Herr Wilhelm und das Schreibaby

Du schreist. Tage- und nächtelang. Du schreist so laut, dass Herr Wilhelm im Stock über uns letztens geklingelt und mich empört angefahren hat, was ich dem “armen Ding” antue. „Nichts tat und tue ich ihm an. Er schreit – und das seit Stunden.“ war meine Antwort – verärgert, verzweifelt, leicht patzig!

„Das arme Ding“ lag schreiend auf meinem Arm und brüllte sich die Seele aus dem Leib. Ich brach in Tränen aus und Herr Wilhelm schämte sich.

“Ach komm, Mädel. Der Kleene beruhigt sich schon wieder!” sagte der Exil-Berliner Nachbar Herr Wilhelm zu mir. “Kann ich wat für dich tun?” Er tätschelte unbeholfen meine Schulter. Ich schluchzte. Signorino schluchzte. “Ist denn keiner sonst daheim? Mann, Mutter, Schwiegermutter, von mir aus ’n Goldfisch, der den Kleinen mal eben beruhigen kann?” fragte er versöhnlich.

Da standen wir also, in der Tür unserer Wohnung, ich schluchzend, Signorino schreiend und schluchzend, mit dem hilflosen Herrn Wilhelm vor uns. Er schob uns sanft zur Seite und trat ein.

“So! Kakao!” sagte er fast schon Feldwebelartig. “Wo find ick den in diesem Haushalt?”

Ich zeigte auf den großen, weißen Vorratsschrank. “3. Fach, ganz hinten links!” schniefte ich weiter.

“Jut, jut! Och, ick glob et nicht! Det is dieselbe Marke, die mene Omma auch immer jehabt hat! Mensch, wat ‘n Zufall!” rief er überrascht.

Er schnappte sich den Kakao und bereitete ihn routiniert zu. Geschickt (und ohne zu tropfen) füllte er den Kakao in zwei große Tassen. Zufällig benutzte er meine Lieblingstasse. “Kann ich die haben?” fragte ich und zeigte auf die blaue Tasse mit der Zeichentrick-Figur. “Aber sicher doch! Det guckt meine Enkelin auch immer. Aber die ist 7!” lachte er über die Cartoon Figur auf meiner Tasse. 😄

“Mensch, sag ma Mädchen, da jibt et doch diese Tragetücher. Da packste den Kleenen ma rein und der beruhigt sich. Det hab ich von meiner Tochter Carmen jelernt.” gab er mir als Ratschlag.

“Ich hab eins bestellt, aber es kommt erst morgen hier an.” Meine Unterlippe zitterte wieder und ich wollte gerade wieder losschluchzen, da unterbrach er mich: “Ick hab doch eins oben! Nu sag et doch! Det hat die Carmen hier deponiert. N furchtbar hässliches Teil, indische Elefanten druff. Als wären wa in Goa! Ick hol et ma eben und du trinkst ma schön den Kakao. Der Kleene schreit eh so oder so. Ejal watte machst! Da kannste auch den Kakao trinken.”

Ich setzte mich hin. Mittlerweile schluchzte Signorino nur noch und schniefte ab und zu herzzerreißend. Nach zwei Minuten kam Herr Wilhelm in meine Wohnung geflitzt. “Da isset! Indische Elefanten. Ich hab et jesagt. Aber da müssen wir drei durch, wa?” lachte er.

Ich guckte nur noch geknickt. Signorino schniefte weiter.

“Dat bind ich ma fix, wenn et dich nicht stört. Die Carmen und ich haben ja immer diese Titriels (Tutorials) bei diesem U-tubb (Youtube) geguckt. Det is richtig jut erklärt.” Geschickt band er das Tuch. “So, Doppelknoten und tschüssi Müsli!” Er verknotete das Tuch und nahm mir Signorino ab. “So junger Mann! Jetzt wollen wa dich ma beruhigen.” Er fädelte Signorinos Füsschen geschickt in das Tuch, befestigte ihn. Zog etwas hier zurecht und rückte da etwas in die richtige Richtung. Signorino motzte und schrie während diesem Vorgang weiter und dann? Stille. Tiefe Atemzüge. Ein ruhig dösender Signorino. Ich – erstaunt mit Wimperntuschenbächen, die sich auf meinem Gesicht breit machten. Herr Wilhelm – zufrieden lächelnd, Arme in die Hüfte gestützt. “So! Und jetzt trinken wa den Kakao, bevor der kalt wird. Hier sind noch selbst gebackene Kekse. Hab ich auch bei diesem Eitub gesehen. Det sind Tschantutschini (Cantuccini). Echt Italienisch!“ schmunzelte er. “Danke, Herr Wilhelm!” sagte ich ganz gerührt und ein Tränchen lief mir über die Wange. Es sollte das letzte an diesem Tag bleiben – bei Signorino und bei mir.

“Ick bin der Dieter!” sagte er fröhlich. “Danke Dieter! Du hast mich gerettet.” gab ich lächelnd zurück, durch meine Tränen blinzelnd. “Ach Papperlappap. Det nennt man Nachbarschaftshilfe!”

Indische Elefanten gehören nicht nur nach Goa, sondern auch in jeden Haushalt mit Baby!

20 Kommentare zu „Herr Wilhelm und das Schreibaby

  1. *schnief*
    Jetzt habe ich, Tränen in den Augen!!!
    Wie gern würde ich dir zur Hand gehen, wenn ich könnte …
    Ich schreibe dir mal über dein Kontaktformular 😉😘🤗

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  2. Deine Zeilen haben mich tief berührt und mir rollen auch Tränen über die Wangen. Ich kann mir das so richtig vorstellen. Meine Große war auch ein Schreibaby. Wie schön, dass du so einen tollen Nachbarn hast. Fühl dich ganz fest umarmt und mögen ruhigere Zeiten auf dich, euch zukommen.

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  3. Das sind noch echte Nachbarn! Mal nachfragen, was los ist und ob man helfen kann. Toll!
    Ich hatte keine Schreikinder, aber einmal hat mein Erster stundenlang geschrien. Was ich auch versuchte, nichts half. Als ich merkte, dass mir die Geduld ausging und ich sauer wurde, legte ich ihn in sein Babybettchen und ging ins Nebenzimmer um mich zu beruhigen. Er hörte auf zu weinen und schlief sofort ein. 🤷‍♀️
    Vielleicht wollte er ja, dass ICH endlich mal Ruhe gebe. 😂

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    1. Das stimmt und ich bin so froh, dass Dieter sich mit seiner kautzigen Art „beschweren“ wollte oder vielmehr nach dem rechten sehen wollte.
      Das beruhigt mich, dass du das schreibst. 😘 Die Situation hatten wir hier auch schon mal. Uns ging die Geduld aus – wir mussten Signorino ablegen, uns beruhigen, durchatmen und dann? Stille. Er ist eingeschlafen. 😄😄 Seit Stunden schrie er, man hat alles versucht und dann das? 😄

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      1. Die Sache bei dem ersten Kind ist, dass man selbst viel zu schnell unruhig wird, weil man a) einfach noch keine Erfahrung hat b) sich selbst viel zu schnell in Frage stellt. Jedenfalls war es bei mir so.
        Ein paar Tage nach der Geburt hatte sich mein Kleiner nass gepinkelt und ich mußte ihm die Kleidung wechseln. Vorher war das immer Tagsüber und mit Hilfe der Hebamme.
        Diesmal war ich allein und der Kleine schrie, weil ihm kalt war.
        Eigentlich keine große Sache. Windel, Body und Strampler tauschen, Mütze auf und fertig. Denkste!
        Ich habe fast eine halbe Stunde gebraucht. Sein Weinen hat mich total nervös gemacht und als ich endlich fertig war, stand mir der Schweiß auf der Stirn. 😂

        Vertraut euch selbst und (ver)zweifelt nicht. Das sind diese Phasen von denen man denkt, dass sie nie vorübergehen, aber eines Morgens ist der Spuk vorbei und alles hat sich eingependelt.👍

        LG🌹

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      2. Du sprichst mir aus der Seele. Danke für deine Schilderungen. 😘

        Genau so ist es. Besser könnte ich es nicht ausdrücken. Dadurch, dass man keine Erfahrung hat, gerät man recht schnell aus dem Häuschen….
        Man will halt auch nix falsch oder gar kaputt machen. Letztens hab ich einen tollen Satz gelesen: “Erste Kinder sind dazu gemacht, erste Kinder zu sein. Sowie du noch nie vorher ein Kind hattest, so hatte das Kind vorher auch noch nie eine Mama. Und gemeinsam wächst man!” Der Satz hat mich irgendwie beruhigt. 😃

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  4. OOOOOHHH so in tiefer Liebe. Das kann nur eine gute Welt sein in der es noch solche Menschen gibt!!! Halte deinen Herr Wilhelm gut fest und dir wünsche ich von Herzen alles alles Gute, es wird sowas von besser sage ich dir. Ich bin die ersten 3 Monate auch auf dem Zahnfleisch gegangen und kann heute nur noch darüber lachen, mein Mann hat mich um 5 Uhr in der Früh ins Tragetuch gebunden bevor es los in die Arbeit ist und ich bin stundenlang herum geirrt weil der Junior da nicht gebrüllt hat, unvorstellbar 3 Kinder später. Aber mein Erster hat mich gelehrt was Geduld heißt und mir eine Willenskraft bewiesen dich ich an keinem meiner anderen Kinder mehr entdeckt habe – in dieser Weise – Was mir geholfen hat, kein einziger kluger Ratschlag von tausend anderen Menschen, sondern einzig und allein Zeit. Er musste ankommen in der Welt und ich als Mama irgendwie auch!

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    1. Danke dir, das mache ich! ❤️ Es tut so gut zu hören, dass es nicht nur uns so geht. ❤️ Und Zeit scheint das Zaubermittel zu sein. Jeden Tag wird es ein bisschen leichter. Das rede ich mir zumindest ein. Man fühlt sich so allein mit der Geschichte. Tipps wie „Jeder hat doch mal einen schlechten Tag!“ bringen mich mittlerweile fast zum heulen. Wer einmal in der Situation war, weiß was es bedeutet. Auf die Frage des Kinderarztes, ob es unser 1. Kind ist, antwortete ich patzig: „Ja! Das erste und das letze!“ 😄

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