. Er verkündete viel mehr die albanische Mutter des jungen Herrn Alioski physisch beim Beischlaf begleiten zu wollen. Ganz unschuldig war Alioski dabei nicht, provozierte er doch gerne und oft. Man möchte dazu verleitet sein, zu behaupten, dass Provozieren eine durchaus albanische Eigenschaft sei, aber das empfände ich als unangebrachtes Klischee. Vielmehr wird es ein reiner Zufall sein, dass auch mein römischer Gatte albanischer Abstammung gerne und oft provoziert und dies eine Familientradition zwischen den mannigfachen Brüdern zu sein scheint.

Übrigens: Ob die Mutter des jungen Herrn Alioski das Angebot des Herrn Arnautovic angenommen hat, darüber ist bis heute nichts bekannt. Einzig die Tatsache, dass Nordmazedonien in diesem Spiel gegen Österreich verlor, wurde recht schnell publik.

Am 15.06. spielte Deutschland gegen Frankreich. Ich feierte überschwänglich, dass Deutschland nach nur zwanzig Minuten ein Tor schoss und das auch noch von Mats Hummels, einem der wenigen Spieler, die ich noch kannte. Vorab las ich in der Boulevardpresse, dass sich seine Gattin ein Tor zum Hochzeitstag von ihrem Mats gewünscht hatte. Was waren wir in diesem Moment glücklich, die Hummel’sche Gattin und ich. Leider klärte der Römer mich mit düsterer Miene auf, dass Herr Hummels ein Eigentor erzielte. Was das über die Ehe der Hummels aussagte, darüber lässt sich wohl nur mutmaßen.

Unsere Ehe blieb von diesem Eigentor unberührt. Jedoch war die Hummel’sche Aktion eine einzige Katastrophe für den Römer, war er doch gerade erst dieses Jahr zum Deutschland-Fan mutiert. Und das gezwungenermaßen, da er einen deutschen Sohn hat. Dessen alleinige Existenz verlangte vom Römer, dass er die tedeschi [Deutschen] anfeuern musste. Familie verpflichtet eben. Auch wenn die Landsmänner der Familie miserabel spielten und das einzige Tor ein Eigentor bleiben sollte.

Am 16.06. gewann Italien -bumsfallera- gegen die Schweiz, was bei uns – mal wieder – zu einem kulturellen und seelischen Konflikt führte. Dazu muss ich etwas ausholen: Der Römer fühlt sich zum Großteil als Römer. Um es mit einem Prozentsatz auszudrücken, würde ich hier einen Richtwert von 75% angeben. Somit verbleiben 25% Albanertum, die aber deutlich schwerer aufwiegen (und deutlich dominanter sind), als das Italienertum. So kam es, dass (gefühlt) die halbe Schweizer Mannschaft aus Albanern bestand. Gegen die eigene Familie wettern geht nun eben auch nicht! Also saß er mit Bauchkrämpfen da und wusste nicht so recht, ob er sich bei den drei Toren der Italiener freuen sollte oder lieber nicht. Er war förmlich zerrissen zwischen seinem Vaterland und seiner Heimat, dass es eine einzige Tortur war, ihm nur dabei zuzusehen. Am Ende gewann Italien. Der Sieg war bittersüß und wurde wortwörtlich mit einem lachenden und einem weinenden Auge gefeiert.

Am 17.06. bemerkte der Römer beim Spiel Nordmazedonien gegen die Ukraine wie anstrengend es war, drei Teams anfeuern zu müssen und guckte sich das Spiel weitestgehend emotionslos an. Fortan machte er mit sich selbst aus, dass zwei Herzen in der Brust, das deutsche und das italienische, schon mehr als genug wären. Bei drei Herzen würde am Ende nur sein Kreislauf versagen. Damit wäre schließlich auch keiner Mannschaft geholfen. Der Gatte schaltete schweren Herzens ab, als Ezgjan Alioski ein Tor erzielte. Vermutlich lag es auch daran, dass ich aus dem Schlafzimmer laut brüllte, einen Windelunfall zu haben, was bei uns Alarmstufe Rot glich. Wie auch immer, ab diesem Spiel hatte er nur noch zwei Herzen. Doch auch das sollte sich bald ändern.

Am 20.06. gewann Italien gegen Wales. Pessina schoss ein Tor. Der Tag war gerettet. Als ich das Spiel sah und laut überlegte, ob Chiesa mit seiner hellen Haut wohl ein Wintertyp sei, denn das kräftige azurblau stand ihm ganz ausgezeichnet, wurde ich mit einem römischen Blick abgestraft. Eine satte, gelbe Karte gab es für meinen Kommentar, wenn man den römischen Blicken trauen durfte. Doch unter uns: Nach etlichen anderen Spielen, die ich gelangweilt mitverfolgte, war ich mir beinahe zu 100% sicher, dass Chiesa der klassische Wintertyp sei, was bedeutete, dass ihm ebenso ein kühles Rosa exzellent zu Gesicht stehen würde. Oder mit anderen Worten: Er dürfte sich in meinem kompletten Kleiderschrank austoben, denn auch ich zähle zu den kräftigen Wintertypen. Aber bei seinem Gehalt hat er vermutlich keine Stippvisite in meinem Kleiderschrank nötig.

Am 23.06. spielte Deutschland gegen Ungarn und ich fragte mich, ob András Schäfer, der in der 68. Minute ein Tor schoss, deutsche Wurzeln hatte. Vermutlich! Herausgefunden habe ich es bis heute nicht, aber was ich herausfand, war, dass er 1999 geboren wurde. Folglich ist er, laut meiner Zeitrechnung, in etwa so alt wie ein 14jähriger Lehrbub. Auf alle Fälle ist er sehr, sehr jung, um professionell Fußball zu spielen. Der Römer winkte bei meinen Ausführungen ab und beschimpfte Hummels als – Sie ahnen es – coglione. Hummels kümmerte das wenig und er stümperte unbeirrt weiter. Anscheinend war er die Gallionsfigur der deutschen Nationalmannschaft, denn der Rest, außer Goretzka, tat es ihm nach.

Am 26.06. gewannen die azzuri gegen Österreich und Chiesa, mit seinem winterlichen Hauttyp, machte ein Tor. Die Stimmung bei uns daheim war ausgelassen. Ein wenig färbten meine unqualifizierten Kommentare wohl auf den Römer ab, denn in der 88. Minute sagte er: „Donnarumma? Ma che cognome è? [Donnarumma? Aber was ist das denn für ein Nachname?]“, dann lachte er laut und schallend. Ich guckte ihn streng an, denn anscheinend hatten wir die Rollen getauscht und ich wollte ihn, als fußballbegeisterte Römerin, nicht enttäuschen.

Am 29.06. verlor Deutschland gegen England und der Römer war außer sich. Nicht etwa, weil die Engländer gewannen, denn sie spielten wirklich sehr gut. Nein, viel mehr, weil seine Deutschen genau in diesem Jahr, wo er zum Deutschland Fan mutieren musste, so bescheiden spielten. „Meglio di non giocare invece di giocare così. [Es ist besser, nicht zu spielen, als SO zu spielen.]„, brüllte er seinen Ärger den Deutschen hinterher. Er war bitter enttäuscht und schüttelte immer wieder grimmig den Kopf. Doch immerhin, seine azzuri waren noch im Spiel. Wie sich später herausstellen sollte, rächten sie sich bei England für das, was sie den Deutschen angetan hatten. Doch ein Gutes hatte das Ausscheiden der Deutschen: Dem Römer wurde deutlich leichter ums Herz. Er konnte sich voll und ganz auf eine einzige Mannschaft konzentrieren. Ich malte mir aus, was passieren würde, wenn die Italiener nicht den Europa-Pokal mit nach Hause nehmen würden und mir wurde ganz blümerant. Nein, einen traurigen Römer konnte ich einen Tag, vielleicht einen zweiten, aber garantiert keinen dritten Tag oder gar eine Woche ertragen. Ich sah mich gezwungen, nun Partei für die Italiener zu ergreifen – meinem Mann zu Liebe. Wie gesagt, Familie verpflichtet.

Am 02.07. feuerte ich die azzuri an, als ginge es um mein Leben. Mein Gott, gewinnt dieses blöde Spiel und wenn möglich auch gleich den dazugehörigen Pokal, damit der Römer zufrieden ist und nicht wie ein angeschossener Trauerkloß tagelang durch die Wohnung schleicht. Gleichzeitig wunderte sich der Römer etwas über meine plötzlich entflammte Leidenschaft für das Fußballspiel, aber wenn es helfen sollte, dass sie den Pokal nach Rom fliegen würden, war mir jedes Mittel Recht. Ein Glück gewannen sie gegen Belgien. Puh! Ein leichtes Aufatmen ging durch das Hause Farniente.

In etwa so würde der Römer durchs Haus schleichen, sollten alle Stricke reißen.

Am 06.07. wurde die Partie zwischen Spanien und Italien ausgespielt. Der winterliche Chiesa schoss ein Tor und ich hätte ihm am liebsten einen schwarzen Rollkragenpulli geschickt (und notfalls eigenhändig gestrickt), denn das würde seine zarte Haut besonders schön zur Geltung bringen. Der Mann fand diesen Vorschlag mehr als daneben. Würde ich auch, wenn schwarz nicht meine Farbe wäre. Am Ende gewann Italien und stand somit gegen England im Finale. Ich wurde ganz kribbelig und die Tage zogen sich wie Kaugummi.

Am 11.07. war es dann soweit. Die Engländer waren im „Bring it home“-Modus, aber sie rechneten nicht mit dem Satz: „Alle Wege führen nach Rom.“ So auch dieser. Die Italiener wurden beim Singen der Hymne ausgebuht, was ich mehr als unsportlich fand. Doch mit voller Inbrunst sangen sie die, wie ich finde, schönste Nationalhymne der EM. In Minute zwei wurde der Himmel über Rom vermutlich zappenduster, denn Shaw erdreistete sich doch tatsächlich, ein Tor zu schießen. Ich hakte den EM Titel für Italien ab und sah den Römer bereits mit hängenden Schultern und Mundwinkeln die Woche bestreiten. Zu meiner Verwunderung grinste der Römer jedoch. Nein, nein, denn spätestens JETZT wäre der Jagdinstinkt der Italiener erst richtig geweckt worden, erklärte er mir. Zudem sei Londra, nein Londinium, nichts anderes als eine römische Siedlung gewesen. Damit hatten die Briten zwar von den ganz Großen gelernt, könnten diese aber bei weitem nicht übertrumpfen. Ich war mir da nicht so sicher. Der Römer setzte fort, dass er sein neues Paar butterweicher Edeltreter darauf wetten würde, dass die azzuri den Pokal heimbringen würden. Darauf hätte ich persönlich nicht gewettet, ganz besonders nicht, wenn Sie, so wie ich, den horrenden Preis dieser sündhaft teuren Lederschuhe kennen würden. Doch Bonucci, vermutlich auch ein Luxusschuh-Liebhaber, lochte in der 67. Minute ein. Der Römer schrie vor Glück, wurde dann aber umgehend von mir gemaßregelt, denn das Kind schlief bereits tief und fest. Er nickte verständnisvoll grinsend. Italien anzufeuern sei die eine Sache, das Kind aufzuwecken eine ganz andere. Etwa zwanzig Minuten vor Schluss, feuerte ich meinen letzten, doofen Witz dieser Europa-Meisterschaft 2021 ab. „Amore, secondo te [deiner Meinung nach], wer gewinnt die EM?„, fragte ich den römischen Gatten. „Italia!!!“, behauptet der Römer mit voller Inbrunst. Nach einer kurzen Pause, wollte er schließlich von mir wissen, wen ich als Gewinner sähe. Ich grinste belustigt: „Verratt-i dir nicht.“ Dann lachte ich schallend. Der Römer rollte genervt mit den Augen bei meiner plumpen Anspielung auf den italienischen Spieler Marco Verratti.

Nach diesem aufregenden Spiel und dem Elfmeterschießen stand es dann fest: „It’s coming Rome!“ Italien gewann die Fußball Europameisterschaft 2021.

Der Himmel hing voller Geigen. Die Ehre der deutschen Mannschaft haben die Italiener wieder hergestellt.

Was am 11.06.2021 im Stadio Olimpico in Rom begann, endete mit einer Reihe jubelnder und grinsender Nationalspieler, die den Europapokal am 12.07.2021 in den strahlenden Morgenhimmel Roms streckten, als sie mit dem Alitalia Flug AZ9001 am römischen Flughafen Leonardo da Vinci wie Könige empfangen wurden. Die beiden Schauplätze, das Stadium und der Flughafen Rom, trennen geografisch nur 23,3 Kilometer. Zeitlich lag nur ein Monat zwischen dem ersten und dem letzten Spiel der Europameisterschaft. Und doch liegen zwischen Siegern und Besiegten oft Welten.

Die Treuekarte war’s

Hätte ich wachsamer sein sollen? Wäre es dann vermeidbar gewesen? War es vielleicht d o c h mein Kommentar letztens, der den schlussendlichen Impuls gab? Oder habe ich die Zeichen der letzten Monate und Wochen falsch gedeutet oder sogar ignoriert?

Wahrscheinlich letzteres. Jetzt, wo der Römer es mir klipp und klar ins Gesicht gesagt hat, wird mir einiges klar.

Er sprach’s an einem Mittwoch – einfach so am Frühstückstisch – aus. Irgendwo zwischen Marmeladenbrot und caffé , zwischen La Repubblica und balkanweb nuschelte er eine doch so bedeutsame Information in seinen Tablet-Computer: „Ich habe nächste Woche einen Termin beim Einbürgerungsamt. Ich werde Deutscher.“ gefolgt von einem betroffenen „Oh nein, in Tirana ist ein 30jähriger beim Versuch die Straße zu überqueren schwer verletzt worden.“

„Bitte was?!“ fragte ich völlig perplex nach und senkte abrupt die Tasse, aus der ich gerade trinken wollte.

„Ein 30jähriger ist in Tirana zusammengefahren worden und ins Krankenhaus gebracht worden. Poveraccio! [Armer Kerl!]“ wiederholte er abwesend und biss in einen halbmondförmigen Keks.

„Nein! Nicht das. Das ist unwichtig. Also, nicht für ihn. Tragisch – irgendwie. Aber was hast du davor gesagt?“ wollte ich nervös wissen – und meine Sätze ließen keinen logischen Aufbau mehr erkennen.

„Ach so, ich werde Deutscher. Du musst mir nur noch etwas unterschreiben und ich brauch deinen Ausweis nächsten Mittwoch für ein bis zwei Stunden.“ bemerkte er wieder nebenbei, so als ob er das jede Woche machen würde und es keiner weiteren Erklärung bedarf. Dann setzte er fort „Ah, Lazio ha vinto 3-1 contra il Borussia Dortmund. Bravi!“ [Ah, Lazio hat gegen Borussia Dortmund 3 zu 1 gewonnen! Gut gemacht!]

„Maaaaan! Kannst du mal bitte dein Tablet zur Seite legen und ordentlich mit mir reden.“ fauchte ich, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ mich gegen die Rückenlehne des Stuhls sinken.

„Si, amore mio. Dimmi! [Ja, mein Schatz. Sag’s mir!] lächelte er mich an und legte das Tablet demonstrativ zur Seite.

„Du willst also Deutscher werden?“ Meine Stimme überschlug sich fast. „Nachdem du dich mit Händen und Füßen jahrzehntelang gewährt hast Italiener zu werden und jedes Mal etwas von Verrat am Vaterland murmeltest, wirst du jetzt Deutscher? Du hast in keinem Land so viele Jahre – ach was – Jahrzehnte gelebt wie in Italien. Aber klar, die logische Schlussfolgerung ist natürlich, Deutscher zu werden. Und noch dazu erwähnt man das zwischen Toast und Kaffee ganz nebenbei als würde es um den Termin des Heizungsablesers gehen.“ fasste ich zusammen.

„Si, esatto! [Ja, genau] Ich habe mir viele Gedanken gemacht. Ma questa volta non ho una scelta. [Aber dieses Mal habe ich keine Wahl]. È per il bene della mia famiglia. [Es ist zum Wohl meiner Familie]. Manchmal muss ein Mann eben tun, was ein Mann tun muss.“ erklärte er ernst und mit fester Stimme. „Aha.“ antwortete ich knapp. „Ma non vuoi sapere perché? [Aber willst du nicht wissen warum?] hakte er nach. „Du wirst es mir schon erzählen, wenn du dich bereit dazu fühlst.“ gab ich betont lässig zurück und platzte fast vor Neugier. Den Gefallen wollte ich ihm nicht tun, dass sich mal wieder seine Annahme „la curiosità è donna“ [Die Neugier ist weiblich] bestätigte. „Allora, ti dico perché.“ [Also, ich sag’ dir warum] fing er hochtragend an. „Signorino und du seid beide Deutsche. Wir leben in Deutschland, zahlen Steuern, arbeiten und überhaupt – mein Sohn ist hier geboren. Da sehe ich es als meine absolute Pflicht auch mitzubestimmen, in welchem Deutschland mein Sohn groß wird. Ich möchte wählen – für die Zukunft meines Sohnes.“

„Oh bitte nicht!“ entfuhr es mir plötzlich. Der Römer blitzte mich an. „Entschuldige, aber jemand, der die AfD wählen wollte, weil er dachte, dass die Partei „AntiFascista Deutschland“ [Antifaschist Deutschland] heißt, sollte besser nicht wählen. Oder, lass es mich anders ausdrücken: Bevor die Wahlen sind, werde ich dir eine Liste von möglichen, NORMALEN Parteien zusammenstellen – inklusive ihrem Wahlprogramm!“ Der politisch sehr interessierte Römer sprang sofort darauf an: „Era UNA VOLTA! UNA VOLTA! [Das war EIN MAL! EIN MAL!] Und ich habe erst seit kurzem in Deutschland gelebt und sprach kein Wort Deutsch. Natürlich wähle ich so eine dämliche Partei nicht! Non sono matto! [Ich bin doch nicht verrückt]“ Er strich sich eine im Affekt wildgewordene, dunkle Locke aus der Stirn, die während seiner Brandrede aufbegehrte. „Außerdem möchte ich nicht allein im Ausland festsitzen, wenn alle Deutschen evakuiert werden, nur weil ihr die richtige „Mitgliedskarte“ habt. Du glaubt doch wohl nicht, dass mich Edi Rama [der Ministerpräsident Albaniens] in Madagaskar rettet.“

„Auf…. auf Madagaskar. Es ist eine Insel.“ gab ich besserwisserisch preis und wusste, dass ich ihn damit jedes Mal wieder auf die Palme brachte. „Aber gut, ich verstehe deinen Gedankengang. Noch eine letzte Frage: Hast du es dir wirklich gut überlegt?“ Er guckte mich mit festem Blick an und sagte nur „Si!“ – mehr nicht.

Später am Nachmittag, ich ging mit Signorino spazieren, fragte ich mich, wann dieser, sein, Gedanke anfing. Jahrzehntelang lebte er in Rom, doch wollte weder mitbestimmen, noch wählen. Es wäre ein leichtes gewesen, Italiener zu werden, doch er fand es nicht lohnenswert. Ich grübelte bei frischer, kalter Luft am Main.

„Die Treuekarte war’s!“ schoss es mir durch den Kopf. „Damit fing alles an. Aber na klar doch! Ich bestand 2016 darauf, dass er diese dämliche Treuekarte überall benutzt. Zwei Jahre dauerte es bis er es verinnerlicht hat. Nun benutzt er Coupons für 6fach Punkte, erinnert mich an der Tankstelle daran, meine Bonuskarte unbedingt abscannen zu lassen und löst die Punkte für rostfreie Kartoffelstampfer und Joggingstirnlampen ein.“ Ich seufzte und Signorino machte sich bemerkbar, dass er gerne etwas trinken würde. An einer Parkbank machten wir Rast und ich gab ihm seine Flasche. Zwei Nordic Walker (nicht Hubsi und Schnupsi) stöckelten vorbei. „Die Kehrtwende wäre vielleicht noch möglich gewesen, als er die Joggingstirnlampe bestellt hatte. Aber ich habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Wer -in ganz Rom, ach was Italien – hat bitte eine Joggingstirnlampe? Da hätte mir doch (im wahrsten Sinne des Wortes) ein Licht aufgehen müssen. Mittlerweile findet er Outdoor Kleidung „praktisch“. Praktisch – das Wort gibt es in Italien überhaupt nicht im Zusammenhang mit Mode und Ästhetik! Letztens hatte er sogar eine Outdoor Jacke in der Hand – mit dem berühmten Tatzenmuster. Früher machte er sich noch lustig darüber….“ Ich schüttelte ungläubig den Kopf.

In der Zwischenzeit gab mir Signorino zu verstehen, dass er nicht mehr durstig war. Gleichzeitig verlangte er aber nach einer Maiswaffel. Geduldig gab ich sie ihm in sein Patschehändchen. Er quiekte vor Freude.

„Was kommt als nächstes? Reist er in Trekkinghosen mit abnehmbaren Beinen nach Rom? Hat er dann dazu passende Wander-Sandalen an? Er, der feine Römer! Muss er diese Auflage vielleicht sogar unterschreiben, wenn er den deutschen Pass haben will?“ Ich stellte mir den Römer im hellblauen Maßhemd, beiger Cargohose und Sandalen mit Tennissocken vor und musste dabei laut lachen. Signorino lachte mit. Kichernd reichte ich ihm die nächste Waffel. „Dein Papa wird Deutscher.“ sagte ich und Signorino lachte laut auf. „Ja, ich kann es auch nicht glauben. Aber klar, die Anzeichen waren da. Wie war das noch, im August, als wir in Rom waren und es ihm an der Supermarkt Kasse nicht schnell genug ging? Das sonst so von ihm geschätzte Geplauder zwischen Kassierer und Kunden ging ihm auf die Nerven – obwohl er im Urlaub war. Was sagte er noch gleich? Die sollen nicht soviel plaudern, die sollen arbeiten. Wahrscheinlich wollte ich diese Anzeichen einfach nicht sehen.“ Signorino nieste und ein Stück Waffel flog durch die Luft. Ich hob es auf und mir kam ein neuer Gedanke: „Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige, sagte er letztens. Ich wurde etwas stutzig und fragte nur, wo er das denn aufgeschnappt hat. In der Arbeit, war seine knappe Antwort. Wahrscheinlich war es ein Prozess wie er langsam aber sicher radikalisiert wurde. Dolce Vita gegen Deutsche Vita. Oder wie er sich letztens lautstark an der Kasse des hiesigen Sportgeschäfts beschwerte, weil der junge Mann vor ihm nicht rechtzeitig den Geldbeutel und die Treuekarte bereit hielt. Er wartete bis er dazu aufgefordert wurde und suchte dann in aller Seelenruhe in seinem Portmonee nach beiden Karten, fand aber nur die Bonuskarte und wollte dann wiederum mit Bargeld bezahlen, was dann zu weiteren Verzögerungen führte, weil die Kassiererin den Kauf erst abbrechen musste. Das weiß ich doch vorher, wann ich an der Reihe bin. Wenn noch mindestens zwei Kunden vor mir sind, lege ich mir bereits die gleich benötigten Karten zurecht. Der Typ ist sicher auch jedes Jahr von Weihnachten überrascht, pöbelte er und ich wurde etwas rot, weil er es auf Deutsch sagte.“

Signorino hatte fertig geknuspert und wir setzten unseren Spaziergang fort. „Generell Deutsch. Jedes zweite Wort ist Deutsch. Letzte Woche nach seinen Patienten gefragt, antwortete er, dass er sia einfache Patienten sia schwierige Patienten [sowohl einfache Patienten als auch schwierige Patienten] hatte. Vorgestern bereitete er Signorino mit den Worten „Ab ins Bett!“ vor. Auf Deutsch! Total verrückt. Als wir uns über sein Heimatland Albanien unterhielten beschwerte er sich, dass die Bevölkerung nicht effizient genug sei. Ständig sitzen sie im Café und brauchen drei Stunden für einen Espresso. Die sollen gefälligst arbeiten!“

Als wir 20 Minuten später daheim ankamen, duftete es nach würziger Tomatensoße. Fedez sang irgendeines seiner Lieder im italienischen Radio und der Römer brüllte auf albanisch ins Telefon. Die Küche sah aus als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Dort hing auch sein frisch gewaschenes, hellblaues Maßhemd auf einem Kleiderbügel am Vorratsschrank. Ein Tomatensoßen Spritzer machte es sich bereits darauf gemütlich. Ich tippte dem Römer auf die Schulter und zeigte ihm das Malheur. Er riss dich Augen weit auf – entschuldigte sich am Telefon und legte hastig auf. „Oh dio mio! No! Non è vero! Madre mia!!!! È un incubo! Porca miseria!“ [Oh mein Gott! Nein! Das ist nicht wahr! Madre mia!!!! Das ist ein Albtraum! Heilige Sch**ße!] Er gestikulierte wild.

Ich machte mich daran unter lauten, panischen Rufen des Römers den Fleck zu bearbeiten. Er war verzweifelt und brachte das so herrlich italienisch auf den Punkt.

Nach 10 Minuten und einem halben Liter Gallseife war der Fleck weg. Und ich atmete erleichtert auf. Nicht etwa, weil der Fleck verschwunden war, sondern weil ER wieder da war: Mein Römer! Die Gefahr ihn bald in Trekkinghosen, Karohemd und Sandalen zu sehen, schätze ich mittlerweile als gering ein. Denn – egal mit welcher Staatsbürgerschaft – manche Dinge ändern sich eben nie.

[Er lässt ausrichten, dass es gar nicht so dramatisch sei, denn schließlich sei Signorino ja Albaner. „Ein Albaner in der Familie reicht um als ordentliche, albanische Familie zu gelten.“ Na dann, shume urime! [herzlichen Glückwunsch!]]

Si – am Arsc*

Bitte tun Sie mir den Gefallen und verurteilen Sie mich nicht auch noch. Ich fühle mich schon von ganz allein vom Schicksal betrogen. Wie ich nur ein Jahr später auf dem Boden herumkrieche und mit einem Tischstaubsauger glutenfreie Bio Maisstangen und Demeter zertifizierte Reiswaffeln mit Apfel-Mango Pulver einsauge, schäme ich mich über meine oft gehässigen Kommentare über die weit verbreitete Helikopter-Elternstaffel.

Wissen Sie, man macht sich so lange über Eltern lustig bis man selbst Kinder hat. Dann lacht sich das Schicksal ins Fäustchen und guckt mit einer großen Tüte Popcorn zu wie man so wird wie „die anderen“.

Plötzlich unterhält man sich über die Farbe und Beschaffenheit des Baby Stuhlgangs – während man isst. Man backt zuckerfreie Waffeln auf Bananenbasis (gar nicht mal so schlecht!) und jedes mal, wenn man in seinem chemie- und schadstofffreien Universum hockt und selbst gekochte Gemüsebällchen vom TÜV zertifizierten Babyhochstuhl schrubbt, steht der Römer hinter einem und sagt Schokolade kauend: „Als ob deine und meine Eltern so viel Aufwand betrieben hätten wie du! Bei all den Kindern wäre das auch gar nicht gegangen. Abgesehen davon hätte meine Mutter auch gar keine Zeit gehabt für solche Spielereien. Abbiamo mangiato la pappa – e basta. [Wir haben Brei gegessen – und das war’s] Wer den nicht wollte, der hat Pech gehabt. Irgendwann isst das Kind schon, wenn es Hunger hat.“

Ich blicke vom Boden auf, nachdem ich die Jagd nach dem letzten Krümel beendet habe und lasse den Staubsauger aufheulen. Das sollte Antwort genug sein. Doch der Römer verstand meine Drohung nicht.

Veramente, amore! [Wirklich, Schatz!] Wir sind so übervorsichtig. È assurdo! [Das ist absurd] Wir sollten uns einfach mal entspannen. Ganz besonders du, elicottera. [Helikopterfrau]“ setzt er seinen unerwünschten Monolog fort.

„Ok. Danke.“ antworte ich knapp und überprüfe nochmal, ob das Babyphone auch wirklich an ist.

„Zum Beispiel auch mit diesem Babyphone in unserer kleinen Wohnung. Sowas gab es bei uns gar nicht. Irgendeiner hat mich dann schon gehört, wenn ich laut genug geschrien habe. Wir versklaven uns für Signorino. O in altre parole: è troppo! [Oder mit anderen Worten: Es ist zu viel!]“ erklärt er – immer noch Schokolade kauend.

„Hm…“ gebe ich zurück. Durch das ständige Hinterherrennen und Verbote aussprechen an Signorino habe ich keine Energie mehr mich zu langen und breiten Diskussionen hinreißen zu lassen.

„Nein….Nein…Nein…Nein…Nein….Da…Da.“ tönt es aus dem Babyphone. Signorino ist wach. „Ah siehst du! Un’altra cosa! [Eine andere Sache!] Das erste Wort unseres Kindes ist nein, weil es das den ganzen Tag von dir hört. Vielleicht solltest du deine Sätze etwas positiver formulieren.“ kommentiert der Römer weiter und isst schlussendlich das letzte Stück Schokolade der Packung. Er knüllt das bunte Papier zusammen und versucht es in den Mülleimer zu werfen. Es gelingt ihm und er ruft laut jubelnd: „Siiiiiii!“

„Si am Arsch.“ murmle ich und gehe – genervt von seinen Ratschlägen – zu Signorino um ihn aus dem Bettchen zu befreien.

„Scusa? [Entschuldige?]“ fragt der Römer, doch ich war bereits im Schlafzimmer und auf meinem Erziehungsratgeber Ohr taub.

Später, am Nachmittag, gehen wir einkaufen, nachdem wir den Spaziergang mit Signorino beendet haben. Angekommen im großen Supermarkt begutachte ich das Gemüse. Ich greife nach einer Avocado und der Römer fragt mich, ob diese für Signorino sei. „Ja, ist im Angebot.“ gebe ich in den Einkauf vertieft zurück.

„BIST DU VERRÜCKT?!?!“ überschlägt sich seine Stimme. Ich gucke ihn irritiert an. „Die ist doch gar nicht BIO?!?!“ spricht’s, nimmt sie mir aus der Hand und legt sie zurück. „Damit kann gerne eine andere Mutter ihr Kind vergiften, aber nicht du. Du bringst den kleinen Kerl noch um.“ sagt er und fährt mit Signorino im Buggy schnurstracks in die Bio Abteilung. Dort zieht er sein selbst mitgebrachtes Obstnetz aus Bio-Baumwolle aus der Jackentasche und füllt unter allergrößtem Argwohn gegenüber den anderen Gemüsesorten eine Avocado ein. „Seit wann hast du ein eigenes Obstnetz?“ frage ich entgeistert. „Ach das….“ sagt er und denkt, ich würde nicht weiter nachhaken. Aber nicht mit mir, mein Freund! Nach einigen Sekunden des sinnfreien Herumstotterns, platzt es aus ihm heraus: „Ich bin einfach kein Fan davon, wenn das Gemüse meines Sohnes mit Plastik in Berührung kommt. È troppo pericoloso.[Das ist viel zu gefährlich] Da habe ich kein gutes Gefühl dabei. Wenn wir schon nicht regional kaufen, dann wenigstens bio!“

Ich grinse nur und sage: „Also mit diesem Obstnetz für unseren Sohn… Das hätte es früher bei uns nicht gegeben. Deine Mutter hätte das sicher nicht mitgemacht bei euch Kindern und -bei aller Liebe- wir sind so übervorsichtig, das ist doch ABSURD! Assurdo!! Wo wäre sie denn da hingekommen, wenn jeder ein eigenes Obstnetz gehabt hätte? Und BIO!!! Also nein, wir versklaven uns doch für unseren Sohn. Du solltest dich mal entspannen. Einfach mal alles ein bisschen sportlicher sehen. Und vielleicht solltest du auch einmal positiver auf andere Gemüsesorten und Anbauweisen herangehen. Du bist in letzter Zeit so negativ.“

Er funkelt mich an und setzt seinen Einkauf fort. Wir sprechen kein Wort, nur Signorino tönt „Nein, nein, nein, da, da, da.“ durch die Gänge.

„Zahlst du oder zahl ich, elicottero?“ frage ich ihn provozierend an der Kasse. Er rümpft nur seine Nase und holt seinen Geldbeutel heraus. „Und die Treuekarte nicht vergessen! Diese Woche gibt es achtfach Punkte.“ flöte ich. Er verdreht genervt die Augen und verstaut eine Packung Bio Maiswaffeln – demeter zertifiziert.

Daheim angekommen ruft er in Albanien an. Erstaunlich oft hört man das Wort „bio“ aus seinem Mund und dem Mund seiner Mutter. Als er auflegt, kommt er triumphierend auf mich zu: „Ha! Vedi! [Siehst du!] Alles war bio!“ Fragend blicke ich von Signorinos angekauten Bauklötzchen auf. „Ich habe gerade mit meiner Mutter telefoniert und alles war bio. Nur Obst und Gemüse aus eigenem Anbau bekam ich damals. Alles war frisch geerntet aus Omas Garten.“ erklärt er. „Aha. Na dann.“ gebe ich wenig interessiert zurück. „Ich wollte es dir nur sagen, weil du mich elicottero genannt hast. Und das bin ich nicht.“ weist er mich auf mein „Vergehen“ hin.

Ich lege einen Holzwürfel zur Seite, hole tief Luft und erkläre dann: „Schatz, nun sind wir doch mal ehrlich: Wir sind beide elicotteri – aus dem einfachen Grund, weil Signorino unser erstes und einziges Kind ist. Wir haben keinerlei Erfahrung und wollen alles perfekt machen. Hätten wir hier noch zwei andere Kinder herumhüpfen, wäre die Zeit auch deutlicher knapper um sich über solche Details Gedanken zu machen. Einigen wir uns einfach darauf, dass jeder von uns – auf unterschiedliche Art und Weise – ein elicottero ist.“

Va bene! [In Ordnung] Aber du etwas mehr.“ merkt er an. Wir müssen beide lachen. „Wenn du dich damit besser fühlst: sehr gerne!“ stimme ich zu.

Für echte Römer m/w/d

Müde lächelnd lese ich einen sogenannten Lifestyle Blog. Die Überschrift des neuesten Artikels heißt: „Home away from home.“ Ich bekomme Pickel bei soviel schlechtem Marketing. Berichtet wird über ein x-beliebig austauschbares Hotel, das es erst seit kurzem gibt und gekennzeichnet wird der Artikel mit *Werbung (gesponsert).

Ich klappe den Laptop zu und schüttle den Kopf. „Home away from home…wie lächerlich.“ murmle ich und der Römer, der mit mir am großen Esstisch sitzt, guckt mich fragend an. „Na, ist doch so! Du kannst mir doch nicht erzählen, dass ein x-beliebiges, neues Hotel ein Zuhause, weit ab von Zuhause ist. Die wissen doch gar nicht, wie sich ein richtiges Zuhause anfühlt. Banausen!“ schimpfe ich.

Der Römer lächelt und sagt: „Ich zeig dir mal was…“ Er öffnet seinen Laptop und zeigt mir ein sehr kleines, zweigeschossiges Reihenhaus, hastig zwischen zwei Palazzi geworfen. Ein Schuhkarton, der sich mit einer gelassenen Selbstverständlichkeit zwischen den „großen Häusern“ behauptet. “Roma….“ seufze ich. Er tätschelt mir die Schulter.

„Questo e‘ la casa lontana da casa [Das ist das Zuhause weit weg von Zuhause]. Für uns ist es kein Wellnessbereich in einem überteuerten, anonymen Hotel. Es ist keine überfüllte Bar, kein Hotelbett und kein Frühstücksbuffet. Für uns ist es Rom. Wir kommen in Fiumicino [einer der Flughäfen Roms] an und fühlen uns zu Hause. Wir nehmen den Regionalzug und er tuckert uns zur stazione di Trastevere [Bahnhof Trastevere]. Dann die Tram „numero otto“ [Nummer 8]und dann gehen wir die wenigen Schritte über unebene Pflastersteine nach Hause.“ Des Römers Beschreibung verwandelt sich in meinem Kopf zu einem Film und nicke verträumt.

„Und das schönste ist, dass unser „Zuhause“ immer ein anderes ist. Mal sind wir enttäuscht, weil es ein modriges Erdloch ist, aber meist sind wir positiv überrascht, weil wir einen richtigen Schatz finden. Rund um die Via San Francesco Ripa – da sind wir daheim, denn unsere zweite Heimat ist und bleibt immer Trastevere….“ ergänzt er seine Ausführung.

Ich räuspere mich: „…oder Testaccio.“

„Daiiii [Komm schon!], jetzt kommt der alte Streit wieder auf. Welches ist das schönste Viertel Roms? No, da lass ich nicht mit mir diskutieren! Es ist Trastevere. Basta!“ führt er sehr emotional aus. „Okay… für dich ist es Trastevere. Für mich ist es Testaccio. Es ist einfach ein ehrlicheres Viertel und kaum ein Tourist verirrt sich hierher. In Testaccio wohnen die richtigen Römer, so wie ich.“ erkläre ich ihm stolz.

„Ma no! [Aber nein!] Non iniziare, ti prego! [Fang nicht damit an, ich bitte dich!] Nur, weil ich damals die Wohnung in Testaccio hatte, macht dich diese nicht zu einer Römerin. No, sicuramente no! [Nein, sicherlich nicht] Ich habe IMMER in Trastevere gewohnt. Erst in der „Via Goffredo Mameli“, dann nach einigen Jahren wohnte ich im „Vicolo dei panieri“ und schlussendlich, auch berufsbedingt, musste ich nach Testaccio umziehen. Erst wohnte ich an der lauten Via Marmorata und wenig später bin ich dann in die Via Luca della Robbia gezogen.“ führt er sehr präzise aus.

„Berufsbedingt? Du bist lediglich 500 Meter von einem Stadtviertel ins angrenzende Stadtviertel gezogen! Allein die Flussseite ist eine andere. Gib doch nach all den Jahren endlich zu, dass du Testaccio schöner findest!“ mosere ich.

„Achwo! Ma il traffico! [Aber den Verkehr!] Den darf man nicht unterschätzen. Es hätte eeeewig gedauert in die Arbeit zu kommen.“ versucht er mich zu überzeugen.

„Ja, 20 Minuten zu Fuß.“ ergänze ich äußerst nüchtern. „Ma che!!! [Aber was!!!] Erano 25 minuti in macchina. [Es waren 25 Auto-Minuten] “ will er mir einreden.

„Aber wer fährt denn 1,5 Kilometer mit dem Auto, wenn er zu Fuß gehen kann?! Besonders in Rom?!“ frage ich nun ganz provokant.

„Amore mio, du unterschätzt die Temperaturen. Kannst du dir vorstellen, vollkommen verschwitzt an deinem Arbeitsplatz anzukommen? Io no! [Ich nicht!] Ich hatte keine andere Wahl als umzuziehen!“

Ich verdrehe die Augen und dränge darauf die Diskussion zu beenden, da wir uns nur im Kreis drehen.

Am Abend klappt der Römer neben mir wieder den Laptop auf und schiebt ihn mir unter die Nase! „Okay, genau das! Das können wir buchen!“ sagt er sehr knapp.

Das sehr kleine, sehr absurd wirkende Häuschen von vorhin strahlt auf einem Buchungsportal. „Ist gerade frei geworden! Und da wir momentan nicht nach Albanien fahren können und wir eine Woche überbrücken müssen bis wir nach Bayern fahren…. Hm, das wäre vielleicht keine schlechte Idee!“ Ich klicke die Bilder durch. Zwei Etagen. Eigener Patio, Wohnzimmer, Küche, zwei Schlafzimmer, zwei Bäder. Ich sehe schon den fröhlich glucksenden Signorino über den Fußboden krabbeln. Der Innenhof wäre perfekt, wenn Signorino im ersten Stock schläft, man aber noch gemütlich etwas draußen trinken will. Die Wohnung war umgeben von netten Restaurants und Bars – auch alles zum Mitnehmen, was uns mit Signorino sehr entgegen kam, da romantische Abendessen vorerst nicht möglich sind. 😉

„Wow! Das wäre perfekt! Lass mich noch kurz nach Flügen schauen und los geht’s.“ stimme ich seinem Vorschlag zu. Die Flüge stellen kein Problem dar und flugs ist die Unterkunft gebucht.

„Ich muss dir was sagen…“ fängt der Römer grinsend an.

Ich warte gespannt auf seine weiteren Ausführungen.

„Die Unterkunft ist in TRASTEVERE! Und sie hat dir gefallen. Also ist Trastevere doch der bessere Stadtteil. Und komm mir jetzt nicht mit „Das hab ich nicht gewusst.“ Du hast dir die Lage auf Google Maps sehr genau angeschaut.“

„Äääähm…aber…ja! Das war eine Ausnahme. Ich wollte dir einfach einen Gefallen tun.“ stottere ich etwas überrumpelt. „Ma che! [Aber was!] Ausnahme!“ triumphiert der Römer. „Das ist die Bestätigung!“

Ich gönne ihm die Genugtuung. Wir Bewohner von Testaccio sind großherzig und großzügig, was andere Meinungen betrifft. Das können wir auch sein, wissen wir doch, dass das beste Viertel Roms konkurrenzlos „Testaccio“ ist.

[Wenigstens bei einer Sache sind wir uns einig: Das beste Café/die beste Bar ist das Baylon Café in der Via San Francesco Ripa, Rom. Werbung – sehr zu meinem Leidwesen ungesponsert! 😔😉]

Mehr Schein als Sein

Wenn Sie uns heute hätten sehen können, in diesem einen, kleinen Moment am Main, Sie hätten Stein und Bein geschworen, dass wir eine von diesen perfekten Familien sind, die ihr Leben vollkommen im Griff haben. Wir schienen so unangestrengt makellos, dass mir die Illusion, die wir darboten, äußerst unangenehm war.

Doch zum Glück kennen Sie uns schon und wissen, dass die Attribute makellos und perfekt definitiv nicht uns zuzuordnen sind.

Wie wir da saßen, heute am frühen Abend, auf einem gemütlichen Bänkchen am Main. Das Blätterdach der Allee wirkte wie ein großes, undichtes Sonnensegel. Der Fluss und alles drumherum wurde in ein zauberhaftes, goldenes Licht getaucht. Von unserer Bank hatten wir einen wunderbaren Ausblick auf den Main, eingerahmt von zwei großen Platanen. Auf dem Wasser war eine Gruppe Stand-Up Paddler, die mal mehr, mal weniger erfolgreich im Wasser herumstocherten und angestrengt versuchten die Balance zu halten, dabei aber gleichzeitig vorankommen wollten. Uns gegenüber thronte die Europäische Zentralbank und der Glasbau reflektierte das beeindruckende Licht.

Im Kinderwagen neben uns schlief Signorino engelsgleich. Ich lehnte meinen Kopf an des Römers Schulter. Toll sah ich aus in meinem schwarzen Etuikleid, den Keilabsatz Schuhen und der großen, dunklen Sonnenbrille.

Der Römer – natürlich ebenso stilecht mit Sonnenbrille, Polohemd und knielangen Shorts ließ seinen Blick über’s Wasser schweifen. Ein Gondoliere (ja, wirklich!) gondelte romantisch an uns vorbei. Ob er direkt aus Venedig kam oder aber hier ansässig ist, konnte ich leider in der Kürze der Zeit nicht herausfinden.

Ein Pärchen mitsamt ihrem brüllenden und um sich tretenden Kleinkind kam an uns vorbei. Beide hundemüde, beide resigniert und bemüht, das Kind zu beruhigen. Neidisch betrachtete uns die Mutter des Kindes.

„Es ist nicht so wie es aussieht.“ wollte ich ihr hinterherrufen. Doch sie waren schon zu weit entfernt. Ein letztes Mal drehte sich die geschaffte Frau um, nun das schreiende Kleinkind auf dem Arm. Der Vater schob ernst den Buggy nebenher.

Und ich? Ich hätte ihr so gerne erklärt wie ihr falscher Eindruck zustande kam.

Denn alles fing heute Nacht an. Signorino und ich hatten eine sehr kurze Nacht. Ich weiß, man sollte die Schuld immer zuerst bei sich selbst suchen. Aber ich möchte trotzdem behaupten, dass wir hauptsächlich eine kurze Nacht wegen Signorino hatten, der alle zwei Stunden aufwachte und darauf bestand, dass ich, da er nun wach war, meinen Schönheitsschlaf ebenso unterbrechen sollte.

Der Römer indessen hatte Glück. Er schlief heute außerhalb des Schlafzimmers – auf unserem Sofa. Nicht etwa, weil wir uns temperamentvolle Beschimpfungen an den Kopf schmissen. Nein, vielmehr, weil um 2 Uhr nachts schon absehbar war, dass diese Nacht keine 8 Stunden Schlaf mehr für uns bereithalten würde. Da er früh zur Arbeit musste, schlug er primär sich selbst und sekundär mir vor, auf der Couch zu nächtigen.

Hundemüde wurden Signorino und ich von der turbulenten Nacht ausgespuckt. Das schlug sich auch deutlich in Signorinos Laune nieder. Wenn er nicht schrie, dann meckerte er. Und wenn er nicht meckerte, dann weinte er.

So kämpften wir uns durch den Tag und es glich einem Schwimmwettkampf, in dem man versuchen musste, gegen die – auf Höchstleistung laufende – Gegenstromanlage anzuschwimmen.

In der einzigen 20 minütigen Schlafpause, die Signorino uns gönnte, duschte ich mich in Windeseile. Ich kam aus der Dusche, trocknete mich ab und zog mir schnell etwas über. Ich packte den Fön aus, fing an den Haaransatz zu trocknen, doch da schrie schon Signorino nach mir. Mit drei großen Klammern steckte ich meine noch nassen Haare zu einer geschickten Banane hoch. „Gar nicht mal so schlecht.“ lobte ich mein Spiegelbild, das mich neugierig beim Verlassen des Bades musterte.

Am späten Nachmittag bekam der junge Herr Farniente seinen Nachmittagsbrei. Als wir – bis auf eine paar wenige, kleine Spritzer – die Breifütterung beinahe überstanden hatten, geschah es: Signorino nieste. Mit dem vollen Breilöffel in seinem Mund. Ich weiß nicht, ob Sie sich das Ausmaß dieser tief roten Brei-Explosion vorstellen können, aber es sei Ihnen gesagt, dass mein weißes T-Shirt aussah als hätte ich ein Massaker begangen. Signorinos ebenso weißer Strampler verriet, dass er offensichtlich mein 7 Monate alter Mittäter war. Rund um den Esstisch machte ich ein spontanes Praktikum als Tatortreinigerin und befreite den hellen Boden von Blut Breispritzern.

Als ich uns beide umziehen wollte, bemerkte ich, dass Signorinos ach-so-kluge Mutter in den letzten Tagen wenig Zeit fand, eine dringend fällige Waschmaschine anzustellen. Das hatte wiederum zur Folge, dass wir keine alltagstauglichen Klamotten mehr vorweisen konnten.

Doch von dieser Lappalie ließ ich mich nicht beirren.

Signorino bekam – unter lautem Gezeter seinerseits – kurzerhand ein furchtbar elitäres Polohemd übergezogen. Dazu eine stocksteife, aber schrecklich elegante, kurze Hose. Er sah aus wie ein sehr klein geratener Eliteschüler eines englischen Internats. Aus Jux kämmte ich seine weizenblonden Haare noch ordentlich zur Seite, was er mit noch lauterem Geschrei quittierte.

Ich hingegen stand verzweifelt vor meinem Kleiderschrank. Nicht ein einziges T-Shirt befand sich darin. Alle Hosen waren in der Wäsche. Ich machte die Schranktür zur längst vergessenen Kleider-Sektion auf. Da hingen sie: Kleider,für deutsche Hochzeiten (etwas legerer, große Blumenapplikationen), für albanische (viel Glitzer, viele, knallige Farben) und italienische Hochzeiten (sehr elegant, sehr teuer, sehr unpraktisch). Bevor ich mit dem Gedanken spielte, mich für ein bodenlanges Festkleid zu entscheiden, fiel mein Blick glücklicherweise auf die kurzen Kleider.

„Strand…Strand…zu elegant…zu eng…zu eng…zu eng…“ murmelte ich. Die Auswahl war, auch durch ein paar Schwangerschaftspfunde mehr, gelinde gesagt, stark begrenzt. Übrig blieb ein nachtschwarzes Etuikleid mit hohem Stretchanteil. Ich seufzte und sprach mir Mut zu: „Immerhin besser als ein Pailletten besticktes, albanisches Abendkleid in meerjungfrauen-grün.“

Dann hielt ich die Luft vorsorglich an, quetschte mich in dieses Etuikleid und bemerkte, dass sich mehrere, große und kleine Schwangerschaftsringe abzeichneten. Ich pellte mich wieder aus dem Kleid, quälte mich in ein Bauch-weg-und-Po-hoch-Höschen und streifte das Etuikleid wieder darüber. Ich atmete nur noch sehr flach, aber ich atmete. Das allein zählte.

Als der Römer wenig später von der Arbeit nach Hause kam, pfiff er begeistert. „Scusa, ma oggi è il nostro anniversario? [Entschuldige, aber ist heute unsere Jahrestag?] War das nicht immer im Herbst?“ fragte er sehr verblüfft. „Er ist immer noch im Herbst, keine Sorge. Ich finde einfach nichts mehr zum Anziehen.“ antwortete ich wahrheitsgemäß und erwähnte nicht, dass es an meiner fehlenden Muße die Waschmaschine anzustellen lag. „Wow, du solltest öfter einmal einen Mangel an Klamotten haben.“ gab er angetan zurück und strich mir über meine neue Taille, die das Bauch-weg-Höschen vortäuschte. Ich lächelte müde, freute mich aber über sein Kompliment.

„Gehen wir gleich mit Signorino spazieren?“ fragte der Römer. Ich bejahte.

Als ich gerade in meine sehr gemütlichen, aber sehr verlebten Sandalen steigen wollte, fiel es mir wieder ein: Der Riemen des linken Schuhs ist gestern beim Müll wegbringen gerissen.

Ich atmete tief durch. Gestern wollte ich noch neue Schuhe bestellen, doch ich habe es schlichtweg vergessen. Da es mein einziges Paar Sommersandalen war, durchforstete ich – auf eine adäquate Alternative hoffend – den Schuhschrank.

Das einzige, halbwegs akzeptable Paar Schuhe war ein elegantes, schwarz funkelndes Ensemble mit Keilabsatz. Ich seufzte wieder und zog es an. Der Römer pfiff nochmal begeistert. „Wow! Che bella che sei! Proprio una donna di classe. [Wow! Wie hübsch du bist! Eine Frau mit Klasse.]“ sagte er. „Hm… donna di classe.“ wiederholte ich schmunzelnd, während ich mich fragte, ob es nicht doch eine Alternative zum Etuikleid gab. Ich dachte an die dringend auszumusternde Radlhose mit dem fröhlichen Bananen- und Ananas-Print (ein Fehlkauf aus Miami! Lassen Sie uns nicht darüber sprechen!) und fand, dass meine getroffene Wahl doch gar nicht so schlecht war.

Als wir mit unserem kleinen Eliteschüler von zu Hause losgingen, fühlte ich mich wie eine sehr abstrus aussehende Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany. Allein das Perlencollier fehlte. Und die Kleidergröße 34.

Unterwegs fing Signorino wieder an zu schreien. Er war frisch bewindelt, hatte eben Milchbrei gegessen und alles sollte in bester Ordnung sein. Aber das war es nicht. Der Römer erklärte sich bereit Signorino zu tragen, der sehr vehement im Kinderwagen randalierte. Auf des Römers Arm schniefte Signorino nur noch traurig, weinte und schrie aber nicht mehr. Ich zog meine übergroße Sonnenbrille ins Gesicht, damit ich meine Augenringe kaschieren konnte.

So gingen wir also, mit einem schniefenden Signorino, der nur auf dem Arm tragend zu beruhigen war, die Mainpromenade entlang. Als wir die erste freie Parkbank sahen, Signorino war schon äußerst schlaftrunken, steuerten wir freudig darauf zu.

Wir legten den nun dösenden Signorino in den Kinderwagen. Ich setzte mich auf die Bank und sobald der Römer, der sich nebenbei gesagt immer sehr elegant kleidet, neben mir saß, legte ich meinen Kopf müde auf seiner Schulter ab.

Da saßen wir also: Resigniert, müde und geschafft. Unsere Augenringe wurden von der Sonnenbrille abgedeckt. Unser fahler Teint wurde durch das goldene Sonnenlicht zum Strahlen gebracht. Selbst meine Mozzarella weißen Beine wirkten so, als hätte ich die letzten 14 Tage auf einer Yacht im Mittelmeer verbracht.

Und in eben diesem Augenblick kam die Familie mit dem schreienden Kleinkind vorbei und erblickte uns.

Es muss ganz fantastisch ausgesehen haben wie wir geschmackvoll einen Moment der Zweisamkeit genossen, während das Kind selig schlief.

Aber, liebe vorbeikommende Mutter: Wir sitzen alle im selben Boot! Es war nur eine sehr harmonisch wirkende Momentaufnahme.

Denn 10 Minuten später wachte Signorino wieder schreiend auf. Diesmal trug ich ihn. Und während ich ihn hin- und her schuckelte um ihn zu beruhigen, kam sein Milchbrei wieder hoch und ergoß sich auf meinem Kleid. Natürlich hatte Audrey Hepburn keine Wechselklamotten dabei (woher und wozu auch?) und humpelte, aufgrund von akuten Blasen an den Füßen (diese dummen Keilabsatzschuhe!) nach Hause.

Liebe andere Mutter, es war kein glorreicher Moment meines Lebens, aber ich hoffe, du hast mich auch in dieser Situation gesehen.

Denn die perfekte Illusion ist nur ein Zusammenspiel aus ungewaschener Wäsche, gutem Licht und akuter Müdigkeit.