Es ist Montagmorgen und ich versuche bei halb geöffnetem Fenster einen WLAN-Router zu installieren. Während ich mich mit dieser eher lästigen Aufgabe beschäftige, erreicht mich eine Frage: „Kannst du mir erklären, was das bitte für eine Arbeitsmoral ist?“. Diese Frage war nicht an mich gerichtet. Vielmehr war ich eine stumme Zeugin einer Konversation, die ein junger Mann mit einer jungen Frau, auf der Straße spazierend, führte. Die junge Frau antwortete: „Keine Ahnung. Meine halt.“. Dann verstand ich sie nicht mehr, weil sie bereits zu weit weg waren.
„Interessante Frage für einen Montagmorgen.“, dachte ich, während ich darauf wartete, dass die Knöpfe des WLAN-Routers endlich anfangen würden zu leuchten und nicht nur zu blinken. „Fast schon philosophisch.“. Ich setzte mich an den PC und dachte nach.
Der männliche Part dieses Duos bat um Erklärung. Das erschließt sich mir aus dem ersten Satzteil „Kannst du mir erklären,…?“. Er fragt auch nach dem Können der Frau. Ist sie in der Lage dem jungen Mann eine Erklärung abzugeben? Vermutlich ja, denn sonst würde er sie gar nicht erst fragen. Er will aufgedröselt haben, nach was für einer Moral die junge Frau arbeitet. Nun weiß ich nichts über sie – weder den Beruf, noch was den männlichen Part dazu bringt, sie nach ihrer Arbeitsmoral zu fragen. Doch etwas muss ihn daran interessieren, denn es ist ihm eine anscheinend unbekannte Arbeitsmoral (=meine Hypothese).

Im Duden wird die Arbeitsmoral wie folgt beschrieben: „Einstellung, Haltung gegenüber der eigenen Arbeit“.
Doch schauen wir uns die Geschichte hinter den Wörtern an, um noch etwas tiefer einzutauchen: Arbeit kommt vom Mittelhochdeutschen „arebeit“ bzw. vom germanischen Wort araþi. Übersetzt werden kann es mit „Mühsal, Plage“. Meine Quelle weißt auch auf das slawische „rabota“, Sklaverei, hin. Erst im Neuhochdeutschen bekommt das Wort die Bedeutung „Beruf“.
Moral hingegen, Sie ahnen es, kommt aus dem Lateinischen, mos – mores: die Sitte betreffend. Heute hat sich nicht viel an der Bedeutung geändert, im Gegensatz zum Wort „Arbeit“, und das Wort beschreibt immer noch das sittliche Empfinden eines einzelnen oder einer Gruppe.
Doch zurück zu unserem jungen Mann: Er will von der jungen Frau wissen, welches sittliche Empfinden sie gegenüber der Plagerei, die sie Beruf nennt, hat. Ihre Antwort war „Keine Ahnung.“ und nach einer kurzen Pause „Meine.“. Zuerst ist sie sich der Beschreibung nicht sicher, um sich dann dazu hinreißen zu lassen, dass es eben „ihre“ Definition der Arbeitsmoral ist. Es gibt für sie keine allgemeingültige Definition. Sie stellt demnach einen individualistischen Charakter ihrer Moralvorstellungen hinsichtlich der Plagerei in ihrem Leben voran.
Doch was gibt es überhaupt für Typen der Arbeitsmoral? Dem Deutschen sagt man nach, dass er lebt, um zu arbeiten. Anderen Europäern misst man bei, dass sie arbeiten, um zu leben. Dabei kann ich Ihnen eine nette Anekdote aus meiner Zeit beim Reiseveranstalter erzählen: Ich war für Italien zuständig und wir organisierten Gruppenreisen in dieses Zielgebiet. Es war mit Abstand die arbeitsreichste Destination mit den meisten Reisegruppen, die dort hinreisten. Kurzum: Es war der Renner bei unserem Klientel, das hauptsächlich aus ehemaligen Studienräten und -rätinnen bestand. Meine Reisegruppe 04XY mit 25 Personen und einem Reiseleiter war bereits in Apulien. Es gab keinerlei Rückmeldungen oder Bitte um Hilfestellung seitens des Reiseleiters, also war es eine fantastische Reise. Für den nächsten Tag stand ein Besuch eines Projektes auf der Agenda, das sich gegen die Mafia einsetzte. Enteignete Felder wurden bewirtschaftet, Jugendlichen wurde Arbeit gegeben, ein rundum gelungenes, soziales Projekt. Unsere Besuchstermine aller Gruppen für das Jahr 2013 schickte ich bereits im Dezember 2012. Es war September 2013 und die zweite Welle wissensbegieriger Reisender rollte, nach einer Sommerpause, durch das Land.
Ich saß an meinem Arbeitsplatz und bereitete Reiseleiter-Infos vor, als mein Telefon klingelte. Eine italienische Nummer. Ich meldete mich wie gewohnt und hörte Domenicos sonore Stimme: „Pronto! Carissima!“, hörte ich ihn durchs Telefon sprechen. „Domenico? Ciao! Come va? [Domenico? Hallo! Wie geht’s dir?]“. Domenico erzählte mir, dass es ihm gut ginge und wir klapperten die üblichen Fragen nach „vacanze“ [Urlaub] und Wetter ab. „Senti…“, fing Domenico an und ich wusste bereits an diesem Punkt, dass er mir gleich eine Atombombe in den Vorgarten legen wird. „Der Großonkel meines Freundes Niccolà ist verstorben.“. Ich sprach ihm mein Beileid aus und fragte ihn, wie es ihm damit ginge. Im Nachhinein muss ich ein bisschen schmunzeln, denn der Großonkel eines Freundes, der verstorben ist, stürzt einen in Deutschland nicht in tiefe Trauer. Es gehe ihm gut, nur morgen sei die Beerdigung im Dorf, erzählte er mir. „Okaaaay.“, sprach ich langsam und wartete auf weitere Infos. Er könne deswegen unsere Gruppe nicht empfangen, denn schließlich sei das ganze Dorf auf den Beinen. Er MUSS zu dieser Beerdigung. Es wäre das Event. Ich atmete tief durch, bat ihn um einen Moment Geduld und verfrachtete ihn in die Warteschleife. Neben mir saßen meine beiden italienischen Kolleginnen. „Was mache ich denn jetzt?“, wollte ich wissen, nachdem ich den beiden die Situation geschildert hatte. „Echt! Der Süden!“, verdrehte meine Kollegin Giulia die Augen. Sie war stolze Florentinerin. „Frag ihn, ob er jemanden kennt, der die Gruppe durch die Initiative führen kann!“ Ich holte Domenico aus der Warteschleife und fragte ihn. „Nein, carissima, ich kennen niemanden. Non si può fare nulla! [Man kann nichts tun.]“, sprach er und ich seufzte. „Va bene. Grazie, Domenico.“, beendete ich das Gespräch. „Danke dir. Ciao!“, sprach Domenico und legte auf. „Der Süden hat eben eine andere Arbeitsmoral als wir.“, wollte mich Giulia etwas beschwichtigen. „Ja, scheint so.“, antwortete ich.
Selbstredend brauche ich Ihnen nicht zu erzählen, dass ich keinen Ersatz für Domenico fand. Am Ende trank der Reiseleiter mit der Gruppe im Dorf-Café italienische Kaffeespezialitäten und 25 ehemalige Studienräte sahen gespannt einem italienischen Trauerzug durchs Dorf zu. Auch das war eine „Begegnung“ wie wir sie im Katalog bewarben, wenn auch nicht die, die ausgeschrieben war.

So kam ich mit Anfang 20 in Berührung mit einer Arbeitsmoral, die nicht der meinen entsprach. Es war interessant. Das Sozialleben ging vor – und die Arbeit wurde so gelegt, dass sie das Sozialleben ergänzte – nicht andersherum. Vielleicht war es diese Arbeitsmoral, die der junge Mann heute morgen auf der Straße ansprach. Dieses „Darum-herum-bauen“ von Arbeit und nicht das Vorfahrtsprinzip der Arbeit?
Ich weiß es nicht, aber manchmal, wenn es in der Arbeit wie in einem Bienenstock zugeht, denke ich an Domenico und seine Prioritäten. Dann mache ich mir in aller größter Ruhe einen Espresso, lehne mich zurück in meinem Bürostuhl, atme zwei Mal durch und entschließe mich dazu 20 Minuten eher zu gehen, um mir noch ein Eis auf dem Weg zur Kita zu kaufen. Prioritäten bei all der Plagerei – ja, die sind wichtig.

Ciao Eva, la tua riflessione è davvero interessante. Ovviamente dipende dalla cultura e dalla società nella quale si vive… ma anche da come si sceglie di emanciparsi da essa. Mi faccio anch’io un espresso, adesso…😃👋
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Ciao Luisella, ti dò assolutamente raggione. Depende tutto dalla cultura, dalla società ed anche dalla famiglia. Ma di prendere le cose un po’ con calma, non fa male ognitanto. 😄 Buon espresso a te e buon martedi! ☕️
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Gibt es eigentlich noch das legendäre „Freitag nach eins macht jeder seins“? Das wäre doch ein guter deutscher Ansatz, der auch Domenico gefallen hätte. 😉
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Ich meine, bei vielen Firmen gibt es das noch. 😄 Freitag noch etwas in die Gänge zu bringen oder einen Vorgang voranzubringen, grenzt an ein Wunder. Domenico würd’s freuen! 😃😄
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Danke für die Darstellung, liebe Eva. 🙂

Nur – habe ich schon seit längerer Zeit festgestellt, dass auch in Deutschland inzwischen eine völlig andere Arbeitsmoral herrscht. Auch hier arbeitet der Großteil der Menschheit nur noch, um zu leben.
Viele Grüße Bea
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Danke dir für deinen lieben Kommentar, liebe Bea. 😃 Ich glaube, es kommt darauf an. Wenn ich an meine Bürokolleg:innen denke, dann gilt hier bei mind. 50% immer noch die Idee von “work hard, play hard”. 60-80h sind hier keine Seltenheit. Und dann gibt es andere, Anfang 20, top ausgebildet, die mich fragen, für was sie sich anstrengen sollen, wo sie ihre Arbeit doch auch an 4 Tagen erledigen können.
Wie wird das bei euch im Kollegium gehandhabt? 😃
Viele Grüße, Eva
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Bei uns sieht es genauso aus, leider. Die nachrückende Generation ist einfach nicht mehr belastbar und zudem auch nicht willig. Ausnahmen gibt es, aber der Großteil der Arbeit erledigen die, die schon kurz vor der Rente stehen. Währenddessen ist die nachrückende Generation damit beschäftigt zu gucken, wo sie Löcher finden, um abzutauchen. Traurig, aber wahr!
Wo das hinführen soll, ist mir schleierhaft, denn es zieht sich durch alle Branchen.
Herzliche Re-Grüße Bea
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Das kann ich gut nachvollziehen, liebe Bea. Auch bei mir im Unternehmen ist eine junge Kollegin, die ein Mal im Monat für eine Woche krank ist. Ich möchte ihr nichts unterstellen, doch das letzte Mal meldete sie sich eine Woche wegen Pollenfluges krank.
Ich bin dennoch zuversichtlich, dass sich ein Gleichgewicht finden wird zwischen der Generation, die wahnsinnig viel arbeiteten und denen, die das leichte Leben genießen wollen. Hab einen feinen Abend, liebe Bea! 💛 P.S.: Ich schätze deine Kommentare immer sehr. Das ist ein ganz toller Austausch!
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Ja, liebe Eva – hoffen wir, dass das Ungleichgewicht sich in Bälde wieder in ein Gleichgewicht umwandelt! 🙂
Danke für dein liebes Kompliment bezüglich meiner Kommentare, das freut mich sehr. Gleiches gebe ich gerne zurück, Es liegt wohl am ‚Ruf in den Wald‘ – auf deine sowohl liebevoll als auch geistreich geschriebenen Beiträge macht es absolut Spaß, zu reagieren und ich freue mich immer sehr, wenn ich wieder mal was aus dem römisch angehauchten FFM samt Signorino von dir lese. 😍
Viele Grüße aus Düsseldorf
Bea 😎👍
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Bleiben wir zuversichtlich, liebe Bea! 😃
Das freut mich umso mehr! Vielen, lieben Dank auch dir für die sprichwörtlichen Blumen. 💐
Hab einen ganz feinen Donnerstag – das Wochenende naht. 😉 Liebe Grüße!
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